# taz.de -- Chronische Krankheiten in Indien: Eine tickende Zeitbombe | |
> Herz-Kreislauf-Probleme, Diabetes und Krebs sind längst kein Problem | |
> allein des Westens mehr. In Indien sind sie der Grund für jeden zweiten | |
> Todesfall. | |
Bild: Ein Arzt in einer indischen Klinik zieht eine Spritze auf | |
NEU-DELHI taz | Der Eingangsbereich von Fortis C-Doc in Neu-Delhi ist | |
voller Menschen. Die meisten von ihnen erinnern eher an Amerikaner denn an | |
Inder. Sie sind groß, westlich gekleidet und meist übergewichtig. | |
[1][Fortis C-Doc] ist ein privates Ausbildungs-, Trainings- und | |
Behandlungszentrum für Inder mit Stoffwechselerkrankungen. „Vor fünf Jahren | |
waren weder die Ärzte noch die Patienten vernünftig über solche | |
Erkrankungen aufgeklärt“, sagt der Mediziner Anoop Misra. | |
Der Diabetologe und Direktor der Nationalen Diabetesstiftung Indiens wollte | |
dies ändern. Impulse und Ideen für die richtige Behandlung holte sich Misra | |
in einem der führenden Diabeteszentren in Abu Dhabi. | |
2012 eröffnete er Fortis C-Doc. Für ihn hat es sich gelohnt. Täglich | |
strömen um die 100 Patienten in sein Zentrum, weitere Häuser sind im | |
Aufbau. | |
50,8 Millionen Inder leiden unter Diabetes – das entspricht der | |
[2][Weltgesundheitsorganisation (WHO)] zufolge 17 Prozent der weltweit von | |
Diabetes betroffenen Menschen. In den Städten sind es 10 Prozent, auf dem | |
Land 5 Prozent. Diabetes und andere nicht übertragbare Erkrankungen wie | |
Herz-Kreislauf-Probleme, Krebs, Atemwegs- oder psychische Erkrankungen | |
verursachen 53 Prozent der Todesfälle in Indien. 60 Prozent davon erfolgen | |
noch vor dem 70. Lebensjahr. | |
Während zu Fortis C-Doc nur diejenigen Inder kommen, die viel Geld | |
verdienen und vielleicht sogar versichert sind, kann sich die Mehrheit der | |
Inder mit Stoffwechsel- oder anderen chronischen Erkrankungen eine solche | |
Behandlung nicht leisten. Dabei, sagt Usha Shrivastava, eine Kollegin von | |
Misra, litten auch immer mehr arme Menschen in Indien an Diabetes. Ein | |
Grund dafür: ungesunde – fett-, salz-, zuckerhaltige – Nahrung sowie | |
falsche Kohlenhydrate. | |
„Ein Großteil der Nahrung, die arme Menschen vor allem in Städten zu sich | |
nehmen, ist schlechte Nahrung“, weiß Rajan Sankar von der [3][Global | |
Alliance for Improved Nutrition (Gain)], einer in Indien und elf anderen | |
Ländern tätigen Nichtregierungsorganisation. Auch das Thema Bewegungsmangel | |
spiele vor allem in Städten eine große Rolle. Dem Gain-Manager zufolge | |
haben viele Schulen in städtischen Gebieten aus Platzmangel häufig nicht | |
einmal einen Spielplatz. Auch Erwachsene bewegten sich immer weniger, neuen | |
Transportformen und Haushaltsgeräten sei Dank. | |
Einmal von Diabetes, kardiovaskulären Erkrankungen oder Krebs betroffen, | |
fällt es auch schwer, die Patienten zu behandeln, ergänzt Prahabkaran | |
Dorairaj, geschäftsführender Direktor des [4][Centre for Chronic Disease | |
Control (CCDC)] in Delhi. Die Mehrheit der Inder hat kein Geld für den Gang | |
zum Arzt, eine Versicherung haben sie auch nicht. Behandlungen erfolgten | |
verzögert, weil viele Ärzte nicht in der Lage seien, die richtige Diagnose | |
zu stellen. | |
## Auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen | |
Zum nächst größeren Krankenhaus zu gelangen, gestaltet sich zudem häufig | |
schwer, fand eine CCDC-Studie nach Angaben von Dorairaj heraus. 50 bis 60 | |
Prozent müssen öffentliche Verkehrsmittel benutzen. Der Transport dauert | |
lange. | |
In Museypur, einem winzigen Ort 30 Kilometer östlich von Lucknow in Uttar | |
Pradesh gelegen, kennen die Einwohner das Transportproblem. Und sie kennen | |
noch ganz andere Probleme. Keiner der 900 Inder, die hier im einfachen | |
Hütten oder Häusern leben, verfügt über mehr als einen Dollar am Tag. | |
Eine Arztbehandlung oder Medikamente können sie sich nicht leisten. Wenn | |
sie die Gesundheitsstation am Ortseingang aufsuchen, dann in der Hoffnung, | |
nichts zahlen zu müssen, erzählt der Arzt Pankay Kumar. Müssen sie wirklich | |
einmal aufgrund von Herzproblemen oder anderen akuten Beschwerden ins | |
Krankenhaus, kann dies Kumar zufolge Tage dauern – denn es gebe weder einen | |
Rettungswagen, noch hätten die Krankenhäuser in der Umgebung immer ein Bett | |
frei. Auch den in der Studie genannten Diagnose-Aspekt kann Pankay Kumar | |
bestätigen. „Ein Diabetestest ist hier nicht möglich, weil wir kein Labor | |
haben, um das Blut untersuchen zu können“, sagt der Arzt. | |
## Nicht nur ein Problem des Westens | |
Die Regierung versucht seit ein paar Jahren, der drastischen Zunahme | |
chronischer Erkrankungen Herr zu werden. Seit der [5][Global Burden of | |
Disease Studie] der WHO aus dem Jahr 2010 steht sie unter Druck. Denn | |
daraus ging erstmals deutlich hervor, dass chronische Erkrankungen längst | |
kein Problem des Westens mehr sind – ja mehr noch – zur tickenden Zeitbombe | |
für Schwellen- und Entwicklungsländer wie Indien geworden sind. | |
Ein Nationales Programm zur Prävention von Krebs, Diabetes, | |
Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Schlaganfällen soll Abhilfe schaffen. Seit | |
2010 führt die Regierung es schrittweise ein. Das Hauptaugenmerk liegt nach | |
Angaben von Anshu Prakash, Sekretär im indischen Gesundheitsministerium, | |
darauf, die Wahrnehmung der Inder für chronische Erkrankungen zu stärken. | |
„Die größte Herausforderung für uns ist, dass viele Betroffene ihre | |
Erkrankung verleugnen“, erklärt Prakash. | |
Eine gute Idee hatte das Länderbüro der WHO in Delhi. Ruft man | |
beispielsweise François Decaillet, den Programmkoordinator des Länderbüros, | |
an und er antwortet nicht, schaltet sich vor dem Anrufbeantworter eine | |
Stimme dazwischen. Die Stimme informiert den Anrufer über allerlei | |
Maßnahmen, wie chronischen Erkrankungen vorzubeugen ist – von der richtigen | |
Ernährung, über mehr Bewegung bis hin zur stressfreien Lebensführung. „Wir | |
wollen das Bewusstsein, auch innerhalb unserer eigenen Mitarbeiter, für | |
chronische Erkrankungen stärken“, sagt Decaillet. Irgendwo müsse man ja | |
ansetzen. | |
* Den Aufenthalt und die Recherche in Indien hat ein Research Grant des | |
US-[6][Pulitzer Center for Crisis Reporting] ermöglicht | |
24 Nov 2013 | |
## LINKS | |
[1] http://www.fortiscdoc.com/ | |
[2] http://www.who.int/en/ | |
[3] http://www.gainhealth.org/factsheets/gain-india | |
[4] http://www.ccdcindia.org/ | |
[5] http://www.healthmetricsandevaluation.org/gbd | |
[6] http://pulitzercenter.org/ | |
## AUTOREN | |
Martina Merten | |
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