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# taz.de -- Machtkampf in der Türkei: Verschwörung unter Brüdern
> Der jüngste Korruptionsskandal erschüttert die konservativ-islamische
> Regierung des Tayyip Erdogan. Die islamische Gülen-Bewegung attackiert
> fleißig mit.
Bild: „Haltet den Dieb!“ forderten Demonstranten in Ankara
ISTANBUL taz | Das Haus mit Bootsanleger, direkt am Bosporus gelegen, ist
schmuck, aber nicht protzig. Eine Sichtblende versperrt den Blick auf den
Zweckbau, der die Atmosphäre gehobener Büroarchitektur ausstrahlt. Das
Schild am Tor kündet davon, dass hier eine „Journalist and Writers
Foundation“ ihren Sitz hat.
So harmlos, wie das Anwesen zunächst erscheint, ist die Stiftung jedoch
nicht. Das sagen nicht nur Anhänger der türkischen Regierung. Als
Schaltzentrale der „schwarzen Propaganda“ gegen Ministerpräsident Tayyip
Erdogan bezeichnete jüngst etwa der Kolumnist Cem Kücük das Anwesen in der
regierungsnahen Zeitung Yeni Safak. Von diesem Haus am Bosporus aus werde
eine Art Junta innerhalb der Justiz und Polizei gesteuert, behauptete der
Journalist. Deren Ziel: Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan zu stürzen
und ins Gefängnis zu bringen.
Das eigentlich spektakuläre an dieser Behauptung: Bei der Journalist and
Writers Foundation handelt es sich nicht etwa um eine Tarnorganisation des
militärischen Nachrichtendienstes, dem viele Türken schon lange
unterstellen, er wolle die islamisch fundierte Erdogan-Regierung zu Fall
bringen.
Vielmehr ist die Stiftung der öffentliche Arm der Bewegung des 72-jährigen
Predigers Fethullah Gülen. Dieser größten islamischen Sekte in der Türkei
gehören heute im Land selbst Hunderttausende und weltweit mehrere Millionen
Muslime an.
## Wer die Fäden in Justiz und Polizei zieht
Was sich wie eine verdrehte Verschwörungstheorie anhört – konservative
islamische Kreise wollten den konservativen islamischen Regierungschef
stürzen –, bestätigen allerdings auch Leute, die mit dem Premier und seiner
AKP-Partei nichts am Hut haben.
Dazu gehört der prominente Journalist und Enthüllungsautor Ahmet Sik, der
ein Buch über die Gülen-Bewegung geschrieben und dafür ein Jahr im
Gefängnis gesessen hat. Die Bewegung, die sich selbst „Hizmet“ (Die
Dienenden) nennt, wird in der Türkei gemeinhin „Cemaat“ (Die Gemeinde)
genannt.
In seinem Buch „Die Armee des Imam“, das bis heute in der Türkei verboten
ist, befasste sich Sik vor allem mit der Unterwanderung von Polizei und
Justiz durch die Cemaat.
Noch bevor das Werk erscheinen konnte, war Ahmet Sik verhaftet worden. Man
beschuldigte ihn, einer Geheimorganisation von Militärs, Bürokraten und
Kemalisten („Ergenekon“) anzugehören, deren Mitglieder mittlerweile in
erster Instanz verurteilt worden sind, weil sie gegen die Regierung
putschen wollten.
Sik ist davon überzeugt, dass die Gülen-Bewegung innerhalb des
Polizeiapparats „die Fäden zieht“, wie er sagt. Die jüngsten Ereignisse
scheinen ihm dabei recht zu geben: Am 17. Dezember begann eine
Verhaftungswelle, die enge politische Verbündete des Premiers und seiner
Minister überrollte. Unter anderem brachte sie drei Söhne von wichtigen
Kabinettsmitgliedern ins Gefängnis.
Fast hätte die Antikorruptionskampagne die Familie des Premiers selbst
erwischt. Ein von Erdogan neu eingesetzter Polizeichef in Istanbul
verhinderte vergangene Woche gerade noch eine zweite, von der
Staatsanwaltschaft beantragte Verhaftungsrunde. Diese sollte auch einen
Sohn des Premiers, Bilal Erdogan, treffen. Kein Zweifel: In Polizei und
Justiz tobt jetzt ein Machtkampf zwischen den Anhängern Erdogans und der
Gülen-Bewegung. Kaum jemand glaubt, dass der Bruch innerhalb des
zerstrittenen islamischen Lagers noch zu kitten ist.
Dabei betrachteten sich die heutige Regierungspartei AKP und die Cemaat
über zehn Jahre lang als gute Freunde. Entstanden war die Gülen-Bewegung in
den 70er Jahren: Der Imam predigte damals im Ägäis-Raum und später in zwei
Moscheen Istanbuls. Er rief dazu auf, Bildung wertzuschätzen,
Wissenschaften zu studieren und erfolgreiche Geschäftsleute zu werden.
## Der Imam steuert seine Bewegung von den USA aus
Groß wurde die Cemaat mit der Gründung von privaten Schulen – zunächst in
der Türkei, später in Zentralasien und dann auch in Europa und den USA.
Gülen selbst, dem eine Anklage wegen Aktivitäten gegen die säkulare
Republik drohte, setzte sich im März 1999 in die USA ab, von wo er auch
heute noch seine Bewegung steuert.
Ahmet Sik hat sich durch seine einjährige Untersuchungshaft nicht
einschüchtern lassen. Obwohl das Verfahren gegen ihn noch läuft und ein
Urteil aussteht, arbeitet er bereits an einem weiteren Buch über die
Gülen-Bewegung.
Im Mittelpunkt steht diesmal das Verhältnis zwischen der Cemaat und ihren
ehemaligen Freunden von der AKP. „Vor allem in der Periode von 2007 bis
2011, als die AKP-Regierung mit Hilfe der Justiz fast ein Drittel der
höheren Ränge des Militärs hinter Gitter brachte, haben sie bestens
zusammengearbeitet“, sagt er. „Gerade die Gülen-Leute innerhalb der Polizei
haben die Geheimdossiers gegen die Militärs, kemalistische Bürokraten und
Geschäftsleute, die die AKP los werden wollte, zusammengestellt.“
Warum dann jetzt der Bruch, und was bedeutet das alles für die Türkei?
Mustafa Akyol, ein Kolumnist, der sowohl zur AKP als auch mit der Cemaat
beste Beziehungen pflegt, schreibt dazu lapidar: „Nachdem der gemeinsame
Feind (das Militär und das kemalistische Establishment) erledigt war,
traten die Differenzen zwischen der Partei und der Bewegung in den
Vordergrund und eskalierten schnell zu einem großen politischen Konflikt.
Wenn es zwischen Türken auch nur eine kleine Meinungsverschiedenheit gibt,
wird schnell ein großer Kampf daraus.“
Ganz so simpel sieht Ahmet Sik die Sache nicht, seiner Ansicht nach gibt es
zwei Hauptgründe für den Konflikt: Erstens will die Cemaat „keine
politische Lösung mit der kurdischen PKK-Guerilla“. Stattdessen setze die
Bewegung weiter auf militärische Maßnahmen. Zweitens propagiert sie „einen
mit dem Westen und Israel kompatiblen Islam und ist deshalb gegen Erdogans
antiisraelische Politik.“
Anfang 2012 eskalierte der Konflikt zwischen den beiden wichtigsten
islamischen Strömungen der Türkei. Staatsanwälte der Antiterrorabteilung,
die der Gülen-Bewegung nahe stehen, wollten den Chef des türkischen
Geheimdienstes (MIT), Hakan Fidan, festnehmen. Grund: Fidan verhandelte im
Auftrag von Erdogan mit der PKK über einen Waffenstillstand – kollaborierte
also mit Terroristen.
## Erdogans Schlag gegen die Gülen-Schulen
Erdogan verhinderte die Festnahme. Er ließ ein Gesetz verabschieden, wonach
hohe Geheimdienstmitarbeiter nur mit Genehmigung des Regierungschefs von
der Justiz befragt werden dürfen. Dabei beließ es seine AKP-Partei aber
nicht. Im Sommer 2013 verkündete der Premier, dass – durch einen Umbau des
Bildungssystems – ein wichtiger Teil der Privatschulen, mit denen die
Gülen-Bewegung ihr Geld verdient und über die sie ihren Nachwuchs
rekrutiert, geschlossen werden soll.
Das war die ultimative Provokation. Seitdem schießen die Medien der
Gülen-Gemeinde aus allen Rohren auf die Regierung. Erdogan wird nun von den
Methoden eingeholt, mit denen er vor ein paar Jahren das Militär erledigte.
Plötzlich veröffentlicht die Zeitung Taraf einen ihr zugespielten geheimen
Beschluss des Nationalen Sicherheitsrats von 2004: Darin verständigt sich
die Regierung Erdogan gemeinsam mit der – damals noch mächtigen –
Militärspitze darauf, die Gülen-Gemeinde in die Illegalität zu drängen.
Nach dieser Veröffentlichung ist der Premier blamiert, die AKP windet sich
vor Verlegenheit und erklärt schließlich: Ja, den Beschluss habe es
gegeben, aber man habe ihn nie umgesetzt.
## Was die AKP von der Gülen-Gemeinde unterscheidet
Mit den Verhaftungen vom 17. Dezember und weiteren Anklagen wegen
Korruption gegen Männer in der unmittelbaren Umgebung von Erdogan hat die
„Gemeinde“ nun einen neuen Schlag gegen Erdogan gelandet. Wieder kann der
Premier nur reagieren. Er ordnete Versetzungen innerhalb von Polizei und
Justiz an, die ihm nun zu Recht den Vorwurf einbringen, er wolle die
Ermittlungen behindern.
Mit rechtsstaatlichen Verfahren und demokratischen Gepflogenheiten hat das
alles nichts zu tun. Als linker Journalist habe er „nie große Sympathien“
für die rechtskonservative islamische AKP gehabt, sagt Ahmet Sik. Immerhin
sei die AKP eine öffentliche Partei und ihre Regierung durch Wahlen
legitimiert. Die völlig intransparente Cemaat hingegen, die „einen enormen
Einfluss im Staat, in den Medien und im Geschäftsleben der Türkei“ ausübe,
sei von niemandem legitimiert und arbeite nur im eigenen Interesse.
Siks Fazit: „Deshalb ist die Cemaat die weitaus gefährlichere Organisation
für die Demokratie in der Türkei.“
30 Dec 2013
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
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