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# taz.de -- Hip-Hop in Vietnam: B-Boy or die
> Zu Füßen Lenins üben Kids allabendlich Breakdance. Touristen und
> Austauschschüler beflügelten das Entstehen einer Hip-Hop-Szene in
> Vietnam.
Bild: Auch in Deutschland: Das Breakdanceteam „S.I.N.E. Crew“ aus Vietnam b…
Ein stickiger Dunstschleier hängt über der Stadt, die schwüle Luft trieft
vor Abgasen. Als der Countdown-Zähler der Kreuzungsampel auf null springt
und grün gibt, setzt sich eine hupende Armada aus Motorrollern in Bewegung
und knattert die Dien-Biên-Phu-Straße hinunter. Ein Meer von Hondas – so
offenbart sich die wirtschaftliche Öffnung Doi moi im pulsierenden Hanoi,
Hauptstadt der Sozialistischen Republik Vietnam.
Umrahmt wird das geschäftige Treiben von überdimensionalen Plakaten mit
sozialistischer Propaganda und Polizisten in Uniform, die überall
patrouillieren. Im angrenzenden Park scheint der in Bronze gegossene Lenin
mit erhobener Hand gegen das Verkehrschaos und die Kakofonie der
Millionenmetropole rebellieren zu wollen. Die Statue ist ein Relikt des
Kalten Krieges. Von Revolution wollen die vietnamesischen Kids, die sich
hier allabendlich tummeln nichts wissen. Wenn es dunkel wird, fangen sie an
zu skaten, hören über Handy-Lautsprecher Musik und feilen an neuen
Breakdance-Figuren.
B-Boying ist in Vietnam eine der wenigen Möglichkeiten sich als Individuum
auszudrücken, sich von der Masse abzuheben – und, wer hart genug trainiert
kann es zu etwas bringen. Das zeigt das Beispiel der vietnamesischen
B-Boy-Vereinigung Big Toe. Wenn es um Windmills, Backspins und spektakuläre
Headspins geht, ist die Crew aus Hanoi im Land das Maß aller Dinge. Alle
träumen davon, einmal in den Reihen von Big Toe tanzen zu dürfen.
Für die meisten der mittlerweile auf 60 Mitglieder angewachsenen Crew
eröffnet sich dadurch nicht nur Anerkennung bei Gleichaltrigen sondern ein
aufregendes Leben. Mit Breakdance können junge Vietnamesen das Ticket
lösen, das raus führt aus dem kollektivistischen Alltag. Im Namen des
Goethe-Instituts Vietnam und unter Anleitung von Niels „Storm“ Robitzky –
einem deutschen Breakdance-Veteranen – sowie dem Franzosen Sébastien
Ramirez ist die Truppe 2005 mit dem eigens einstudierten Theaterstück „Xe
Co“ (Traffic) quer durch Südostasien getourt.
2011 führte der Weg für neun Big Toe-Tänzer sogar bis nach Europa. In
Berlin und Paris führte die Crew „Nhieu Mat“ (Faces) auf. Leitthema der
Stücke ist fast immer die Reibungsfläche zwischen Tradition und Moderne im
aufstrebenden Schwellenland Vietnam.
Während die Kommunistische Partei sich noch in vorsichtigen Schritten auf
den freien Markt zubewegt, tanzt der Nachwuchs bereits mit Six-Steps in die
Zukunft. An allen Ecken in Hanoi sind tanzende Teenager zu sehen. Mit
akrobatischen Bewegungen scheinen die Straßenprotagonisten ihre Umgebung
aus brutalistischer Architektur und sozialistischer Massenästhetik in ein
modernes Ballett für sich umzuinterpretieren.
Selbst um den Hoàn-Kiem-See, das Herzstück des altehrwürdigen Zentrums und
soziale Plattform von Hanoi ist, sind Tänzer aktiv. Musik ertönt dazu leise
vom Mobiltelefon oder schlichtweg gar nicht – die Polizei duldet das nicht.
Bis ins Jahr 2000 war der zuweilen subversiv anmutende Breakdance sogar
komplett verboten.
## Headspins für Onkel Ho
Austauschschüler haben die Tanzform Anfang der Neunziger – kurz nach dem
Ausbruch aus der politischen und wirtschaftlichen Isolation – nach Vietnam
importiert und die Jugend damit angesteckt. Thanh, 39, besser bekannt unter
seinem Tagnamen „Lion-T“, war einer von ihnen. Der Vietnamese mit der
rotbuschigen Mähne ist unbestrittener Chef der „Big Toe“ Crew und hat
bereits 1992 mit Breakdance angefangen.
Was es damit konkret auf sich hat, wurde ihm und seinen Mitstreitern jedoch
erst zu einem viel späteren Zeitpunkt bewusst, als ein Niels „Storm“
Robitzky aus Deutschland den geschichtlichen Hintergrund erläuterte und
einen Zusammenhang mit den anderen drei Elementen der Hip-Hop-Kultur –
DJ-ying, Rap und Graffiti – herstellte.
Mittlerweile ist Breakdance fest in der vietnamesischen Popkultur
verankert. Selbst die KP hat das Potenzial von Hip-Hop und den Einfluss von
Big Toe längst für sich entdeckt und gibt sich pragmatisch: Wenn Breakdance
schon so populär ist, dann sollen die Headspins wenigstens im Dienste von
Onkel Ho und dem gelben Stern gedreht werden. Bei den pompös inszenierten
Staatsfeiern sind die Tänzer an vorderster Front im Einsatz.
In der Thái-Thinh-Straße, am Stadtrand von Hanoi, befindet sich Doàn Xiec,
das Trainingszentrum der Big Toe-Crew. Jugendliche nehmen strapaziöse
Anreisen aus entlegenen Teilen Nordvietnams in Kauf, um hier „Battles“
auszutragen.
Bei knapp 40° Celsius Raumtemperatur pressen sich Scharen von Tänzern in
den Gymnastiksaal und messen sich mit ihren Tanzkünsten bis der Schweiß in
Strömen fließt. Von konfuzianischer Zurückhaltung keine Spur: Anstelle von
spröde aus dem Mobiltelefon träufelndem Sound, schallen hier subsonische
Bassbeats von Run DMC und „Renegades of Funk“ von Rage Against the Machine
aus den Boxen.
Die Tanzeinlagen sind geprägt von außergewöhnlicher Athletik und
asiatischer Artistik. Nach dem Air Freeze, einem Handstand mit nur einem
Arm, geht es direkt über zur Windmill, bei der sich die B-Boys auf dem
Boden um die eigene Achse drehen. Bei irrem Tempo wirbeln Sneakers mit
bunten Schnürsenkeln durch den Raum. Packende zwei-gegen-zwei-Battles wie
hier sind in den USA und Europa längst eine Seltenheit geworden – in
Vietnam ist die Begeisterungsfähigkeit für B-Boying ungebremst. „B-Boy or
die“ steht auf einigen Shirts zu lesen.
## Der bekannteste Rapper Vietnams ist eine Frau
Getanzt wird überwiegend zu Musik des einstigen Klassenfeinds. Auf die
Frage, wie es denn um den vietnamesischen Sprechgesang steht, winkt Thanh
ab. Zu oft schon sind die Wortgefechte zwischen Rappern aus dem Ruder
gelaufen und endeten in Schlägereien, die erst von der Polizei aufgelöst
werden konnten. „Die Rapper werden schnell obszön und beleidigend. Die
Atmosphäre bei Rap-Battles ist eher unentspannt“, erklärt der
vietnamesische Tanzpionier, der Big Toe unter anderem schon unter die fünf
Bestplatzierten bei der renommierten Südostasien-Meisterschaft geführt hat.
Schaut man sich an, wie viele junge Mädchen bei der Big Toe-Crew aktiv
sind, verwundert es nicht, dass der bekannteste vietnamesische Rapper eine
Frau ist: Suboi. Die zierliche Wortakrobatin ist zarte 23 Jahre alt, heißt
mit bürgerlichem Namen Hàng Lâm Trang Anh und stammt aus der
südvietnamesischen Metropole Ho-Chi-Minh-Stadt – dem früheren Saigon. Auch
wenn sie schon mal einzelne Verse auf Vietnamesisch in ihre Strophen
einstreut, rappt Suboi in erster Linie auf Englisch, das sie sich durch
Texte von Eminem selbst beigebracht hat.
Kommerziell ist sie damit überaus erfolgreich – bei MTV-Vietnam laufen ihre
Videos rauf und runter. Auch Sequenzen mit B-Boys sind in ihren Videos
obligatorisch. Die Tänzer stammen von der Big South-Crew – dem südlichen
Pendant zu Big Toe. Die Glitzerkettchen der Aktivisten funkeln hier noch
etwas markanter und überhaupt ist Hip-Hop im Süden noch enger verknüpft mit
modischer Erscheinung. Möglicherweise ist dieses Phänomen auf die frühere
Präsenz der US-Armee in Südvietnam zurückzuführen, deren Einfluss auch
lange nach dem Abzug noch spürbar ist und im Kontrast zum nüchterneren
Norden steht.
„Ich bin mir nicht sicher, wie viele Leute hier überhaupt verstehen, um was
es bei Hip-Hop eigentlich geht“, beklagt sich DJ Jase aus
Ho-Chi-Minh-Stadt. „Die meisten Kids kennen Hip-Hop nur so, wie MTV es
ihnen präsentiert und wissen nichts über die Anfänge und den Hintergrund
der Kultur.“ Die von Jase initiierte Vereinigung, The Beats Saigon, setzt
sich seit 2007 für die Förderung urbaner Musik ein.
„Wenn ich in Saigon ausgegangen bin, lief nirgendwo Musik, auf die ich
selbst abgefahren bin. Die meisten DJs hier spielen überall den gleichen
kommerziellen Mist in den Clubs – was besonders für einen DJ natürlich
frustrierend ist“, erklärt Jase. „Seitdem setze ich mich für die
Ausbreitung urbaner Musik ein und schmeiße meine eigenen Partys.“
Während es im Norden mehr B-Boys gibt, sind Clubszene und Graffiti wiederum
in Ho-Chi-Minh-Stadt weiter entwickelt. DAOS, 22, gehört zu den Vorreitern
im Land. Seine Schriftzüge prägen das Stadtbild Saigons. Besonders das
anspruchsvolle technische Level des jungen Sprühers überrascht, bedenkt
man, dass es vor Aufpassern nur so wimmelt. Strafen für illegales Sprühen
sind drakonisch: 500 Dollar kostet die Entfernung eines Graffitos – was für
einen vietnamesischen Studenten unbezahlbar ist.
## Graffiti nicht zu stoppen
Trotzdem ist Graffiti in Ho-Chi-Minh-Stadt nicht zu stoppen. „Nachts
übernehmen wir die Straßen und malen überall wo wir Lust haben“, prahlt
DAOS. „Ist die Polizei im Anmarsch, heißt es Rennen. Und dann rennen wir um
unser Leben“, erklärt der Junge mit einem verschmitzten Lächeln. Erwischt
wurde er bisher nicht. Erste Graffitis entstanden in Vietnam circa 2000 –
in der Hauptstadt Hanoi. Touristen haben die Kunst aus der Dose
mitgebracht. Bücher, ausländisches Fernsehen und das Internet taten ein
Übriges.
Vietnam und Hip-Hop, das steht zunächst im Widerspruch zu gängigen
Klischees westlicher Touristen, die das Land noch immer mit fernöstlicher
Kolonialnostalgie und Bildern aus der Zeit des Vietnamkriegs verbinden.
Eben so, wie sie in Filmen wie „Apocalypse Now“ aufgetischt werden.
Tatsächlich wurden jedoch zwei Drittel der jungen Bevölkerung erst nach
Kriegsende 1975, geboren und haben selbst keine Erinnerungen an
Auseinandersetzungen mit Franzosen und Amerikanern.
Ihr Blick ist in eine verheißungsvolle ökonomische Zukunft gerichtet und
nicht in die von Entbehrungen geprägte Vergangenheit. „Song voi“ (lebe
jetzt) lautet das Motto der Jugend. Charlie surft nicht, das mag vielleicht
stimmen – aber er liebt Breakdance!
6 Jan 2014
## AUTOREN
Andreas Margara
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