# taz.de -- 80. Geburtstag des Theoretikers: Vierhändig schreiben mit Toni Neg… | |
> Michael Hardt denkt und schreibt mit dem Neomarxisten Negri zusammen. Zu | |
> dessen Geburtstag schreibt er über das Glück ihrer Begegnung. | |
Bild: Negri war Kopf der neomarxistischen Strömung des Operaismus, einer milit… | |
Beeindruckend an Toni Negri fand ich immer schon seine Generosität. Von | |
Anfang an nahm er mich intellektuell ernst und begegnete mir auf Augenhöhe. | |
Zunächst fiel es mir schwer, die angebotene Gleichheit anzunehmen, doch | |
bestand er lange genug darauf, und schließlich wurde sie zur Grundlage | |
unserer Zusammenarbeit. | |
Die wunderbare Erfahrung gemeinsamen Schreibens bedarf, davon bin ich | |
überzeugt, einer solchen besonderen Beziehung unter Gleichen. Ein paar | |
Gedanken über unsere Begegnung und Zusammenarbeit scheinen mir eine gute | |
Art, Tonis achtzigsten Geburtstag zu begehen. | |
Ich traf Toni im Sommer 1986 in Paris, im dritten Jahr seines schließlich | |
vierzehn Jahre währenden Exils. Der einwöchige Besuch sollte der Klärung | |
einiger Fragen dienen, die sich für mich beim Übersetzen seines | |
Spinoza-Buchs „Die wilde Anomalie“ ergeben hatten. | |
Im Verlauf jener Woche sahen wir uns ein paarmal, und bei einem unserer | |
Gespräche schlug er mir vor, doch für länger nach Paris zu kommen. Wir | |
könnten uns einmal wöchentlich treffen, so Toni, im Jardin du Luxembourg | |
spazieren gehen und dabei ein wenig philosophieren. Die Vorstellung gefiel | |
mir. Ich flog zurück nach Seattle, wo ich im Graduiertenkolleg an meiner | |
Dissertation arbeitete, und legte die Vorprüfungen zur Promotion ab. | |
Im darauf folgenden Sommer zog ich nach Paris, ohne finanzielle Mittel, | |
Stipendium, Job oder Bleibe. Mit Tonis Unterstützung sowie der Hilfe | |
anderer aus dem Kreis der italienischen politischen Exilierten kam ich | |
glücklich über die Runden. | |
Kurz nach meiner Ankunft in Paris nahmen Pläne für eine neue Zeitschrift, | |
Futur antérieur, Gestalt an. Toni und der Philosoph Jean-Marie Vincent | |
waren die treibenden Kräfte, und neben anderen wurden der Philosoph des | |
Postoperaismus Maurizio Lazzarato und ich eingeladen, in der kleinen | |
Redaktionsgruppe mitzuarbeiten. Die Treffen der Zeitschriftenredaktion | |
waren ein wichtiges Training in Zusammenarbeit und kollektivem Schreiben. | |
## Arbeiten im Kollektiv | |
Toni hatte damit bereits reichlich Erfahrung; zuletzt hatte er, bevor ich | |
nach Paris kam, gemeinsam mit Félix Guattari das Buch „Les nouveaux espaces | |
de liberté“ geschrieben, doch waren es vor allem, denke ich, die vielen | |
politischen Zeitschriftenprojekte der 60er und 70er Jahre in Italien, in | |
denen er seine Fähigkeit zur Arbeit im Kollektiv ausgebildet hat. | |
Zu jener Zeit begannen Toni und ich gemeinsam zu schreiben. Es war der | |
Anfang unserer seither währenden Zusammenarbeit und wurde zur Grundlage | |
unserer Freundschaft. Oft denke ich, zwischen uns wird es immer ein | |
Buchprojekt geben. Die Methode gemeinsamen Schreibens beruht auf den Formen | |
kollektiver Praxis, wie sie typisch für politische Zeitschriften wie Futur | |
antérieur sind. | |
Im Grunde werden Aufgaben verteilt. Die wesentliche intellektuelle | |
Auseinandersetzung findet in den politischen Diskussionen des Kollektivs | |
statt, Argumentationen werden debattiert, jeder Beitrag wird ausführlich | |
skizziert und gemeinsam gegliedert; die ganze geplante Ausgabe der | |
Zeitschrift erfährt so ihre Ausrichtung. Erst dann werden unter den | |
einzelnen Mitgliedern des Kollektivs Aufgaben verteilt: Du schreibst über | |
dieses, ich über jenes, sie über ein drittes Thema. | |
So ist das Schreiben häufig eine genau umrissene Tätigkeit, denn als Teil | |
des Kollektivs bringt eine oder einer die Gedanken und Argumente zu Papier, | |
die in der Diskussion zuvor bereits entwickelt wurden. Deshalb ist es auch | |
durchaus sinnvoll, wenn in vielen politischen Zeitschriften und Broschüren | |
die Beiträge anonym bleiben. Die Methode, aus der kollektiven Diskussion | |
heraus Aufgaben zu übernehmen, schafft einen gemeinsamen Schreibprozess. | |
Wenn Toni und ich zusammen an einem Buch arbeiten, bringen wir Ideen ein | |
und diskutieren sie über einen längeren Zeitraum. Das anschließende | |
Schreiben, bei dem Gliederungen und Skizzen entstehen, die ausgearbeitet | |
und weiterentwickelt werden, bietet Gelegenheit, die Diskussion | |
fortzusetzen. | |
Erst wenn die Umrisse sich deutlicher abzeichnen und wir der Meinung sind, | |
den Fortgang der Argumentation in allen wesentlichen Punkten geklärt zu | |
haben, einigen wir uns über eine Arbeitsteilung und gehen, jeder für sich, | |
an die Niederschrift. Die übernommenen Teile sind jeweils kurze Stücke, | |
manchmal nur wenige Seiten. | |
Danach diskutieren wir die so entstandenen Rohfassungen, redigieren unsere | |
Entwürfe, fügen Ergänzungen ein und gehen an die Überarbeitung. Mitunter | |
wiederholt sich das mehrmals und in so vielen Schritten, dass wir uns | |
schließlich kaum mehr erinnern, von wem der erste Entwurf stammte. | |
Die Methode, nach gemeinsamer Diskussion Aufgaben zu übernehmen, mag den | |
Eindruck erwecken, die eigentliche intellektuelle Arbeit finde während der | |
Diskussion statt, das Schreiben geschehe hernach beinahe mechanisch, nach | |
dem Motto: „Du weißt genau, was zu sagen ist, schreib es einfach auf.“ | |
Doch alle Schreibenden wissen, dass ein großer Teil dessen, was zu sagen | |
ist, erst im Schreibprozess entsteht. Nur beim Versuch, ein Argument | |
schriftlich auszuformulieren, lassen sich unerwartete Hindernisse, aber | |
auch neue Herangehensweisen entdecken – ganz egal, wie deutlich das Thema | |
einem zuvor bereits vor Augen stand. Das Glück (und die Qual) des | |
Schreibens resultiert aus dem Umstand, dass es ständig kreativer Lösungen | |
bedarf. | |
## Schreiben als Befreiung | |
Während wir gemeinsam an einer Argumentation arbeiten, geschieht indes eine | |
Art Alchemie. In der Kooperation werden die individuellen Schranken | |
abgestreift, wie Marx es beschrieb, und etwas Neues entsteht. Im | |
gemeinsamen Schreiben erscheint das Abstreifen der individuellen Schranken | |
als Befreiung, und das Neue zu entdecken, das über die Summe der einzelnen | |
Teile hinausgeht, hat etwas Magisches. | |
Die Produktivkraft der Kooperation lässt sich inhaltlich erkennen, und sie | |
prägt zugleich Ton und Stil des Geschriebenen. Wie bei vielen anderen | |
kollektiv schreibenden Autorinnen und Autoren klingen unsere gemeinsamen | |
Texte nur in geringem Maß wie andere, die wir individuell verfasst haben. | |
Es ist kein bloßer Wechsel der Tonart und auch kein Verschmelzen. Das | |
gemeinsame Schreiben lässt eher eine dritte Stimme entstehen, die | |
gleichermaßen zu uns gehört und für sich steht. | |
Damit eine solche Veränderung stattfinden kann, müssen wir uns von manchem | |
verabschieden. Vor allem gilt es, nicht allzu sehr an den eigenen Worten | |
und bestimmten Formulierungen zu kleben. Man muss akzeptieren, wie der | |
andere Dinge formuliert, und damit weiterarbeiten. Häufig geht es darum, | |
die Worte des anderen aufzunehmen und dabei die Konsistenz und Genauigkeit | |
des entstehenden Texts im Auge zu behalten. | |
Zu Hilfe kommen Toni und mir möglicherweise, dass wir verschiedene Sprachen | |
sprechen, auch wenn das vielleicht paradox klingen mag. Wir diskutieren auf | |
Italienisch, doch die Entwürfe schreiben wir in unserer jeweiligen | |
Muttersprache, Italienisch und Englisch. Der Sprachunterschied schafft eine | |
Öffnung und bietet eine gewisse Autonomie. | |
In den Überarbeitungen mischen sich das Italienische und das Englische, | |
doch beide sind wir bei der Textredaktion bemüht, das Ganze möglichst zu | |
einer Einheit werden zu lassen. Erst im letzten Schritt bekommt das | |
Manuskript eine einheitliche Sprache – gewöhnlich ist es Englisch, für das | |
dann ich verantwortlich bin. | |
Die Inhaltsebene bedarf weiterer Anstrengungen. Dabei geht es nicht so sehr | |
darum, dass wir bestimmte Argumente nicht teilen würden. Wirkliche | |
Differenzen gibt es relativ selten. Wichtig ist freilich, sich in die | |
Vorstellungen des anderen hineinzudenken und sie weiterzuentwickeln. So | |
betrachtet ist das gemeinsame Schreiben eine Art fortgesetztes | |
wechselseitiges Plagiieren. Doch im Grunde stimmt auch das nicht, denn | |
schließlich sind die Vorstellungen kein Eigentum. | |
Die gemeinsame intellektuelle Arbeit schafft vielmehr einen | |
Zwischenbereich, Vorstellungen, die für beide frei verfügbar sind. | |
Vielleicht ist das der Grund, warum dem bisweilen etwas Magisches anhaftet, | |
denn die Vorstellungen hören auf, eigene zu sein, und werden tatsächlich zu | |
gemeinsamen. | |
## Interaktion unterschiedlicher Denkweisen | |
Wenn Koautorschaft einer Beziehung unter Gleichen bedarf, besagt das nicht, | |
der jeweilige Anteil müsste gleich sein. Tatsächlich ist es die Interaktion | |
unterschiedlicher Denkweisen, Talente, Stile und Temperamente im | |
gemeinsamen Prozess, die wesentlich den Überschuss hervorbringt. | |
Es hat keinen Sinn, die einzelnen Teile aufzuaddieren und buchhalterisch | |
verschiedenen Seiten zuzuweisen. Gleichheit im Schreibprozess bedeutet | |
auch, dass ein derartiges Kalkül nicht länger aufgehen kann. | |
Es gibt freilich keine Garantien für eine erfolgreiche Zusammenarbeit. Die | |
Probe aufs Exempel ist eine im strengen Sinn spinozianische: Fördert die | |
Anwesenheit und Zusammenarbeit mit einer anderen Person das eigene | |
Denkvermögen? Bedauerlicherweise tragen viele (und sogar die meisten?) | |
Begegnungen nicht dazu bei, das Denken anzuregen oder die Welt besser zu | |
verstehen, noch erweitern sie die Fähigkeit, Argumente klar zu formulieren | |
und Begriffe zu erschaffen. | |
Einer Person zu begegnen, die das eigene Vermögen wachsen lässt, ist ein | |
Glücksfall, ein Geschenk, das es festzuhalten und zu pflegen gilt. Die | |
Gleichheit, auf die es beim gemeinsamen Schreiben wirklich ankommt, besteht | |
darin, dass beide gleichermaßen diese Erfahrung machen. | |
Nun, angesichts der besonderen Umstände und der Anstrengungen, die es | |
erfordert, überrascht es vielleicht nicht, ein solches gemeinsames | |
Schreiben so selten anzutreffen. In meiner Erfahrung mit Toni Negri indes | |
sind die unschätzbaren Vorteile jeder Mühe wert. | |
Dieser Text erschien zuerst in der Zeitschrift Genre, Volume 46, Nr 2, | |
2013. Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Atzert. | |
1 Aug 2013 | |
## AUTOREN | |
Michael Hardt | |
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