# taz.de -- Mopeds in Vietnam: Hanoi fährt stur vorwärts | |
> Über vier Millionen Mopedfahrer bewegen sich durch die Hauptstadt | |
> Vietnams. Sie sind Teil des kollektivistischen Aufbruchs. | |
Bild: Verkehr in Hanoi. | |
Mein zweites Moped war eine 100 ccm Honda Dream, secondhand in Hanoi | |
gekauft. Es war nicht besonders modern oder schick, aber es war wenigstens | |
ein bisschen besser als mein erstes, das ich in Deutschland als 14-Jähriger | |
besaß: ein Mofa der Marke Rixe. | |
Rixe Mofas belegten die unteren Plätze der Hackordnung möglicher Modelle. | |
Es hatte ein Automatikgetriebe und war daher natürlich eindeutig ungeeignet | |
für sportliche Spritztouren. Lästig auch, das der Markenname sich für | |
Schulhof-Spottreime sehr eignete. In Wirklichkeit aber waren das allerdings | |
nicht mehr als kleine Irritationen. | |
Denn selbst das schäbigste Mofa verschaffte mir einen Vorteil gegenüber dem | |
Großteil meiner Klassenkameraden, die Fahrrad fuhren oder, schlimmer noch, | |
Sklaven des Bus- und Straßenbahnfahrplans waren. Ich genoss das Hochgefühl, | |
mühelos, wo immer und wann immer ich wollte, hinzukommen. Mit 18 stieg ich | |
auf einen Gebrauchtwagen um. Aber nun, nach Hanoi umgezogen, war ich fest | |
entschlossen, den Geist meiner Mofa-Jahre wiederaufleben zu lassen. | |
Ich war nicht das erste Mal in Hanoi. Einige Jahre zuvor hatte ich schon | |
einmal für eine kürzere Zeit in Hanoi gelebt und gearbeitet. Die Hauptstadt | |
von Vietnam war damals eine Stadt der Fahrräder mit nur einer einzigen, in | |
der Regel ignorierten Ampel. Die wenigen Motorräder waren Statussymbole und | |
Ausdruck des beginnenden Wirtschaftswunders nach der wirtschaftlichen | |
Öffnung des kommunistischen Landes Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre. | |
Die Stimmung war optimistisch, und die Vietnamesen hofften, dass sich in | |
nicht allzu ferner Zukunft jeder eine Honda Dream leisten könnte. | |
## Die feinen Unterschiede | |
Fünf Jahre später hatte diese Zukunft nicht nur angefangen, sie war in | |
vollem Schwung. Hanoi hatte sich von einer Fahrradstadt in eine | |
Motorradstadt verwandelt. Und der Traum der Honda Dream für alle war | |
Realität geworden. Sicher, es gab auch andere Marken: Die russische Minsk, | |
nur von Bauern im abgelegenen Hochland oder von westlichen | |
Rucksacktouristen gefahren; die ostdeutsche Simson, dito; die Honda Chaly, | |
von den Einheimischen als Altherren- oder Damenmoped angesehen; die Honda | |
67, ein auf Spielzeuggröße geschrumpftes Triumph-Motorrad, und natürlich | |
die Honda Cub, die Vorgängerin der Honda Dream. | |
Zwischen den Dreams, die jetzt überall zu sehen waren, gab es feine | |
Unterschiede. Je neuer das Motorrad, desto besser – logisch. Noch wichtiger | |
aber war das Herstellungsland. Japan galt als am besten. „Made in China“ | |
kam, weit abgeschlagen, zuletzt. Ich hatte nicht viel Ahnung von Mopeds und | |
erwarb, wie als Teenager schon, eine etwas weniger angesehene Variante: | |
„Made in Thailand“, also unter kapitalistischer Qualitätskontrolle, war an | |
sich nicht so schlecht. Mit ihrer kleineren Rahmengröße und einem vorn | |
angebrachten Korb jedoch war meine Dream eher für eine zierliche | |
Vietnamesin gebaut als für einen ausgewachsenen Ausländer. | |
Als ich die Honda Dream zum ersten Mal fuhr, kamen die alten Gefühle der | |
Mofa-Zeit wieder hoch: die Freude, mobil zu sein. Und auch Stolz, nun in | |
meiner neuen Heimatstadt dazuzugehören. Ich war wieder auf eigene Faust | |
unterwegs als einer von den über vier Millionen Mopedfahrern der Hauptstadt | |
Vietnams. | |
## Perpetuum mobile als Verkehrsprinzip | |
Wenn ich an meine Mofafahrten in der Provinzstadt meiner Jugend denke, sehe | |
ich mich immer allein auf der Straße. Natürlich wird es dort auch Verkehr | |
gegeben haben, aber er ist mir nicht in Erinnerung geblieben. In Hanoi | |
dagegen dreht sich alles um den Verkehr. Das Erlebnis, hier zu fahren, | |
beruht zum Teil auf der Herausforderung, einen Straßenverkehr zu meistern, | |
der schon selbst zu einer Touristenattraktion geworden ist. | |
Die Faszination, die der vietnamesische Verkehr auf viele Ausländer ausübt, | |
beruht nicht nur darauf, wie unglaublich viele Fahrzeuge sich auf den engen | |
Straßen drängen, sondern besonders auf der vermeintlichen Anarchie auf der | |
Straße. Doch was für den Uneingeweihten aussieht wie völliges Chaos, | |
basiert auf einem einfachen, aber wirksamen Prinzip: der permanenten | |
Vorwärtsbewegung. Der Verkehrsfluss in vietnamesischen Städten wird oft mit | |
Fischschwärmen verglichen, die sich als Gruppe, komplett synchronisiert, | |
vorwärts bewegen. | |
Vietnamesische Mopedfahrer achten und reagieren nur auf die Manöver der | |
Mopeds vor ihnen, ohne sich darum zu kümmern, was hinter ihnen passiert. | |
Die Herausforderung, auf den Straßen Hanois Motorrad zu fahren, ist, Teil | |
dieses Ganzen zu sein, geschickt eine Lücke auszunutzen, elegant um ein | |
Motorrad mit einer fünfköpfigen Familie herumzunavigieren, sich nicht zu | |
nah an die Honda Cub, auf der gerade eine riesige Glasscheibe transportiert | |
wird, herandrängen zu lassen. | |
Es ist das Perpetuum mobile als Verkehrsprinzip. Anhalten ist ein | |
Kardinalfehler. Ich lernte dies in meinen ersten Tagen auf dem Motorrad in | |
Hanoi, als ich an einem Zebrastreifen anhielt, um einem älteren Fußgänger | |
das Überqueren der Straße zu ermöglichen. Mein entsetzter Begleiter | |
schimpfte: „Blockier nicht den Verkehr! Ein wenig abbremsen ist mehr als | |
genug.“ | |
Die Notwendigkeit, immer in Bewegung zu bleiben, spielte auch eine große | |
Rolle, als ich ein paar Wochen darauf meine praktische Führerscheinprüfung | |
auf dem Hof einer Polizeiakademie am Stadtrand machte. Der einzige | |
geforderte Beweis dafür, den Anforderungen des lokalen Straßenverkehrs | |
gewachsen zu sein, war die Fähigkeit, zweimal eine Achterfigur zu fahren: | |
langsam, im zweiten Gang, mit der strikten Anweisung, auf keinen Fall | |
jemals einen Fuß auf den Boden zu stellen. | |
## Rote Ampeln sind nur ein Vorschlag | |
Es war eine angemessene Vorbereitung auf den Alltag des städtischen | |
Straßenverkehrs, in dem Stillstand eine Unmöglichkeit ist. Einem Verkehr, | |
in dem die Vorwärtsbewegung nicht von Aktivitäten wie etwa Telefonieren | |
oder sogar Texten unterbrochen werden darf. Einem Verkehr, in dem rote | |
Ampeln oft nur ein Vorschlag sind, etwas langsamer zu fahren. | |
Auf Besuch in Hanoi, erzählte der amerikanische Schriftsteller und | |
Pulitzer-Preisträger Robert Olen Butler seinem Publikum einmal, dass er | |
gern den ehemaligen US-Verteidigungsminister Robert McNamara, der für den | |
Großteil des Vietnamkrieges im Amt war, mitgebracht hätte. Dieser sollte | |
sehen, wie Menschen hier die Straße überqueren. Fußgänger gehen einfach | |
los, und Motorräder fahren um sie herum, bis die „Eindringlinge“ die andere | |
Straßenseite erreichen, ohne einen nennenswerten Einfluss auf den | |
Verkehrsfluss genommen zu haben. | |
Für Butler war dies eine treffende Illustration der Sinnlosigkeit des | |
amerikanischen Engagements in Vietnam. Der unbedingte Blick nach vorn ist | |
auch eine Metapher für Vietnams Willen zum Fortschritt. Ein Fortschritt, | |
der den Lebensstandard der Menschen über das letzte Jahrzehnt so verbessert | |
hat, dass die Honda Dream nun durch modernere und technisch | |
weiterentwickelte Mopeds und Scooter abgelöst wurde. | |
Ironischerweise ist es das neueste Symbol ebendieses Fortschrittswillens, | |
der die Hanoier Mopedkultur bedroht: das Auto. Mopedfahren in Hanoi | |
bedeutet, Teil einer gemeinschaftlichen Erfahrung zu sein. Der einsame | |
Fahrer in der klimakontrollierten Metallkapsel seines überdimensionierten | |
SUV signalisiert da den Anfang vom Ende dieses großen kollektivistischen | |
Experiments, Millionen Mopedfahrer durch Hanois enge Straßen zu schleusen. | |
4 Jan 2014 | |
## AUTOREN | |
Andreas Pohl | |
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