# taz.de -- Die Wahrheit: Optimistische Erinnerungsromantik | |
> Liest man Abiturzeitungen, kann man mutmaßen, dass die jungen Erwachsenen | |
> wohl nicht zwingend zu den Revolutionären der Generation gehören. | |
Bild: Manchmal rabiat: Hobby-Archäologen. | |
Erinnert sich noch jemand an das fragwürdige Format der Abiturzeitung? | |
Jenes bei der finalen Zeugnisausgabe allen Anwesenden aufgedrängte | |
Schreckblättchen, das seinen Lesern noch einmal unaufgefordert die | |
vermeintlich lustigsten Anekdoten des scheidenden Jahrgangs und eine kurze | |
Charakterisierung der einzelnen Abgänger in Erinnerung rufen sollte? | |
Wenn man da so las, wie die Zukunftspläne der damals ins Leben Entlassenen | |
aussahen, dann war zu mutmaßen, dass die damaligen jungen Erwachsenen wohl | |
nicht zwingend zu den prickelndsten oder revolutionärsten Vertretern | |
gehörten, die der fortwährende Generationenvergleich zu bieten hatte. Nun | |
ist auch heute nichts gegen eine sichere Ausbildung zum | |
Sparkassenangestellten, Versicherungsvertreter oder Industriekaufmann – und | |
damit eine gusseiserne Lebensplanung – einzuwenden, doch ein wenig | |
bedenklich ist die Sache schon. | |
Verstehen Sie mich nicht falsch. Es steht mir keineswegs zu, ein auf | |
Funktionstüchtigkeit und Effizienz ausgelegtes Restdasein auf seinen reinen | |
Abenteuergehalt hin in Frage zu stellen, aber die beruflichen Aussichten | |
waren ja auch bei Weitem nicht das wirklich Bedenkliche. War es doch | |
vielmehr die geradezu erschreckende Mausgrauigkeit der uniformen | |
Protagonistenmassen, die einem ordentlich zu grübeln gab. Und das wird | |
heute auch sicherlich nicht anders sein. | |
Denn wer kennt ihn nicht, den jedem Jahrgang innewohnenden horrenden | |
Prozentsatz all der komplett Unscheinbaren, mit denen im Laufe der | |
Schulzeit eigentlich keiner mehr als drei Sätze gewechselt hat und von | |
denen erst im Zuge besagter Charakterisierung für die Abiturzeitung | |
auffällt, dass sich etwa 20 Prozent von ihnen bereits im Vorjahr vor den | |
Zug geworfen, aufgehängt oder sonst wie aus dem Weg geschafft haben. | |
Übrig blieben seinerzeit all die Claudias und Thorstens, denen Sätze wie | |
„Die Claudi ist ein eher stiller Typ. Aber stille Wasser sind bekanntlich | |
tief und so ist die Claudi eigentlich eine echte Partymaus“ oder „Der Toto | |
ist nach dem Lernen gerne für ein Biermixgetränk zu haben“ den Weg in | |
besagte Gazette ebneten. Wie es überhaupt sehr erstaunlich war, wie mit | |
wenigen bilanzierenden Sätzen jeder noch so dröge Schnösel, in der | |
vergoldeten Retrospektive diverser Klassenfahrtserinnerungen, plötzlich zum | |
draufgängerischen Womanizer und 24-Stunden-Wodka-Konsumenten mutieren | |
konnte. | |
Was also bleibt resümierend anzumerken? Vielleicht ein Hoch auf aktuelle | |
Feuerzangenbowlenmemoiren? Ein Prosit auf eine kollektive, | |
zweckoptimistische Zwangserinnerungsromantik? Oder doch eher ein profaner | |
Glückwunsch an alle nachgewachsenen Claudis und Totos zum bestandenen | |
Abitur? Fest steht jedenfalls, dass wohl auch in Zukunft Kurzkonversationen | |
des Kalibers „Und was willst du jetzt so machen?“ – „Keine Ahnung, | |
wahrscheinlich irgendwas mit Medien“ kein Einzelfall bleiben werden. | |
Vorausgesetzt, die angepeilte Karriere endet nicht doch noch frühzeitig auf | |
dem Dachboden. | |
Toll, dass wenigstens ich ein Arschloch geworden bin. | |
8 Nov 2013 | |
## AUTOREN | |
Jörg Schneider | |
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