# taz.de -- Schlagloch Selbstzensur: Das große Datenraffen | |
> Das hat die NSA mit ihrer Schnüffelei schon geschafft: Schriftsteller | |
> zensieren sich selbst. Ein Sechstel aller US-Autoren haben die Schere im | |
> Kopf. | |
Bild: Die scheinbar allgegenwärtige Überwachung ist nicht ohne Wirkung | |
Auf den Türen der Wiener U-Bahn sind zwei Aufkleber zu sehen, ein grüner, | |
der eine Überwachungskamera abbildet, und ein blauer, der einen Kinderwagen | |
zeigt. Die Aussage ist klar und einfach: Wir weisen Sie daraufhin, dass Sie | |
von der Wiege bis zur Bahre unter Beobachtung stehen. | |
So muss es jeder verstehen, der die medialen Enthüllungen und Diskussionen | |
der letzten Monate auch nur ansatzweise verfolgt hat. Dabei hat sich der | |
Schwerpunkt des öffentlichen Diskurses in dieser Zeit auf erstaunliche | |
Weise verschoben. | |
Die Existenz der allumfassenden Massenüberwachung wird nicht mehr | |
bestritten, wie noch vor wenigen Jahren, als Kritiker des Buches „Angriff | |
auf die Freiheit. Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau | |
bürgerlicher Rechte“ Juli Zeh und mir Hysterie vorwarfen. | |
Inzwischen wird das Ausmaß des Datenraffens nicht in Abrede gestellt, | |
sondern vielmehr eifrig darüber diskutiert, ob eine derartige | |
Generalkontrolle Schaden anrichtet oder nicht. Dabei wird meistens nach | |
unschuldigen Opfern gesucht, der gesamtgesellschaftliche Schaden hingegen | |
gerne außer Acht gelassen („Ich habe eh nichts zu verbergen …“). | |
Manche verneinen jegliche Gefahr für die Rechte des Bürgers, weil die Daten | |
zwar angehäuft, selten aber durchforstet oder gar bearbeitet werden. Andere | |
behaupten, es könne heutzutage und in Zukunft angesichts der technischen | |
Entwicklung ohnehin keine Privatsphäre mehr geben, und Dritte wiederum | |
bezweifeln grundsätzlich, dass Überwachung per se eine repressive Maßnahme | |
sei („solange ich nicht im Morgengrauen in Handschellen abgeführt werde | |
…“). | |
Wer sich derart weltfremd selbst beruhigt, wird über eine Umfrage, die der | |
US-amerikanische PEN neulich bei seinen Mitgliedern durchgeführt hat, | |
staunen. Unter der passenden Überschrift „Chilling Effects“ wird | |
festgestellt, dass 16 Prozent der Befragten bestimmte Themen inzwischen | |
bewusst vermeiden, nicht nur im persönlichen Gespräch und in E-Mails, | |
sondern auch in ihren Texten. | |
Mit anderen Worten: Fast ein Sechstel aller Autoren in den USA übt schon | |
eine Art der Selbstzensur aus, und ein weiteres Sechstel hat diese schon | |
einmal ernsthaft in Erwägung gezogen. | |
Es ist anzunehmen, dass die Zahlen in Deutschland ähnlich aussehen würden. | |
Bedenkt man, dass wir erst in diesem Jahr schlüssige und unwiderlegbare | |
Beweise für die globale Überwachungsmaschinerie erhalten haben, ist es mehr | |
als bemerkenswert, wie effektvoll sich diese neue Realität in den Köpfen | |
der Intellektuellen bereits eingenistet hat. | |
## Die sanfte Form der Repression | |
Allein die Tatsache, dass jene Autorinnen und Autoren, die in den letzten | |
Monaten publizistisch gegen die grassierende allgegenwärtige Überwachung | |
protestiert haben, gelegentlich zu hören bekommen, wie „mutig“ sie seien | |
(durchaus als Kompliment gemeint), zeigt, wie sicher sich viele schon sind, | |
dass kritische Meinungsäußerung unangenehme Konsequenzen nach sich ziehen | |
kann. In einer wirklich freien Gesellschaft müsste die Rettung eines in Not | |
geratenen Schwimmers aus den Fluten der Ostsee als mutig gelten, nicht aber | |
ein Text, ein Interview oder eine Petition. | |
Repression muss keineswegs stets brutal und aggressiv daherkommen. Im | |
Gegenteil: Die effizienteste Repression ist jene, die dem Einzelnen das | |
Duckmäusertum so schmackhaft macht, dass er sich selbst auf untertänige | |
Diät setzt. | |
## Leere Schubladen | |
Bei langlebigen Diktaturen, etwa den Regimes des ehemaligen Ostblocks, nahm | |
die Überwachung in dem Maße zu, in dem gewalttätige Repression abnahm. Dem | |
geheimdienstlichen Apparat gelang es aufs Erfolgreichste, der Bevölkerung | |
Einsicht in die Notwendigkeit des Gehorsams zu vermitteln. Auch den | |
Schriftstellern. | |
Vor 1989 erwarteten viele im Westen, dass nach dem Zusammenbruch des | |
Systems unzählige Manuskripte aus den Schubläden kreativer Geister zwischen | |
Ostberlin und Wladiwostok auftauchen würden. Geschrieben, aber nicht | |
veröffentlicht, aus was für Gründen auch immer. Doch die Schubladen | |
erwiesen sich in den meisten Fällen als leer. | |
## Subversion und Anonymität | |
Jeder, der sich mit einem solchen System arrangiert hat (Ähnliches gilt | |
natürlich auch für jene, die in Konzernen und anderen streng hierarchischen | |
Institutionen arbeiten), weiß nur zu genau, wo die unsichtbaren Grenzen | |
seiner Meinungsfreiheit verlaufen, ist vertraut mit der Topografie des | |
Erlaubten samt den Grauzonen des Verpönten sowie jenen Schwarzen Meeren des | |
Tabuisierten, die zu besegeln zur Ausgrenzung oder gar Verbannung führen | |
kann. | |
Und dass dieser Form von Repression durch Massenüberwachung Vorschub | |
geleistet wird, werden nur jene abstreiten, denen an der Effizienz von | |
Macht und Herrschaft mehr gelegen ist als an individueller Freiheit. | |
Auch die Arbeit der recherchierenden Publizisten (unabhängig davon, ob sie | |
dokumentarisch oder fiktional arbeiten), hängt entscheidend davon ab, dass | |
die Anonymität der Interviewten gegebenenfalls garantiert werden kann; es | |
muss sich dabei nicht gleich um Whistleblower handeln. Zeitzeugen öffnen | |
ihre privaten Archive oft nur aufgrund eines Vertrauensverhältnisses, das | |
nur in der Intimität der jeweiligen Beziehung gedeiht. | |
## Gespräche im Grünen | |
Momentan können wir nur (er)ahnen, wie sich dieses Verhältnis zum Negativen | |
wandeln wird, wenn davon auszugehen ist, dass jedwede Kommunikation vor den | |
gierigen Lauschern des Staates oder der Privatunternehmen nicht mehr sicher | |
ist. In letzter Zeit habe ich zweimal bei Gesprächen erlebt, dass der | |
Wunsch geäußert wurde, wir mögen zur Fortführung des Gesprächs doch im Park | |
spazieren gehen. | |
Wer sich gegen eine Übermacht wendet, benötigt oft die Zusicherung der | |
Anonymität. Nur der bedingungslose Jasager hat nichts zu verbergen. In dem | |
Maße, in dem Anonymität verschwindet, wird auch der Wille zur Enthüllung | |
und Entlarvung verloren gehen. Egal, wie man es dreht und wendet, | |
Massenüberwachung ist an sich schon ein repressives Instrument. | |
28 Nov 2013 | |
## AUTOREN | |
Ilija Trojanow | |
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