# taz.de -- Interaktive Musikvideos: 24 Stunden Fröhlichkeit | |
> War das Musikvideo nicht schon tot? Spektakuläre interaktive Clips | |
> verändern nun das Verhältnis zwischen Betrachter und Bild. | |
Bild: Auch Altmeister Bob Dylan setzt auf interaktive Clips. | |
Der Tod des Musikfernsehens ließ so manches Herz trauern. Vorbei waren die | |
Zeiten, in denen man ständig an der Glotze hing, um das neueste Video der | |
Lieblingsband zu erwischen. Vorbei auch die Zeit, als Madonnas Glamour das | |
heimische Wohnzimmer erfüllte, bis ein Erziehungsberechtigter unter | |
Zweifeln an der Jugendfreigabe des Gezeigten wegzappte. | |
Doch so nostalgisch diese Erinnerungen an das Musikfernsehen auch anmuten, | |
die MTV-Generation dürfte heute glücklicher sein als je zuvor. Denn | |
eigentlich fluchte man doch schon lange darüber, dass der Fernseher den | |
„heißen Scheiß“ diktieren wollte, indem er immer und immer wieder dieselb… | |
Clips servierte. | |
Mit der Umsiedlung des Musikvideos auf digitale Plattformen wie YouTube | |
wurde der Zuschauer zum User und war plötzlich imstande, jederzeit selbst | |
zu bestimmen, welches Video er sehen und hören wollte – hierzulande | |
aufgrund der Gema-Sperre eher eingeschränkt, aber immerhin. Doch dass die | |
Loslösung vom Fernsehen eine neue Ära des Musikvideos eingeleitet hat, die | |
weit über den unendlichen Spaß an der freien Verfügbarkeit hinausgeht, das | |
zeigen zwei Beispiele aus der vergangenen Woche. | |
Die neuen Videos von Bob Dylan und Pharrell Williams beweisen, dass das | |
Internet auch die Form des Musikclips revolutioniert. Es verändert die | |
komplette Denk- und Produktionsweise. Parallel zur fortschreitenden | |
Erschließung von immer neuen Möglichkeiten des Social Web, finden auch | |
ursprünglich analoge Medien wie das Musikvideo ein neues Verhältnis zum | |
User. | |
So ist das Musikvideo heute nicht mehr nur ein 4-minütiger Film, der zur | |
passiven Berieselung angelegt ist. Der Clip lässt mit sich kommunizieren | |
und interagieren. Der Betrachter darf ihn mitgestalten und sich durch das | |
Einschalten der Laptopkamera selbst hineinprojizieren. | |
## 24 Stunden Video | |
In den Videos von Dylan und Williams äußert sich vor allem die Tendenz | |
Richtung maximierter Spielzeit und freier Wahl der Bildfolge. Statt auf | |
Ein- und Ausblendung von verschiedenen Szenerien, wie es im klassischen | |
Musikvideo üblich ist, setzen sowohl Williams als auch Dylan auf das | |
Nebeneinander aller Einstellungen in gesamter Länge. | |
[1][Das offizielle Video] zu „Like a Rolling Stone“ von Bob Dylan, das nun | |
48 Jahre nach der Erstveröffentlichung des Songs erschienen ist, gleicht | |
einem TV-Programm mit insgesamt 16 Kanälen. Zwischen denen kann man mit den | |
Channel-Tasten in der Seitenleiste hin und her zappen, ohne dass die Musik | |
unterbrochen wird. Der Clou: Der Songtext wird in die Münder von | |
Comicfiguren, Nachrichtensprechern und Reality-TV-Nudeln gelegt, die die | |
Allgemeingültigkeit des Klassikers auf reizende Weise bestätigen. | |
Während die Summe aller Aufnahmen beim Dylan-Video auf eine Gesamtlänge von | |
75 Minuten kommt, setzt Pharrell Williams noch einen drauf. Der R&B-Sänger | |
und Produzent, der mit seinem Einsatz auf dem Daft-Punk-Song „Get Lucky“ | |
den schönsten Gute-Laune-Hit des Jahres gelandet hat, liefert nun mit | |
seinem neuen Video zum Song „Happy“ eine 24-Stunden-lange Zelebrierung der | |
Fröhlichkeit. | |
Insgesamt 360 ungeschnittene Kamerafahrten (je 4 Minuten) zeigen | |
verschiedene Protagonisten, darunter auch Prominente wie Schauspieler Jamie | |
Foxx und das Rap-Kollektiv Odd Future, wie sie durch die Straßen von Los | |
Angeles tanzen und singen – zu allen möglichen Tageszeiten. Ruft man die | |
für das Video programmierte Website [2][24hoursofhappy.com] auf, bekommt | |
man die passende Aufnahme zur eigenen Ortszeit zu sehen. | |
Auf einer Uhr, die das Bild umrundet, kann man jedoch jede gewünschte | |
Tageszeit anklicken und einmal pro Stunde bekommt man Pharrell Williams | |
selbst zu sehen, dessen Auftritte jeweils mit einem P auf dem Ziffernblatt | |
gekennzeichnet sind. | |
Bei beiden Werken handelt es sich um aufwendig produzierte Mammutprojekte, | |
die eine neue Herangehensweise an das Medium Musikvideo endgültig | |
manifestieren. Doch hat es auch schon vorher digitale Clips von Musikern | |
gegeben, die das herkömmliche Verhältnis zwischen Betrachter und Bild über | |
Bord geworfen haben. | |
Zu den Vorreitern gehört die Berliner Rap-Gruppe K.I.Z., die im Jahr 2008 | |
mit „[3][Neuruppin]“ das nach eigenen Angaben „erste interaktive Musikvid… | |
der Welt“ veröffentlicht hat. Das für seinen schwarzen Humor bekannte Trio | |
erzählt in dem Song von Gewaltorgien in einem verlassenen Haus in der | |
brandenburgischen Provinz. Im Online-Video nimmt die Kamera die | |
Ich-Perspektive wie bei einem Egoshooter-Spiel ein. So kann man als User | |
das besungene Haus in der Stadt Neuruppin betreten, um in den verschiedenen | |
Zimmern auf zwei Etagen die K.I.Z.-Mitglieder beim Zerlegen und Beseitigen | |
von Körperteilen zu beobachten. | |
## Wie im Ballerspiel | |
Der Egoshooter-Perspektive bedient sich auch das Video zu „[4][I’ve Seen | |
Footage]“ vom kalifornischen Punk-Rap-Duos Death Grips, allerdings geht es | |
hier deutlich unbeschwerter zu. Darin wird der User nämlich zu einer | |
virtuellen Poolparty mit gepunkteter GIF-Optik eingeladen, bei der er auf | |
Mausklick zwischen den Perspektiven der für Collegepartys archetypischen | |
Gäste wechseln kann. Da ist etwa Cesar, der Typ, der die gesamte Party über | |
Pizza verdrückt; oder Salome, das Volleyball spielende Mädchen, dass | |
ständig „Wuhuu“ ruft. | |
Eine bemerkenswerte Verknüpfung zwischen Musikclip und Onlineshopping hat | |
man indes für das Stück „[5][I Think She Ready]“ von Fki, Iggy Azealia und | |
Diplo entwickelt. Musikvideos dienten ja schon zu Zeiten von MTV häufig | |
auch als Werbeflächen für Auto-, Klamotten- oder Elektronikhersteller, die | |
mit ihrem Sponsoring aufwendige Produktionen ermöglichen konnten. | |
Wozu dem Zuschauer noch die Recherche nach Designern und Vertrieb zumuten, | |
wenn man doch die Outfits im Video heute direkt mit dem Onlinestore | |
verlinken kann? Mit einem Klick auf den Schriftzug „Shop This Look“, der | |
über jedem Protagonisten im Video prangt, landet man direkt beim Shop, der | |
einen Warenkorb von allen Kleidungsstücken bis hin zum Schmuck erstellt. | |
Statt um die Geldbörsen des Publikums geht es anderen Videos um dessen | |
kreativen Input. Es soll die Ästhetik des Videos durch Interaktion | |
mitgestalten. So kann man im Clip „[6][Just a Reflektor]“ von der | |
Indie-Rockband Arcade Fire durch die Bedienung von Smartphone, Tablet oder | |
Maus das Licht im Bild steuern sowie Spiegelungen und psychedelische | |
Verzerrungen erzeugen. | |
Bevor das Video startet, wird auch eine Einwilligung verlangt, dass die im | |
Gerät integrierte Kamera benutzt werden darf. Wer neugierig ist, sollte mal | |
einen Blick darauf werfen. Aber nicht erschrecken, wenn das eigene Antlitz | |
plötzlich aus dem Bildschirm zurückblickt. | |
26 Nov 2013 | |
## LINKS | |
[1] http://video.bobdylan.com/desktop.html | |
[2] http://24hoursofhappy.com | |
[3] http://www.youtube.com/watch?v=eamoKuDWInI | |
[4] http://vimeo.com/40612564 | |
[5] http://www.youtube.com/watch?v=7obAoSbOyg0 | |
[6] http://www.justareflektor.com/ | |
## AUTOREN | |
Fatma Aydemir | |
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