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# taz.de -- Schlagloch Kulturkritik: Ist doch Frackjacke wie Jogginghose
> Kulturkritik ist ein verdammt gefährliches Instrument. Wer Kulturkritik
> betreibt, nimmt sich viel heraus und riskiert einiges.
Bild: Dekadenz oder Verwahrlosung? Hier muss der Kulturkritiker ran.
Kulturkritik muss sein. Wenn man die gängige Begrifflichkeit nimmt,
kritisiert (Definieren Sie mal Kritik!) Kulturkritik jene Elemente einer
Kultur (Was ist das, bitte schön?), die sie als disparat zu den
Bedürfnissen (Und wer bestimmt das?) und Möglichkeiten (Erzählen Sie mir
nichts von Möglichkeiten!) erkennt.
„Der weite Begriff umfasst alle Kommentare, Einsprüche und Anklagen gegen
,verkehrte‘ Wertsysteme, ,schlechte‘ Zustände und ,falsches‘ Verhalten s…
der Antike.“ So heißt es in der Wikipedia, und natürlich geht es nicht
zuletzt um Kommentare zu Bildern, Tönen und Texten, in denen jemand das
„Verkehrte“, „Schlechte“ und „Falsche“ wittert. Was aber wäre, wen…
nicht erkennen und kritisieren dürfte?
Doch wer darf das, und wer soll das? Ist das eine Sache von
„Intellektuellen“, oder kann man auch die Bild-Zeitung und die
Schmuddeltalkshow als „Kulturkritik“ verstehen?
Bleiben wir vorerst bei der Kulturkritik als Geste der Dissidenz. Wer
Kulturkritik betreibt, nimmt sich also viel heraus und riskiert einiges.
Weil niemand, nach dem Verschwinden der Götter und der Parteien, die immer
recht haben, zu sagen wüsste, wer einem eigentlich das Recht dazu gibt, in
Dingen das Schlechte und Falsche zu sehen, die anderen, vielleicht sogar
der Mehrheit als das einzig Senkrechte, genau Richtige und Supertolle
erscheinen.
Muss nicht Kulturkritik ihren Adressaten auch die Möglichkeiten zu Trost,
Kompensation, Hoffnung nehmen? Kann das Falsche auf der einen Seite der
Gesellschaft etwas anderes sein als das Richtige auf der anderen Seite?
## Kulturpessimismus reizt zu Hipster-Tänzchen
Wenn man Kulturkritik historisch und moralisch übertreibt, nennt man das
„Kulturpessimismus“, und Kulturpessimismus ist verboten oder wird mit einem
Hipster-Tänzchen beantwortet. Erfolgreichen Kulturpessimismus von rechts
aber verwandelt der Buchmarkt in Bestseller.
Wenn man es indes mit der Politik und der Ökonomie in der Kulturkritik
übertreibt, und man spricht von „Entfremdung“ oder „Kulturindustrie“ o…
gar „Bewusstseinsindustrie“, dann ist man ein „Altlinker“, leidet unter
Verschwörungsfantasien oder hat den Zeitgeist nicht verstanden. Der
Spielraum für Kulturkritik in einer demokratisch-kapitalistischen
Gesellschaft ist gering.
Andererseits gibt es „die Kultur“ ja gar nicht. Vielmehr gibt es ein
Miteinander und Ineinander von Kulturen, die sich manchmal überschneiden
(und wenn sich viel überschneidet, nennt man das „Mainstream“). Und die
sind wieder in Subkulturen und temporäre Phänomene gespalten, und viele
bestehen nur aus der Energie, mit der sie sich von den anderen abgrenzen.
Dass Kultur für eine Reinigungskraft und einen Lehrkörper etwas anderes
sein muss, auch wenn beide denselben Fernsehapparat zu Hause stehen haben,
erklärt sich aus den Lebensbedingungen und nicht aus der Natur. Die
Reinigungskraft, die „Die Kritik der reinen Vernunft“ liest, ist so
unvorstellbar wie der Lehrkörper, der sich bei Fips Asmussen auf die
Schenkel klopft.
Klassen, so wissen wir von Pierre Bourdieu, werden stets sowohl durch
Ökonomie als auch durch Kultur erzeugt. So heißt linke Kulturkritik erst
einmal Kritik der kulturellen Erzeugung der Klassen.
## Komödienstadl und Würstchenreklame
Deshalb muss eine Kulturkritik, die weder Ausdruck einer klassistischen
Verachtung werden soll noch der einer politisch-moralischen Anmaßung, die
Klassen mitdenken – die eigene und die der kritisierten
Kultur-Erscheinungen. Wer also bin ich, Andrea Berg, den Komödienstadl, die
Soap Opera, die Trachtenmode, Würstchenreklame, Musicals, Fanshops etc. zu
kritisieren, was für die einen großes Kino und für die anderen
ästhetisch-moralischer Müll ist?
Ich weiß nur, was ich auf gar keinen Fall sein möchte: Ein Besserer, der
etwas Schlechteres missbilligt und das in sarkastische Worte kleidet. Teil
einer „gehobenen“, mehr oder weniger linken Mittelstandskultur, die eine
„Unterschichtkultur“ verachtet.
Mindestens so notwendig, wie die Objekte der Kulturkritik so präzis als
möglich zu treffen, ist es, eine genaue politische Grammatik der Kritik zu
entwickeln: Ich will auch keiner sein, der das Falsche und Wertlose
kritisiert, weil er so genau weiß, was das Richtige und Wertvolle wäre.
Jede Kulturkritik, die etwas zu sagen hat, bezieht den Kritiker und seine
Kultur mit ein.
Die professionelle Kulturkritik ist, bedingt durch kulturelle wie durch
ökonomische Faktoren, in der modernen Gesellschaft einem intellektuell
teildissidenten Segment des Kleinbürgertums zugefallen. Schon daher ist es
verständlich, wie sich die beiden schärfsten kulturkritischen Bezeichnungen
bildeten, die „Dekadenz“ (der Oberschicht) und die „Verwahrlosung“ (der
Unterschicht).
## Verbrämte Verachtung
Noch durch die elegantesten, an kritischer Theorie oder Strukturalismus
geschulten Denkfiguren der Kulturkritik spukt gern diese Ur-Unterstellung
einer Mitte gegen das Oben und das Unten. Und umgekehrt haben sich die, die
sich für eine Elite halten und meistens nur Privilegierte sind, ihre
Verachtung gegenüber den unteren Klassen gern kulturkritisch verbrämen
lassen.
Davon, wie sich Kulturkritik mit rassistischen und sexistischen Phantasmen
aufladen lässt, ganz zu schweigen. Kulturkritik ist ein verdammt
gefährliches Instrument. Für alle Beteiligten.
Nicht die Kultur, die eine Klasse hat, sondern die Kultur, die eine Klasse
macht, ist der Gegenstand der Kritik. Also nicht ein Bohlen, der mit seinem
Kotzsprech ein „Ventil“ wäre für angestauten Zorn, sondern ein Bohlen, der
seine Adressaten verdammt. Also nicht die Klasse, sondern ihre Produktion
und ihre Ausbeutung. Nicht die Belehrung der Konsumenten, sondern das
Verständnis der kulturellen Produktion und der dahinter liegenden
Interessen. Kurz: Es kommt auf die Perspektive an.
Kulturkritik ist eine der verschiedenen Möglichkeiten zu sagen, dass man
nicht einverstanden ist mit der (politisch gemachten) Welt. Einer der
Versuche, ihre Veränderbarkeit zu erkennen. Eine Hoffnung darauf,
Verbündete zu finden.
25 Jan 2014
## AUTOREN
Georg Seeßlen
## TAGS
Kulturkritik
Klassismus
Schwerpunkt AfD
Kunst
NSA
Geheimdienst
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