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# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Reisfelder zu Golfplätzen
> In Vietnam gehört das Land immer noch dem Staat. Er nimmt es den Bauern
> weg und verkauft es an Spekulanten und Investoren.
Bild: Bauer mit einer Dreschmaschine auf einem Reisfeld
Das Dorf Dong Tam bei Hanoi wurde im April 2017 zum Schauplatz eines
spektakulären Vorfalls. Hunderte von Bauern hatten seit Monaten gegen die
Enteignung ihres Landes für ein Bauprojekt protestiert. Als die Polizei zur
Räumung anrückte, nahmen die Bauern kurzerhand 38 Polizeibeamte gefangen
und hielten sie über eine Woche fest. Die Behörden verzichteten darauf, die
Geiseln gewaltsam zu befreien, und schickten stattdessen den Vorsitzenden
des Volkskomitees von Hanoi, Nguyen Duc Chung, als Unterhändler nach Dong
Tam. Die Polizisten wurden freigelassen, im Gegenzug erhielten die Bauern
ein besseres Entschädigungsangebot.
Es ist nicht der einzige Fall. Im Küstenort Nam Ô, der für seine
ausgezeichnete Fischsoße bekannt ist, weigern sich mehrere Familien, ihre
Häuser zu verlassen. Sie sollen dem Bau einer riesigen Ferienanlage Platz
machen, die den ganzen Strand okkupieren und somit auch den Fischfang
unmöglich machen würde.
In Ho-Chi-Minh-Stadt, der Wirtschaftsmetropole im Süden des Landes, kämpfen
sie im Stadtteil Thu Thiem seit zwanzig Jahren gegen die Betonversiegelung
des letzten Stückchen Grüns. Eine Handvoll unbeugsamer Farmer ziehen immer
wieder gegen den Räumungsbefehl vor Gericht. Ihre Klagen begründen sie
damit, dass nicht alle Vorschriften für eine Enteignung eingehalten wurden
– und davon gibt es in der Tat viele.
Solche auf den ersten Blick erstaunlichen Proteste gegen die Enteignung von
Agrarflächen für Industrie-, Tourismus- oder Immobilienprojekte sind in
Vietnam inzwischen an der Tagesordnung. Den Sozialwissenschaftlerinnen
Marie Gibert und Juliette Segard zufolge sind Landkonflikte „im heutigen
Vietnam die wichtigste Ursache für soziale Spannungen“1 – und die einzige
Form politischen Protests, den die Bevölkerung in einem Land wagt, in dem
alle Macht in den Händen der Kommunistischen Partei liegt.
Auch wenn die Medien streng überwacht werden, verfolgen sie doch zumindest
einige der Proteste, vor allem wenn ein Parteikader eigens für
Verhandlungen mit der renitenten Landbevölkerung anreist. Jeden Tag gibt es
neue Informationen auf Facebook, das in Vietnam sehr populär ist. 30
Millionen Nutzer*innen sind registriert, bei einer Bevölkerung von 95
Millionen Menschen. „Und dennoch, was an die Öffentlichkeit dringt, ist nur
die Spitze des Eisbergs“, erklärt die Journalistin Ly vom staatlichen
Sender Vietnam Television (VTV). „Viele bäuerliche Proteste bleiben
unsichtbar“, denn die Recherche ist gefährlich. Wissenschaftler und
Journalisten warnten uns: „Geht lieber nicht in so ein Dorf, es gibt zu
viele Spannungen, ihr werdet bloß von der Polizei verhaftet!“ Andere
wollten sich gar nicht erst mit uns treffen.
## Es gibt keine Zahlen
Das Thema ist umso heikler, als die Enteignungen im direkten Widerspruch
zur nach wie vor allgegenwärtigen kommunistischen Rhetorik stehen. „Es ist
praktisch unmöglich, an Zahlen zu kommen“, sagt Danielle Labbé,
Stadtplanerin von der Universität Montreal, die sich seit 15 Jahren mit dem
Thema beschäftigt. „Ich gehe davon aus, dass die Behörden sie nicht
erheben, weil sie Angst haben, das Ausmaß des Phänomens zu offenbaren.“
Die Frage der Enteignung von landwirtschaftlichen Flächen steht im
Mittelpunkt der vor drei Jahrzehnten selbst gewählten
Entwicklungsstrategie. Nachdem die zentralisierte Wirtschaft nach
sowjetischem Vorbild, die in den 1950er Jahren erst in Nordvietnam und nach
der Wiedervereinigung 1976 auch im Süden eingeführt worden war, für
gescheitert erklärt wurde, startete die Regierung 1986 das umfangreiche
Reformprogramm Doi Moi (Erneuerung). Die Agrargenossenschaften wurden
sukzessive aufgelöst, und die staatlichen Unternehmen sollten vor allem
profitorientiert wirtschaften. Fortan war auch die Gründung privater
Unternehmen erlaubt, und Vietnam öffnete sich ausländischen Investoren.2
Da sich die Nahrungsmittelversorgung zunächst als das dringlichste Problem
darstellte, wurden als Erstes die landwirtschaftlichen
Produktionsgenossenschaften aufgelöst und das Land an eine noch immer
überwiegend bäuerliche Bevölkerung verteilt. „Der positive Effekt zeigte
sich sehr schnell“, erzählt Tran Ngoc Bich, ehemaliger Ökonom am Pariser
Centre national de la recherche scientifique (CNRS). „Innerhalb von drei
Jahren war die Nahrungsmittelknappheit gelöst, und das Land produzierte auf
einmal mehr Reis, als es konsumierte.“
Die marktwirtschaftliche Öffnung ging aber nicht mit einer Privatisierung
von Grund und Boden einher. Alle seitdem verabschiedeten Bodengesetze
bestätigten, dass der Staat „im Namen des Volkes“ im Besitz aller Flächen
bleibt, das heißt, er kann sich „im Bedarfsfall“ das Land wieder
„zurückholen“ – so der offizielle Begriff.
## Bauern haben nur Nutzungsrecht
Auch wenn sie sich als Eigentümer fühlen, haben die Bauern tatsächlich nur
ein landwirtschaftliches Nutzungsrecht, das in einem „roten Heft“
festgehalten ist. Immerhin kann jeder sein Nutzungsrecht ganz oder
teilweise veräußern oder das rote Heft an seine Kinder vererben. Der Staat
behält sich allerdings ein Monopol auf Landnutzungsänderungen vor. Zwar ist
ein Konsultationsverfahren vorgesehen, wenn Agrarflächen zu Baugrund
umgewidmet werden, doch praktisch liegt die Entscheidungsgewalt in der Hand
der Beamten.
1994 wurde das US-Embargo gegen Vietnam aufgehoben, 2007 trat das Land der
Welthandelsorganisation (WTO) bei. Danach erfolgte der zweite Schritt der
marktwirtschaftlichen Öffnung. Wie Vu Dinh Ton, Dekan der
Landwirtschaftsuniversität Hanoi, erklärt, ging es darum, „die
Subsistenzwirtschaft in eine Industrie- und Dienstleistungswirtschaft
umzuwandeln“. 1995 arbeiteten noch 80 Prozent der erwerbstätigen
Bevölkerung in der Landwirtschaft, heute sind es 40 Prozent. Während im
Agrarsektor 1988 noch 46 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP)
erwirtschaftet wurden, lag sein Anteil 2017 nur noch bei 15 Prozent.
Für die vietnamesische Politik sind „Modernisierung“ und „Entwicklung“…
wichtigen Schlagworten geworden. „Aber es gibt ein geografisches Problem“,
so Vu weiter. Da zwei Drittel der Landesfläche Berge und Hochebenen sind,
sind die für die „Modernisierung“ nutzbaren Flächen knapp. Sie sind meist
dicht besiedelt und werden größtenteils schon landwirtschaftlich genutzt.
Die Regierung hat daher beschlossen, riesige Agrarflächen in städtische,
industrielle oder touristische Entwicklungszonen umzuwandeln3 – auf Kosten
von Millionen Kleinbauern. „In den Köpfen der Entscheidungsträger gehört
diese Welt der Vergangenheit an“, unterstreicht Danielle Labbé.
## Dangs Sohn arbeitet jetzt in einer Schuhfabrik
Seit zwanzig Jahren werden Unternehmen – ob staatlich, privat oder in
ausländischer Hand – dazu aufgefordert, bei den Behörden
Entwicklungsprojekte einzureichen, um an Land zu kommen. „Im Gegenzug
verpflichtet sich das Unternehmen zur Schaffung von Arbeitsplätzen für die
enteigneten Bauern und zu Beiträgen zur Infrastruktur, wie Brücken,
Straßen, Ambulanzen oder Schulen, die der immer noch arme Staat nicht
finanzieren kann“, erläutert die Geografin und Vietnamspezialistin Sylvie
Fanchette vom französischen Institut für Entwicklungsforschung (IRD).
„Auf dem Papier mag diese Politik gerechtfertigt erscheinen“, sagt Nguyen
Van Phu, Ökonom und Forschungsdirektor am CNRS. Einige enteignete Bauern
haben tatsächlich davon profitiert. So zum Beispiel Dang Van Bien, den wir
in seinem nagelneuen Haus in Viem Dong treffen, einem Dorf in Strandnähe.
Der Strand zwischen der zentralvietnamesischen Stadt Da Nang und dem
beliebten Touristenziel Hoi An wurde inzwischen von internationalen
Hotelketten wie Four Seasons, Hyatt, Pullman oder Sheraton komplett
zugebaut und privatisiert.
„Als die Regierung vor fünfzehn Jahren kam, um uns unsere Reisfelder
wegzunehmen und in einen Golfplatz umzuwandeln, haben wir uns gewehrt“,
erzählt ein Veteran aus dem Vietnamkrieg (1955–1975).4 „Sie haben uns einen
lächerlichen Preis angeboten: 200.000 Dong (etwa 7 Euro) pro Quadratmeter,
was heute hundertmal mehr wert ist.“ Die Dorfbewohner mussten aufgeben,
durften jedoch jeweils ein kleines Grundstück behalten, das in Bauland
umgewandelt wurde. „Von den 4.000 Quadratmetern, die ich früher besaß,
ließen sie mir zwei Sao nach dem alten Flächenmaß.5 Ich hab ein Sao zu
einem guten Preis verkauft, und mit dem Geld auf dem anderen mein Haus
gebaut.“
Einer von Dangs Söhnen arbeitet für die Gemeindeverwaltung, der andere in
der Schweizer Schuhfabrik Rieker, die sich wenige Kilometer im
Landesinneren befindet und 16.000 Menschen beschäftigt. „Er bekommt 5
Millionen Dong (185 Euro) im Monat, er ist sehr zufrieden. Es ist mehr, als
man mit Reis verdienen kann, und vor allem ist es viel weniger
anstrengend.“ Dang selbst bekommt eine Beamtenrente von 4,5 Millionen Dong
(165 Euro) pro Monat, plus 2 Millionen Dong (75 Euro) Veteranenrente. „Im
Dorf sind jetzt alle zufrieden. Die jungen Leute haben ein Motorrad und
können in die Stadt fahren, um sich zu vergnügen. Und wir Alten müssen
nicht mehr auf den Feldern arbeiten, im Schlamm waten und uns von Blutegeln
anknabbern lassen. Wir bleiben im Café und spielen Karten.“
Rund ums Dorf hat sich die Landschaft drastisch verändert. So weit das Auge
reicht gibt es anstelle von Reisfeldern nur noch riesige Brachflächen, die
darauf warten, bebaut zu werden. Alle hundert Meter steht der Schuppen
eines Immobilienmaklers, der Traumvillen anpreist, für einen
Grundstückspreis von 20 Millionen Dong (750 Euro) pro Quadratmeter. Und
wann ist Baubeginn? „Ich weiß nicht“, gibt einer der Makler zu. „Die
meisten Menschen kaufen die Grundstücke bloß, um sie wieder zu verkaufen,
wenn der Preis gestiegen ist. Das Grundstück hier vor uns war vor zwei
Jahren nur 10 Millionen Dong (375 Euro) wert. Heute kostet es doppelt so
viel.“
## Ohne Rücksicht auf Verluste
Die Spekulation gehört zu den schlimmsten Auswüchsen einer Baupolitik ohne
Rücksicht auf Verluste. Angesichts der Landknappheit haben die Investoren
schnell erkannt, dass es rentabler ist, die beantragten Projekte nicht oder
nur teilweise umzusetzen. Stattdessen verkaufen sie das in Parzellen
aufgeteilte Land weiter, sobald sie das wertvolle Dokument in Händen
halten, auf dem Agrar- zu Bauland erklärt wird.
„Es ist ein Skandal,“ schimpft Frau Nhung, die wir im Dorf Duong Noi
treffen. „Die Regierung nimmt uns unser Land gegen eine lächerliche
Entschädigungssumme mit der Begründung, es handele sich ja bloß um
landwirtschaftliche Flächen, und verkauft es für das Hundertfache weiter,
indem sie es als Bauland ausweist.“
Ihr Dorf liegt eine Stunde mit dem Moped vom Hanoier Zentrum entfernt. Es
ist einer dieser Randbezirke, die allmählich zubetoniert werden. Seit acht
Jahren wehrt sich das ganze Dorf gegen das Vorhaben, hier ein riesiges
Viertel mit Villen und Luxuswohnungen hochzuziehen, inklusive Klinik und
Schule. „Uns werden für jeden Quadratmeter 270.000 Dong (10 Euro)
geboten, dabei verkaufen sie die ersten Grundstücke des neuen Stadtteils
bereits für 30 Millionen (1.100 Euro) pro Quadratmeter.“
Sie haben sich geweigert, die Entschädigung anzunehmen, Klagen und
Petitionen eingereicht, einen Marsch in die Hauptstadt und eine
Sitzblockade vor dem Gebäude des Volkskomitees organisiert. Sie haben Demos
vor den Baggern abgehalten, um den Baubeginn zu verhindern, und Nachrichten
auf Facebook gepostet, kurz: Die Bürger von Duong Noi haben alles
unternommen, um sich Gehör zu verschaffen. Diesmal reagierten die Behörden
mit Gewalt. Videos im Internet zeigen hunderte Polizisten, die in das Dorf
eindringen und mit Stöcken auf die Demonstranten einschlagen, während
gleichzeitig ein Bagger auf die Menge zufährt und eine Demonstrantin
verletzt. Erst nach mehreren Tagen konnte die Frau aus dem Krankenhaus
entlassen werden.
## Korrupte Regierung
Der Vater von Frau Nhung erzählt, dass ihn die Polizei 2014 auf dem Weg zu
einer Demonstration verhaftet hat: „Ich saß 18 Monate im Gefängnis wegen
‚Störung der öffentlichen Ordnung‘.“ Er ist in den Sechzigern und Veter…
des Chinesisch-Vietnamesischen Kriegs von 1979.6 „Als ich jung war, war es
normal, zur Waffe zu greifen – wir kämpften schließlich gegen einen äußer…
Feind, wir mussten das Land retten. Es ist schrecklich, dass ich heute
gegen meine eigenen Leute kämpfen muss, weil die Regierung verdorben ist.“
„Verdorben“ ist die vornehme Umschreibung für korrupt. Alle unsere
Gesprächspartner, ob Bauern, Professoren oder einfache Angestellte, sind
sich darin einig, dass es die Korruption ist, die hinter der
vietnamesischen Urbanisierungsstrategie steht und dass sich deren Exzesse
allesamt damit erklären lassen. Warum sollte es sonst so einfach für
Investoren sein, eine Genehmigung für die Umwandlung ihrer ursprünglichen
Projekte zu erhalten und statt einer Fabrik eine Villensiedlung zu bauen,
die versprochene Infrastruktur bestenfalls teilweise bereitzustellen oder
alle Umweltauflagen zu ignorieren?
Die Bestechlichkeit der Beamten, die sich ihre wertvollen Stempel teuer
bezahlen lassen, ist strukturell: Viele Akteure auf dem Immobilienmarkt
sind staatliche Unternehmen, an denen hohe Parteifunktionäre oder Leute mit
einem engen Draht zu Mitgliedern der kommunistischen Elite die Anteile
halten. Bei den privaten vietnamesischen oder ausländischen Investoren ist
es grundsätzlich schwierig, klassische Bestechung in Form von Umschlägen
mit Bargeld oder teuren Geschenken nachzuweisen.
Kimberly Kay Hoang von der University of Chicago gelang es dennoch, von
rund hundert vietnamesischen und ausländischen Investoren vertrauliche
Stellungnahmen zu bekommen. Das Ergebnis ist aufschlussreich und belegt
nachdrücklich das Ausmaß des Phänomens.7 „In diesem Land dreht sich alles
um die richtigen Beziehungen“, sagt einer. „Gewinner (auf dem
Immobilienmarkt) sind diejenigen, die ihre Beziehungen spielen lassen
können. Dafür muss man etwas springen lassen. Du zahlst ein
Bestechungsgeld, um das Land zu bekommen, und dann zahlst du jedes Mal,
wenn sie kommen, um deine Baustelle zu inspizieren.“
## Die alltägliche Korruption
„Niemand respektiert das Gesetz in diesem Land“, ergänzt ein anderer. „D…
einzige Weg, Geld zu verdienen, ist, die richtigen Leute zu kennen. Wenn
man aus dem Westen kommt, denkt man, es ist falsch, einen Beamten zu
bestechen. Aber so läuft es nun mal in Vietnam. Man muss sich vor Augen
halten, dass ein hoher Beamter umgerechnet nur 200 oder 300 Dollar im Monat
verdient. Wie soll er davon leben? Wir bezahlen ihn nur dafür, dass er
einfach seinen Job macht.“ In der [1][Korruptionsrangliste von Transparency
International] rangiert Vietnam auf Platz 107 von 180 Ländern.
Dass korrupte Politiker und Beamte ihnen ihr Land stehlen, ist schon
schlimm genug, aber es macht die Bauern noch wütender, wenn sie
anschließend feststellen, dass weder sie noch ihre Kinder dafür wenigstens
die versprochenen Arbeitsplätze bekommen. Entweder weil die Fabrik oder das
Hotel lieber andere, besser qualifizierte Mitarbeiter einstellen will oder
weil das angebliche Projekt, das Arbeitsplätze schaffen sollte, ein bloßer
Fall von Immobilienspekulation ist. „Die vietnamesische Industrie
jedenfalls ist nach wie vor schwach und kann niemals all diese neuen
arbeitslosen Bauern aufnehmen“, sagt Dao The Anh, Agrarökonom an der
Vietnamesischen Akademie der Agrarwissenschaften.
Die Umweltverschmutzung ist ein weiterer Grund für die große Wut. Im
Badeort Sam Son im Norden des Landes kämpften die Fischer lange darum, 300
Meter Strand für ihre Fischerboote zu behalten. Eines der größten
Unternehmen des Landes, die FLC-Gruppe, plante dort eine riesige
Ferienanlage mit einem Fünfsternehotel, Bungalows und Golfplatz. Die Anlage
ist seit zwei Jahren geöffnet, „aber wir demonstrieren weiterhin vor dem
Volkskomitee, weil sie das ganze Abwasser direkt ins Meer leiten“, erzählt
uns eine Gruppe Fischer, die wir am Strand getroffen haben. „Heute gibt es
weniger Fische, und die, die es noch gibt, sind krank.“
## Vergiftetes Wasser
In den Verträgen verpflichten sich die Unternehmen immer zum Schutz der
Umwelt, dennoch häufen sich die Fälle von Umweltverschmutzung. Denn für
eine Konformitätsbescheinigung reicht es aus, dem Kontrolleur einen
Umschlag zuzustecken oder der Frau seines Vorgesetzten eine luxuriöse
Hermès-Handtasche zu offerieren, wie es einer der Informanten von Kimberly
Kay Hoang darstellt. 2016 hatte die Entdeckung von tausenden toten Fischen
an der Küste von Hue infolge der Einleitung von Abwässern des
Formosa-Stahlwerks landesweit zu einer Welle von Demonstrationen geführt.
Die Regierung, die dem taiwanesischen Unternehmen sehr vorteilhafte
Konditionen gewährt hatte, versprach, die Verursacher der Katastrophe
„hart zu bestrafen“.
Das Fehlen einer unabhängigen Presse schürt die Gerüchteküche. „Man hört
von vielen Lokalpolitikern, dass sie bestechlich seien“, sagt die
pensionierte Hochschullehrerin Lien, die auf Facebook sehr aktiv ist.
„Aber das Schlimmste ist die chinesische Invasion! Hinter allen großen
vietnamesischen Unternehmen steht chinesisches Geld. Sie kaufen ganze
Küstenabschnitte auf, die strategisch entscheidend für unsere
Landesverteidigung sind. Dass die Regierung nichts dagegen unternimmt,
liegt offensichtlich daran, dass sie dicke Umschläge erhält.“ Solche kaum
nachprüfbaren Aussagen kursieren in privaten Gesprächen genauso wie in den
sozialen Netzwerken.
Die Folgen dieser ganz auf Urbanisierung setzenden Entwicklungspolitik
beschränken sich nicht auf ländliche Aufstände oder ein Wiederaufflammen
der alten Angst vor den „chinesischen Invasoren“. Die Geografin Fanchette
gibt zu bedenken, dass die dicht besiedelten Teile Vietnams allesamt nur
knapp über dem Meeresspiegel liegen. „Der Boden ist derart zubetoniert,
dass damit ein enormer Entwässerungsaufwand einhergehen müsste, aber das
ist keineswegs der Fall. Jeder etwas kräftigere Monsun kann heutzutage eine
schreckliche Katastrophe auslösen.“ Laut der NGO Germanwatch steht Vietnam
wegen der zunehmenden Fragilität seines Ökosystems inzwischen auf Platz
fünf der am stärksten vom Klimawandel betroffenen Länder.
## Die Bäuerin putzt für die neue Mittelschicht
Angesichts der Unzufriedenheit der enteigneten Bauern versuchen es die
Behörden nun vielfach mit Dialog. Die Bewohner des betroffenen Dorfs werden
zu einem Treffen mit von der Partei entsendeten Vermittlern eingeladen, die
ihnen die immer gleichen paternalistischen Vorträge halten: „Sie müssen
vernünftig sein. Wir bitten Sie, die Interessen von Staat und Unternehmen
mit ihren eigenen Interessen in Einklang zu bringen. Wir alle arbeiten
gemeinsam an der Modernisierung des Landes. Haben Sie Verständnis. Die
Behörden des Bezirks vertreten die Interessen der Bewohner.“8 Zwar lassen
sich die Demonstranten auf diese Weise nur selten befrieden. Aber die
Regierung kann auf die Unterstützung einer wachsenden Mittelschicht zählen,
die von dieser Politik ohne größere Gewissensbisse profitiert.
Eines der prägnantesten Beispiele ist Hanois neuer vornehmer Stadtteil
Ecopark, erbaut nach jahrelangem Widerstand der ehemaligen Dorfbewohner,
die schließlich von der Polizei mit Schlagstöcken vertrieben wurden. „Eines
Tages erzählte mir meine Putzfrau, dass unsere Villa auf dem Gelände des
Bauernhofs errichtet wurde, von dem man sie vertrieben hat“, gibt Frau
Phuong zu. Die junge Frau besitzt eine kleine Blumenhandelskette. Seit zwei
Jahren lebt sie in Ecopark in einem 190 Quadratmeter großen Haus mit
Garten. „Ich habe mich ein wenig geschämt, aber was kann ich machen?“ Der
30-jährige Herr Thanh, leitender Manager einer Kommunikationsfirma, nimmt
kein Blatt vor den Mund: „Für mich sind diese Bauern Hindernisse für den
Fortschritt. Wenn wir uns entwickeln wollen, muss man Kollateralschäden in
Kauf nehmen.“
Die großen westlichen Demokratien beglückwünschen Vietnam für seine
jährlichen Wachstumsraten von 6 bis 7 Prozent in den letzten zwei
Jahrzehnten9 und seine unbestrittenen Erfolge bei der Armutsbekämpfung.
Laut Weltbank ist der Anteil derjenigen, die unterhalb der Armutsgrenze
(das heißt mit weniger als 3,50 Dollar pro Tag) leben, von 60 Prozent 1990
auf heute weniger als 10 Prozent gefallen.
Der Landraub dürfte daher noch eine ganze Weile anhalten, denn er
ermöglicht es der lokalen Elite, sich schnell zu bereichern, und bringt
hunderttausende junge Landbewohner ohne Ausbildung auf den Arbeitsmarkt.
Sie schätzen sich glücklich, für die internationalen Textil-, Elektronik-
und neuerdings auch Autokonzerne arbeiten zu dürfen, die sich gerade
deswegen in Vietnam niederlassen, um von der großen Masse billiger
Arbeitskräfte zu profitieren.10
So massiv der Widerstand der Bauern auch sein mag, am Ende stehen sie stets
als Verlierer da. Bestenfalls können sie ein paar Projekte hinauszögern.
Über das ganze Land verstreut, ohne legale Möglichkeit, sich als Bewegung
zu organisieren, erscheint der Widerstand angesichts der Macht des Staats
schwach. Aufgrund der staatlichen Kontrolle der Medien bleibt nur Facebook,
um regional oder national zu mobilisieren. Die Behörden sind sich dessen
bewusst und verhaften immer wieder Bürger, die im Internet agitiert hätten.
Im April 2018 zählte Amnesty International „mindestens 97 politische
Gefangene“, was der Organisation zufolge „sicherlich weit unter den realen
Zahlen“ liegt. Seit dem 1. Januar 2019 schreibt ein neues Gesetz vor, dass
Internetplattformen innerhalb von 24 Stunden alle Kommentare entfernen
müssen, die als „Bedrohung für die nationale Sicherheit“ erachtet werden.
1 Marie Gibert und Juliette Segard, „L’aménagement urbain au Vietnam,
vecteur d’un autoritarisme négocié“, Justice spatiale, Nr. 8, Juli 2015,
www.jssj.org.
2 Siehe Martine Bulard, „Onkel Hos Soldaten an der Wirtschaftsfront“, LMd,
April 2017.
3 Siehe Xavier Monthéard, „Stadt des aufsteigenden Drachen“, LMd, April
2010.
4 Der Widerstand der Dorfbewohner von Viem Dong war 2009 Gegenstand des
Dokumentarfilms „À qui appartient la terre?“ von Doan Hong Le.
5 Sao: altes vietnamesisches Flächenmaß, entspricht 720 Quadratmeter.
6 Dieser Krieg begann am 17. Februar 1979 mit dem Einmarsch chinesischer
Truppen in den Norden Vietnams und endete einen Monat später, am 16. März.
7 Kimberly Kay Hoang, „Risky Investments: How local and foreign investors
finesse corruption-rife emerging markets“, in: American Sociological
Review, Nr. 4, Los Angeles, August 2018.
8 Aus dem Film „À qui appartient la terre?“ (siehe Anmerkung 4). Die
Äußerungen stammen vom Vizepräsidenten des Bezirks Viem Dong.
9 Siehe Jean-Claude Pomonti, „Moderne, pragmatische, korrupte Kommunisten“,
LMd, Februar 2007.
10 Vietnam ist der zweitgrößte Handyexporteur der Welt, allein mehr als die
Hälfte der Samsung-Smartphones werden dort zusammengebaut. Siehe dazu „Why
Samsung of South Korea is the biggest firm in Vietnam“, The Economist,
London, 12. April 2018.
Aus dem Französischen von Nicola Liebert
16 Feb 2019
## LINKS
[1] https://www.transparency.de/cpi/cpi-2017/
## AUTOREN
Pierre Daum
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