# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Reisfelder zu Golfplätzen | |
> In Vietnam gehört das Land immer noch dem Staat. Er nimmt es den Bauern | |
> weg und verkauft es an Spekulanten und Investoren. | |
Bild: Bauer mit einer Dreschmaschine auf einem Reisfeld | |
Das Dorf Dong Tam bei Hanoi wurde im April 2017 zum Schauplatz eines | |
spektakulären Vorfalls. Hunderte von Bauern hatten seit Monaten gegen die | |
Enteignung ihres Landes für ein Bauprojekt protestiert. Als die Polizei zur | |
Räumung anrückte, nahmen die Bauern kurzerhand 38 Polizeibeamte gefangen | |
und hielten sie über eine Woche fest. Die Behörden verzichteten darauf, die | |
Geiseln gewaltsam zu befreien, und schickten stattdessen den Vorsitzenden | |
des Volkskomitees von Hanoi, Nguyen Duc Chung, als Unterhändler nach Dong | |
Tam. Die Polizisten wurden freigelassen, im Gegenzug erhielten die Bauern | |
ein besseres Entschädigungsangebot. | |
Es ist nicht der einzige Fall. Im Küstenort Nam Ô, der für seine | |
ausgezeichnete Fischsoße bekannt ist, weigern sich mehrere Familien, ihre | |
Häuser zu verlassen. Sie sollen dem Bau einer riesigen Ferienanlage Platz | |
machen, die den ganzen Strand okkupieren und somit auch den Fischfang | |
unmöglich machen würde. | |
In Ho-Chi-Minh-Stadt, der Wirtschaftsmetropole im Süden des Landes, kämpfen | |
sie im Stadtteil Thu Thiem seit zwanzig Jahren gegen die Betonversiegelung | |
des letzten Stückchen Grüns. Eine Handvoll unbeugsamer Farmer ziehen immer | |
wieder gegen den Räumungsbefehl vor Gericht. Ihre Klagen begründen sie | |
damit, dass nicht alle Vorschriften für eine Enteignung eingehalten wurden | |
– und davon gibt es in der Tat viele. | |
Solche auf den ersten Blick erstaunlichen Proteste gegen die Enteignung von | |
Agrarflächen für Industrie-, Tourismus- oder Immobilienprojekte sind in | |
Vietnam inzwischen an der Tagesordnung. Den Sozialwissenschaftlerinnen | |
Marie Gibert und Juliette Segard zufolge sind Landkonflikte „im heutigen | |
Vietnam die wichtigste Ursache für soziale Spannungen“1 – und die einzige | |
Form politischen Protests, den die Bevölkerung in einem Land wagt, in dem | |
alle Macht in den Händen der Kommunistischen Partei liegt. | |
Auch wenn die Medien streng überwacht werden, verfolgen sie doch zumindest | |
einige der Proteste, vor allem wenn ein Parteikader eigens für | |
Verhandlungen mit der renitenten Landbevölkerung anreist. Jeden Tag gibt es | |
neue Informationen auf Facebook, das in Vietnam sehr populär ist. 30 | |
Millionen Nutzer*innen sind registriert, bei einer Bevölkerung von 95 | |
Millionen Menschen. „Und dennoch, was an die Öffentlichkeit dringt, ist nur | |
die Spitze des Eisbergs“, erklärt die Journalistin Ly vom staatlichen | |
Sender Vietnam Television (VTV). „Viele bäuerliche Proteste bleiben | |
unsichtbar“, denn die Recherche ist gefährlich. Wissenschaftler und | |
Journalisten warnten uns: „Geht lieber nicht in so ein Dorf, es gibt zu | |
viele Spannungen, ihr werdet bloß von der Polizei verhaftet!“ Andere | |
wollten sich gar nicht erst mit uns treffen. | |
## Es gibt keine Zahlen | |
Das Thema ist umso heikler, als die Enteignungen im direkten Widerspruch | |
zur nach wie vor allgegenwärtigen kommunistischen Rhetorik stehen. „Es ist | |
praktisch unmöglich, an Zahlen zu kommen“, sagt Danielle Labbé, | |
Stadtplanerin von der Universität Montreal, die sich seit 15 Jahren mit dem | |
Thema beschäftigt. „Ich gehe davon aus, dass die Behörden sie nicht | |
erheben, weil sie Angst haben, das Ausmaß des Phänomens zu offenbaren.“ | |
Die Frage der Enteignung von landwirtschaftlichen Flächen steht im | |
Mittelpunkt der vor drei Jahrzehnten selbst gewählten | |
Entwicklungsstrategie. Nachdem die zentralisierte Wirtschaft nach | |
sowjetischem Vorbild, die in den 1950er Jahren erst in Nordvietnam und nach | |
der Wiedervereinigung 1976 auch im Süden eingeführt worden war, für | |
gescheitert erklärt wurde, startete die Regierung 1986 das umfangreiche | |
Reformprogramm Doi Moi (Erneuerung). Die Agrargenossenschaften wurden | |
sukzessive aufgelöst, und die staatlichen Unternehmen sollten vor allem | |
profitorientiert wirtschaften. Fortan war auch die Gründung privater | |
Unternehmen erlaubt, und Vietnam öffnete sich ausländischen Investoren.2 | |
Da sich die Nahrungsmittelversorgung zunächst als das dringlichste Problem | |
darstellte, wurden als Erstes die landwirtschaftlichen | |
Produktionsgenossenschaften aufgelöst und das Land an eine noch immer | |
überwiegend bäuerliche Bevölkerung verteilt. „Der positive Effekt zeigte | |
sich sehr schnell“, erzählt Tran Ngoc Bich, ehemaliger Ökonom am Pariser | |
Centre national de la recherche scientifique (CNRS). „Innerhalb von drei | |
Jahren war die Nahrungsmittelknappheit gelöst, und das Land produzierte auf | |
einmal mehr Reis, als es konsumierte.“ | |
Die marktwirtschaftliche Öffnung ging aber nicht mit einer Privatisierung | |
von Grund und Boden einher. Alle seitdem verabschiedeten Bodengesetze | |
bestätigten, dass der Staat „im Namen des Volkes“ im Besitz aller Flächen | |
bleibt, das heißt, er kann sich „im Bedarfsfall“ das Land wieder | |
„zurückholen“ – so der offizielle Begriff. | |
## Bauern haben nur Nutzungsrecht | |
Auch wenn sie sich als Eigentümer fühlen, haben die Bauern tatsächlich nur | |
ein landwirtschaftliches Nutzungsrecht, das in einem „roten Heft“ | |
festgehalten ist. Immerhin kann jeder sein Nutzungsrecht ganz oder | |
teilweise veräußern oder das rote Heft an seine Kinder vererben. Der Staat | |
behält sich allerdings ein Monopol auf Landnutzungsänderungen vor. Zwar ist | |
ein Konsultationsverfahren vorgesehen, wenn Agrarflächen zu Baugrund | |
umgewidmet werden, doch praktisch liegt die Entscheidungsgewalt in der Hand | |
der Beamten. | |
1994 wurde das US-Embargo gegen Vietnam aufgehoben, 2007 trat das Land der | |
Welthandelsorganisation (WTO) bei. Danach erfolgte der zweite Schritt der | |
marktwirtschaftlichen Öffnung. Wie Vu Dinh Ton, Dekan der | |
Landwirtschaftsuniversität Hanoi, erklärt, ging es darum, „die | |
Subsistenzwirtschaft in eine Industrie- und Dienstleistungswirtschaft | |
umzuwandeln“. 1995 arbeiteten noch 80 Prozent der erwerbstätigen | |
Bevölkerung in der Landwirtschaft, heute sind es 40 Prozent. Während im | |
Agrarsektor 1988 noch 46 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) | |
erwirtschaftet wurden, lag sein Anteil 2017 nur noch bei 15 Prozent. | |
Für die vietnamesische Politik sind „Modernisierung“ und „Entwicklung“… | |
wichtigen Schlagworten geworden. „Aber es gibt ein geografisches Problem“, | |
so Vu weiter. Da zwei Drittel der Landesfläche Berge und Hochebenen sind, | |
sind die für die „Modernisierung“ nutzbaren Flächen knapp. Sie sind meist | |
dicht besiedelt und werden größtenteils schon landwirtschaftlich genutzt. | |
Die Regierung hat daher beschlossen, riesige Agrarflächen in städtische, | |
industrielle oder touristische Entwicklungszonen umzuwandeln3 – auf Kosten | |
von Millionen Kleinbauern. „In den Köpfen der Entscheidungsträger gehört | |
diese Welt der Vergangenheit an“, unterstreicht Danielle Labbé. | |
## Dangs Sohn arbeitet jetzt in einer Schuhfabrik | |
Seit zwanzig Jahren werden Unternehmen – ob staatlich, privat oder in | |
ausländischer Hand – dazu aufgefordert, bei den Behörden | |
Entwicklungsprojekte einzureichen, um an Land zu kommen. „Im Gegenzug | |
verpflichtet sich das Unternehmen zur Schaffung von Arbeitsplätzen für die | |
enteigneten Bauern und zu Beiträgen zur Infrastruktur, wie Brücken, | |
Straßen, Ambulanzen oder Schulen, die der immer noch arme Staat nicht | |
finanzieren kann“, erläutert die Geografin und Vietnamspezialistin Sylvie | |
Fanchette vom französischen Institut für Entwicklungsforschung (IRD). | |
„Auf dem Papier mag diese Politik gerechtfertigt erscheinen“, sagt Nguyen | |
Van Phu, Ökonom und Forschungsdirektor am CNRS. Einige enteignete Bauern | |
haben tatsächlich davon profitiert. So zum Beispiel Dang Van Bien, den wir | |
in seinem nagelneuen Haus in Viem Dong treffen, einem Dorf in Strandnähe. | |
Der Strand zwischen der zentralvietnamesischen Stadt Da Nang und dem | |
beliebten Touristenziel Hoi An wurde inzwischen von internationalen | |
Hotelketten wie Four Seasons, Hyatt, Pullman oder Sheraton komplett | |
zugebaut und privatisiert. | |
„Als die Regierung vor fünfzehn Jahren kam, um uns unsere Reisfelder | |
wegzunehmen und in einen Golfplatz umzuwandeln, haben wir uns gewehrt“, | |
erzählt ein Veteran aus dem Vietnamkrieg (1955–1975).4 „Sie haben uns einen | |
lächerlichen Preis angeboten: 200.000 Dong (etwa 7 Euro) pro Quadratmeter, | |
was heute hundertmal mehr wert ist.“ Die Dorfbewohner mussten aufgeben, | |
durften jedoch jeweils ein kleines Grundstück behalten, das in Bauland | |
umgewandelt wurde. „Von den 4.000 Quadratmetern, die ich früher besaß, | |
ließen sie mir zwei Sao nach dem alten Flächenmaß.5 Ich hab ein Sao zu | |
einem guten Preis verkauft, und mit dem Geld auf dem anderen mein Haus | |
gebaut.“ | |
Einer von Dangs Söhnen arbeitet für die Gemeindeverwaltung, der andere in | |
der Schweizer Schuhfabrik Rieker, die sich wenige Kilometer im | |
Landesinneren befindet und 16.000 Menschen beschäftigt. „Er bekommt 5 | |
Millionen Dong (185 Euro) im Monat, er ist sehr zufrieden. Es ist mehr, als | |
man mit Reis verdienen kann, und vor allem ist es viel weniger | |
anstrengend.“ Dang selbst bekommt eine Beamtenrente von 4,5 Millionen Dong | |
(165 Euro) pro Monat, plus 2 Millionen Dong (75 Euro) Veteranenrente. „Im | |
Dorf sind jetzt alle zufrieden. Die jungen Leute haben ein Motorrad und | |
können in die Stadt fahren, um sich zu vergnügen. Und wir Alten müssen | |
nicht mehr auf den Feldern arbeiten, im Schlamm waten und uns von Blutegeln | |
anknabbern lassen. Wir bleiben im Café und spielen Karten.“ | |
Rund ums Dorf hat sich die Landschaft drastisch verändert. So weit das Auge | |
reicht gibt es anstelle von Reisfeldern nur noch riesige Brachflächen, die | |
darauf warten, bebaut zu werden. Alle hundert Meter steht der Schuppen | |
eines Immobilienmaklers, der Traumvillen anpreist, für einen | |
Grundstückspreis von 20 Millionen Dong (750 Euro) pro Quadratmeter. Und | |
wann ist Baubeginn? „Ich weiß nicht“, gibt einer der Makler zu. „Die | |
meisten Menschen kaufen die Grundstücke bloß, um sie wieder zu verkaufen, | |
wenn der Preis gestiegen ist. Das Grundstück hier vor uns war vor zwei | |
Jahren nur 10 Millionen Dong (375 Euro) wert. Heute kostet es doppelt so | |
viel.“ | |
## Ohne Rücksicht auf Verluste | |
Die Spekulation gehört zu den schlimmsten Auswüchsen einer Baupolitik ohne | |
Rücksicht auf Verluste. Angesichts der Landknappheit haben die Investoren | |
schnell erkannt, dass es rentabler ist, die beantragten Projekte nicht oder | |
nur teilweise umzusetzen. Stattdessen verkaufen sie das in Parzellen | |
aufgeteilte Land weiter, sobald sie das wertvolle Dokument in Händen | |
halten, auf dem Agrar- zu Bauland erklärt wird. | |
„Es ist ein Skandal,“ schimpft Frau Nhung, die wir im Dorf Duong Noi | |
treffen. „Die Regierung nimmt uns unser Land gegen eine lächerliche | |
Entschädigungssumme mit der Begründung, es handele sich ja bloß um | |
landwirtschaftliche Flächen, und verkauft es für das Hundertfache weiter, | |
indem sie es als Bauland ausweist.“ | |
Ihr Dorf liegt eine Stunde mit dem Moped vom Hanoier Zentrum entfernt. Es | |
ist einer dieser Randbezirke, die allmählich zubetoniert werden. Seit acht | |
Jahren wehrt sich das ganze Dorf gegen das Vorhaben, hier ein riesiges | |
Viertel mit Villen und Luxuswohnungen hochzuziehen, inklusive Klinik und | |
Schule. „Uns werden für jeden Quadratmeter 270.000 Dong (10 Euro) | |
geboten, dabei verkaufen sie die ersten Grundstücke des neuen Stadtteils | |
bereits für 30 Millionen (1.100 Euro) pro Quadratmeter.“ | |
Sie haben sich geweigert, die Entschädigung anzunehmen, Klagen und | |
Petitionen eingereicht, einen Marsch in die Hauptstadt und eine | |
Sitzblockade vor dem Gebäude des Volkskomitees organisiert. Sie haben Demos | |
vor den Baggern abgehalten, um den Baubeginn zu verhindern, und Nachrichten | |
auf Facebook gepostet, kurz: Die Bürger von Duong Noi haben alles | |
unternommen, um sich Gehör zu verschaffen. Diesmal reagierten die Behörden | |
mit Gewalt. Videos im Internet zeigen hunderte Polizisten, die in das Dorf | |
eindringen und mit Stöcken auf die Demonstranten einschlagen, während | |
gleichzeitig ein Bagger auf die Menge zufährt und eine Demonstrantin | |
verletzt. Erst nach mehreren Tagen konnte die Frau aus dem Krankenhaus | |
entlassen werden. | |
## Korrupte Regierung | |
Der Vater von Frau Nhung erzählt, dass ihn die Polizei 2014 auf dem Weg zu | |
einer Demonstration verhaftet hat: „Ich saß 18 Monate im Gefängnis wegen | |
‚Störung der öffentlichen Ordnung‘.“ Er ist in den Sechzigern und Veter… | |
des Chinesisch-Vietnamesischen Kriegs von 1979.6 „Als ich jung war, war es | |
normal, zur Waffe zu greifen – wir kämpften schließlich gegen einen äußer… | |
Feind, wir mussten das Land retten. Es ist schrecklich, dass ich heute | |
gegen meine eigenen Leute kämpfen muss, weil die Regierung verdorben ist.“ | |
„Verdorben“ ist die vornehme Umschreibung für korrupt. Alle unsere | |
Gesprächspartner, ob Bauern, Professoren oder einfache Angestellte, sind | |
sich darin einig, dass es die Korruption ist, die hinter der | |
vietnamesischen Urbanisierungsstrategie steht und dass sich deren Exzesse | |
allesamt damit erklären lassen. Warum sollte es sonst so einfach für | |
Investoren sein, eine Genehmigung für die Umwandlung ihrer ursprünglichen | |
Projekte zu erhalten und statt einer Fabrik eine Villensiedlung zu bauen, | |
die versprochene Infrastruktur bestenfalls teilweise bereitzustellen oder | |
alle Umweltauflagen zu ignorieren? | |
Die Bestechlichkeit der Beamten, die sich ihre wertvollen Stempel teuer | |
bezahlen lassen, ist strukturell: Viele Akteure auf dem Immobilienmarkt | |
sind staatliche Unternehmen, an denen hohe Parteifunktionäre oder Leute mit | |
einem engen Draht zu Mitgliedern der kommunistischen Elite die Anteile | |
halten. Bei den privaten vietnamesischen oder ausländischen Investoren ist | |
es grundsätzlich schwierig, klassische Bestechung in Form von Umschlägen | |
mit Bargeld oder teuren Geschenken nachzuweisen. | |
Kimberly Kay Hoang von der University of Chicago gelang es dennoch, von | |
rund hundert vietnamesischen und ausländischen Investoren vertrauliche | |
Stellungnahmen zu bekommen. Das Ergebnis ist aufschlussreich und belegt | |
nachdrücklich das Ausmaß des Phänomens.7 „In diesem Land dreht sich alles | |
um die richtigen Beziehungen“, sagt einer. „Gewinner (auf dem | |
Immobilienmarkt) sind diejenigen, die ihre Beziehungen spielen lassen | |
können. Dafür muss man etwas springen lassen. Du zahlst ein | |
Bestechungsgeld, um das Land zu bekommen, und dann zahlst du jedes Mal, | |
wenn sie kommen, um deine Baustelle zu inspizieren.“ | |
## Die alltägliche Korruption | |
„Niemand respektiert das Gesetz in diesem Land“, ergänzt ein anderer. „D… | |
einzige Weg, Geld zu verdienen, ist, die richtigen Leute zu kennen. Wenn | |
man aus dem Westen kommt, denkt man, es ist falsch, einen Beamten zu | |
bestechen. Aber so läuft es nun mal in Vietnam. Man muss sich vor Augen | |
halten, dass ein hoher Beamter umgerechnet nur 200 oder 300 Dollar im Monat | |
verdient. Wie soll er davon leben? Wir bezahlen ihn nur dafür, dass er | |
einfach seinen Job macht.“ In der [1][Korruptionsrangliste von Transparency | |
International] rangiert Vietnam auf Platz 107 von 180 Ländern. | |
Dass korrupte Politiker und Beamte ihnen ihr Land stehlen, ist schon | |
schlimm genug, aber es macht die Bauern noch wütender, wenn sie | |
anschließend feststellen, dass weder sie noch ihre Kinder dafür wenigstens | |
die versprochenen Arbeitsplätze bekommen. Entweder weil die Fabrik oder das | |
Hotel lieber andere, besser qualifizierte Mitarbeiter einstellen will oder | |
weil das angebliche Projekt, das Arbeitsplätze schaffen sollte, ein bloßer | |
Fall von Immobilienspekulation ist. „Die vietnamesische Industrie | |
jedenfalls ist nach wie vor schwach und kann niemals all diese neuen | |
arbeitslosen Bauern aufnehmen“, sagt Dao The Anh, Agrarökonom an der | |
Vietnamesischen Akademie der Agrarwissenschaften. | |
Die Umweltverschmutzung ist ein weiterer Grund für die große Wut. Im | |
Badeort Sam Son im Norden des Landes kämpften die Fischer lange darum, 300 | |
Meter Strand für ihre Fischerboote zu behalten. Eines der größten | |
Unternehmen des Landes, die FLC-Gruppe, plante dort eine riesige | |
Ferienanlage mit einem Fünfsternehotel, Bungalows und Golfplatz. Die Anlage | |
ist seit zwei Jahren geöffnet, „aber wir demonstrieren weiterhin vor dem | |
Volkskomitee, weil sie das ganze Abwasser direkt ins Meer leiten“, erzählt | |
uns eine Gruppe Fischer, die wir am Strand getroffen haben. „Heute gibt es | |
weniger Fische, und die, die es noch gibt, sind krank.“ | |
## Vergiftetes Wasser | |
In den Verträgen verpflichten sich die Unternehmen immer zum Schutz der | |
Umwelt, dennoch häufen sich die Fälle von Umweltverschmutzung. Denn für | |
eine Konformitätsbescheinigung reicht es aus, dem Kontrolleur einen | |
Umschlag zuzustecken oder der Frau seines Vorgesetzten eine luxuriöse | |
Hermès-Handtasche zu offerieren, wie es einer der Informanten von Kimberly | |
Kay Hoang darstellt. 2016 hatte die Entdeckung von tausenden toten Fischen | |
an der Küste von Hue infolge der Einleitung von Abwässern des | |
Formosa-Stahlwerks landesweit zu einer Welle von Demonstrationen geführt. | |
Die Regierung, die dem taiwanesischen Unternehmen sehr vorteilhafte | |
Konditionen gewährt hatte, versprach, die Verursacher der Katastrophe | |
„hart zu bestrafen“. | |
Das Fehlen einer unabhängigen Presse schürt die Gerüchteküche. „Man hört | |
von vielen Lokalpolitikern, dass sie bestechlich seien“, sagt die | |
pensionierte Hochschullehrerin Lien, die auf Facebook sehr aktiv ist. | |
„Aber das Schlimmste ist die chinesische Invasion! Hinter allen großen | |
vietnamesischen Unternehmen steht chinesisches Geld. Sie kaufen ganze | |
Küstenabschnitte auf, die strategisch entscheidend für unsere | |
Landesverteidigung sind. Dass die Regierung nichts dagegen unternimmt, | |
liegt offensichtlich daran, dass sie dicke Umschläge erhält.“ Solche kaum | |
nachprüfbaren Aussagen kursieren in privaten Gesprächen genauso wie in den | |
sozialen Netzwerken. | |
Die Folgen dieser ganz auf Urbanisierung setzenden Entwicklungspolitik | |
beschränken sich nicht auf ländliche Aufstände oder ein Wiederaufflammen | |
der alten Angst vor den „chinesischen Invasoren“. Die Geografin Fanchette | |
gibt zu bedenken, dass die dicht besiedelten Teile Vietnams allesamt nur | |
knapp über dem Meeresspiegel liegen. „Der Boden ist derart zubetoniert, | |
dass damit ein enormer Entwässerungsaufwand einhergehen müsste, aber das | |
ist keineswegs der Fall. Jeder etwas kräftigere Monsun kann heutzutage eine | |
schreckliche Katastrophe auslösen.“ Laut der NGO Germanwatch steht Vietnam | |
wegen der zunehmenden Fragilität seines Ökosystems inzwischen auf Platz | |
fünf der am stärksten vom Klimawandel betroffenen Länder. | |
## Die Bäuerin putzt für die neue Mittelschicht | |
Angesichts der Unzufriedenheit der enteigneten Bauern versuchen es die | |
Behörden nun vielfach mit Dialog. Die Bewohner des betroffenen Dorfs werden | |
zu einem Treffen mit von der Partei entsendeten Vermittlern eingeladen, die | |
ihnen die immer gleichen paternalistischen Vorträge halten: „Sie müssen | |
vernünftig sein. Wir bitten Sie, die Interessen von Staat und Unternehmen | |
mit ihren eigenen Interessen in Einklang zu bringen. Wir alle arbeiten | |
gemeinsam an der Modernisierung des Landes. Haben Sie Verständnis. Die | |
Behörden des Bezirks vertreten die Interessen der Bewohner.“8 Zwar lassen | |
sich die Demonstranten auf diese Weise nur selten befrieden. Aber die | |
Regierung kann auf die Unterstützung einer wachsenden Mittelschicht zählen, | |
die von dieser Politik ohne größere Gewissensbisse profitiert. | |
Eines der prägnantesten Beispiele ist Hanois neuer vornehmer Stadtteil | |
Ecopark, erbaut nach jahrelangem Widerstand der ehemaligen Dorfbewohner, | |
die schließlich von der Polizei mit Schlagstöcken vertrieben wurden. „Eines | |
Tages erzählte mir meine Putzfrau, dass unsere Villa auf dem Gelände des | |
Bauernhofs errichtet wurde, von dem man sie vertrieben hat“, gibt Frau | |
Phuong zu. Die junge Frau besitzt eine kleine Blumenhandelskette. Seit zwei | |
Jahren lebt sie in Ecopark in einem 190 Quadratmeter großen Haus mit | |
Garten. „Ich habe mich ein wenig geschämt, aber was kann ich machen?“ Der | |
30-jährige Herr Thanh, leitender Manager einer Kommunikationsfirma, nimmt | |
kein Blatt vor den Mund: „Für mich sind diese Bauern Hindernisse für den | |
Fortschritt. Wenn wir uns entwickeln wollen, muss man Kollateralschäden in | |
Kauf nehmen.“ | |
Die großen westlichen Demokratien beglückwünschen Vietnam für seine | |
jährlichen Wachstumsraten von 6 bis 7 Prozent in den letzten zwei | |
Jahrzehnten9 und seine unbestrittenen Erfolge bei der Armutsbekämpfung. | |
Laut Weltbank ist der Anteil derjenigen, die unterhalb der Armutsgrenze | |
(das heißt mit weniger als 3,50 Dollar pro Tag) leben, von 60 Prozent 1990 | |
auf heute weniger als 10 Prozent gefallen. | |
Der Landraub dürfte daher noch eine ganze Weile anhalten, denn er | |
ermöglicht es der lokalen Elite, sich schnell zu bereichern, und bringt | |
hunderttausende junge Landbewohner ohne Ausbildung auf den Arbeitsmarkt. | |
Sie schätzen sich glücklich, für die internationalen Textil-, Elektronik- | |
und neuerdings auch Autokonzerne arbeiten zu dürfen, die sich gerade | |
deswegen in Vietnam niederlassen, um von der großen Masse billiger | |
Arbeitskräfte zu profitieren.10 | |
So massiv der Widerstand der Bauern auch sein mag, am Ende stehen sie stets | |
als Verlierer da. Bestenfalls können sie ein paar Projekte hinauszögern. | |
Über das ganze Land verstreut, ohne legale Möglichkeit, sich als Bewegung | |
zu organisieren, erscheint der Widerstand angesichts der Macht des Staats | |
schwach. Aufgrund der staatlichen Kontrolle der Medien bleibt nur Facebook, | |
um regional oder national zu mobilisieren. Die Behörden sind sich dessen | |
bewusst und verhaften immer wieder Bürger, die im Internet agitiert hätten. | |
Im April 2018 zählte Amnesty International „mindestens 97 politische | |
Gefangene“, was der Organisation zufolge „sicherlich weit unter den realen | |
Zahlen“ liegt. Seit dem 1. Januar 2019 schreibt ein neues Gesetz vor, dass | |
Internetplattformen innerhalb von 24 Stunden alle Kommentare entfernen | |
müssen, die als „Bedrohung für die nationale Sicherheit“ erachtet werden. | |
1 Marie Gibert und Juliette Segard, „L’aménagement urbain au Vietnam, | |
vecteur d’un autoritarisme négocié“, Justice spatiale, Nr. 8, Juli 2015, | |
www.jssj.org. | |
2 Siehe Martine Bulard, „Onkel Hos Soldaten an der Wirtschaftsfront“, LMd, | |
April 2017. | |
3 Siehe Xavier Monthéard, „Stadt des aufsteigenden Drachen“, LMd, April | |
2010. | |
4 Der Widerstand der Dorfbewohner von Viem Dong war 2009 Gegenstand des | |
Dokumentarfilms „À qui appartient la terre?“ von Doan Hong Le. | |
5 Sao: altes vietnamesisches Flächenmaß, entspricht 720 Quadratmeter. | |
6 Dieser Krieg begann am 17. Februar 1979 mit dem Einmarsch chinesischer | |
Truppen in den Norden Vietnams und endete einen Monat später, am 16. März. | |
7 Kimberly Kay Hoang, „Risky Investments: How local and foreign investors | |
finesse corruption-rife emerging markets“, in: American Sociological | |
Review, Nr. 4, Los Angeles, August 2018. | |
8 Aus dem Film „À qui appartient la terre?“ (siehe Anmerkung 4). Die | |
Äußerungen stammen vom Vizepräsidenten des Bezirks Viem Dong. | |
9 Siehe Jean-Claude Pomonti, „Moderne, pragmatische, korrupte Kommunisten“, | |
LMd, Februar 2007. | |
10 Vietnam ist der zweitgrößte Handyexporteur der Welt, allein mehr als die | |
Hälfte der Samsung-Smartphones werden dort zusammengebaut. Siehe dazu „Why | |
Samsung of South Korea is the biggest firm in Vietnam“, The Economist, | |
London, 12. April 2018. | |
Aus dem Französischen von Nicola Liebert | |
16 Feb 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.transparency.de/cpi/cpi-2017/ | |
## AUTOREN | |
Pierre Daum | |
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