| # taz.de -- Umgang mit Tieren: Rinder in Rente | |
| > Jan Gerdes und Karin Mück haben ihren Bauernhof zu einem Altersheim für | |
| > Tiere umgebaut. 34 Kühe verbringen auf Hof Butenland ihre letzten Jahre. | |
| Bild: Sicher vor dem Schlachter: Kuh auf Hof Butenland. | |
| BUTJADINGEN taz | Sie sind schon alt, sonst wären sie jetzt nicht hier. Sie | |
| haben ihre Leistung erbracht, und als ihre Kraft nachließ, da sollten sie | |
| weg, Klara, Käthe und all die anderen. Da draußen gab es kein Leben mehr | |
| für sie. Dieser Ort aber ist anders. Hier können sie bleiben. | |
| Sie sind viele – braune, schwarzbunte. 34 Kühe stehen in dem Gehege | |
| seitlich des Hofes. Im Sommer können sie frei über die 40 Hektar laufen, | |
| die zum Hof Butenland auf der Halbinsel Butjadingen gehören, von ihrem | |
| Stall bis herunter an den Deich. | |
| Aber jetzt perlt Regen über ihr Fell und der Wind schiebt grafitgraue | |
| Wolken über die Herde. Ringsum breitet sich flaches Land aus, feuchtbraune | |
| Erde, Wiesen, hier und da Bäume, Bauernland im Norden von Niedersachsen, | |
| das mit 820.000 Kühen nach Bayern das wichtigste Milchland in Deutschland | |
| ist. | |
| Der Hof sieht aus, wie Bauernhöfe in Kinderbüchern aussehen, gemauert aus | |
| rotem Backstein, mit grün lackierten Holztüren. „Kuhaltersheim“ steht auf | |
| dem Schild an der Fassade. | |
| ## Neugierige Tiere | |
| Aus der Haustür kommt eine zierliche Frau, 58 Jahre alt, die ihre blonden | |
| Haare unter eine Wollmütze gesteckt hat. Karin Mück steuert auf das Gehege | |
| zu; die Mastkuh Chaya reckt ihr die Nase entgegen, schmiegt ihren wuchtigen | |
| Kopf an die Schulter der Frau. Sie lächelt, ein feines Netz aus Fältchen | |
| prägt sich in ihr Gesicht. „Kühe“, sagt sie, „sind so unglaublich | |
| neugierig.“ | |
| Nicht nur Kühe leben auf dem Hof, sondern auch fünf Schweine, vier Pferde, | |
| sechs Katzen, drei Hunde, elf Kaninchen, 20 Enten, 40 Hühner, sechs Gänse. | |
| Sie stammen aus Agrarbetrieben, Mastanlagen und haben ihr Leiden von dort | |
| mitgebracht, kaputte Gelenke, Krankheiten, Körper, die nie für ein langes | |
| Leben gedacht waren. „Viele denken, das ist hier eine heile Welt. Aber es | |
| ist wie in einem Altersheim für Menschen“, sagt Mück. „Es kommen immer | |
| wieder Entscheidungen, Zweifel und Situationen, wo wir an Grenzen stoßen.“ | |
| Karin Mück hat viel mit der Pflege erkrankter Tiere zu tun. Der Tierarzt | |
| muss ständig kommen, um malade Kühe und Schweine zu behandeln. | |
| ## Verdiente Altersruhe | |
| Am Zaun taucht Jan Gerdes auf, ein schlanker, hochgewachsener Mann, 59 | |
| Jahre alt. Gerdes ist auf dem Hof geboren; zusammen mit Mück hat er den | |
| Milchbetrieb seines Vaters vor rund zehn Jahren in einen Gnadenhof | |
| umgewandelt. „Gnadenhof sagen wir nicht“, sagt er, „Gnade bedeutet | |
| unverdiente Milde.“ | |
| Mück und Gerdes sind etwas unruhig. Sie wissen, dass in der Nachbarschaft | |
| eine Treibjagd ansteht. Bisher mussten sie die Jagd auf ihrem Land | |
| zulassen. Nun aber gibt es ein neues EU-Gesetz, wonach es möglich ist, aus | |
| ethischen Gründen ein Verbot zu erwirken. Gerdes hat den Antrag gestellt. | |
| Aber die Behörden haben noch nicht entschieden. „Die Jäger hatten zugesagt, | |
| unser Land nicht mehr zu betreten“, sagt er, „nun werden wir sehen, ob sie | |
| sich dran halten.“ | |
| Dann dreht er sich um und verschwindet im Dunst über den Wiesen. Gerdes ist | |
| ein scheuer Typ, der nicht gern große Worte macht. Karin Mück kann | |
| stundenlang über die Tiere erzählen. | |
| Da ist zum Beispiel Alma, die als einzige von 180 Kühen auf einem Hof | |
| überlebte, der von Botulismus befallen war, einer bakteriellen Vergiftung. | |
| Oder Samuel, der wurde in einer Garage neben einer Pizzeria gefunden. Die | |
| Inhaber wollten sein Fleisch den Gästen servieren. Kühe könnten bis zu 30 | |
| Jahre alt werden, sagt sie, „aber das wird keine mehr“. Die älteste Kuh | |
| hier ist derzeit Mathilde, mit 17 Jahren. | |
| ## Ahnengalerie mit Huhn | |
| Aber es geht Mück und Gerdes nicht nur darum, einzelne Tiere zu retten. Sie | |
| sehen sich auch als Wegbereiter einer neuen Weltordnung, oder, wie sie es | |
| sagen, „einer neuen Kuhltur“. Sie verstehen ihre Arbeit als Kritik an einer | |
| Agrarindustrie, wo die Kühe jedes Jahr ein Kalb gebären müssen, damit sie | |
| nie aufhören, Milch zu geben. Nach der Geburt werden Mutter- und Jungtier | |
| sofort getrennt. Mit etwa fünf Jahren sind sie so ausgezehrt, dass sie sich | |
| nicht mehr rentieren. Dann werden sie geschlachtet. | |
| Auf Hof Butenland haben Mück und Gerdes eine kleine Idylle geschaffen, in | |
| dem die Gesetze von Kosten und Ertrag nicht gelten. Doch immer wieder | |
| müssen sie Abschied nehmen. Auf ihrer Website ist eine Galerie | |
| eingerichtet, mit den Tieren, die hier gestorben sind. Das Huhn Luna, das | |
| ging an seinem eigenen Gewicht zugrunde, weil Masthennen darauf | |
| hingezüchtet sind, so schnell zu wachsen, dass ihre Knochen es nicht | |
| verkraften. „Sie liebte Musik“, steht unter dem Bild, „sie unterhielt uns | |
| mit ihrem gackernden Gesang, ihrer Fröhlichkeit.“ | |
| Das klingt natürlich alles etwas überspannt. Aber zugleich artikulieren | |
| Mück und Gerdes drängende, aktuelle Fragen. Ist es richtig, Tiere zu reinen | |
| Nutzfaktoren zu machen, nur damit die Kühltheken bei Aldi und Lidl immer | |
| voll sind? Wie musste ein Huhn leben, wenn sein Fleisch für zwei Euro pro | |
| Kilo angeboten werden kann? „Früher wurde unser ,Kuscheltierschutz‘ oft | |
| belächelt“, sagt Mück; inzwischen aber kriegt der Hof viel Zuspruch. Rund | |
| 1.000 Leute haben Tierpatenschaften übernommen. Mück und Gerdes leben schon | |
| lange vegan, sie haben verfolgt, wie aus einem Nischenthema eine Bewegung | |
| wurde, die sich nun zunehmend etabliert. | |
| ## Streit mit den Jägern | |
| Nur mit den Bauern ringsum gibt es Spannungen. „Wenn einen jemand aus den | |
| eigenen Reihen kritisiert – das ist schwer. Jan gilt als | |
| Kollegen-Anscheißer.“ | |
| Der nasse Morgen geht in einen trüben Mittag über, als die niedersächsische | |
| Realität in ihre Utopie einbricht: Eine Gruppe Jäger, Gewehre in der Hand, | |
| streift durch die Wiesen. Gerdes steht am Fenster. „Da sind sie“, sagt er, | |
| dann eilt er nach draußen. | |
| Mück sagt, sie will nicht auftreten wie ein rechthaberischer Gutmensch. | |
| „Uns ist wichtig, mit denen im Gespräch zu bleiben. Wir wollen doch was | |
| bewirken.“ Nur ist das nicht leicht. Nach wenigen Minuten ist Gerdes wieder | |
| da. Es gab Streit mit den Jägern, er greift zum Telefon und wählt die | |
| Nummer seines Anwalts. | |
| Mück seufzt leise und beginnt, Auberginen und Kohlrabi zu schneiden, Futter | |
| für die Kaninchen. Sie hebt den Kopf, als sich von draußen Schritte nähern. | |
| ## Melker kauft Kuh | |
| Steffen Bunk, ehemaliger Melker aus Thüringen, zieht seine Gummistiefel aus | |
| und setzt sich ins Wohnzimmer. „Wo meine Mädels noch gelebt haben, war ich | |
| öfter hier“, sagt er leise, die Sache mit Gisela und Penelope setzt ihm bis | |
| heute zu. 15 Jahre lang hatte er die beiden gemolken. | |
| Sein Chef gab ein großes Fest, als Gisela 2010 die 100.000-Liter-Marke | |
| erreichte. Zwei Jahre später sollte sie zum Schlachter. „Wie kann man nur | |
| so undankbar sein“, ruft Bunk. Er kaufte die beiden und brachte sie auf Hof | |
| Butenland. Gisela lebte noch bis 2012, Penelope verstarb 2013. Bunk wurde | |
| Vegetarier und kündigte seine Stelle, er arbeitet jetzt als Fensterputzer. | |
| „Kühe werden behandelt wie Autos. Wenn sie alt werden, sollen sie weg“, | |
| sagt er. „Aber Tiere sind keine Autos, sondern Lebewesen.“ | |
| Weltweit essen die Menschen 300 Millionen Tonnen Fleisch im Jahr; bis 2050 | |
| sollen es 470 Millionen sein, sagt der Fleischatlas 2014 der | |
| Heinrich-Böll-Stiftung voraus. Allein in Deutschland werden jeden Tag mehr | |
| als zwei Millionen Tiere geschlachtet. | |
| „Ich weiß auch, der Abdecker fährt jede Woche hier vorbei“, sagt Karin | |
| Mück. „Da ist es wichtig, dass man seine Arbeit und Energie richtig | |
| einsetzt.“ Ihr kommt es darauf an, den Spaß zu behalten, nicht zu | |
| verbittern. | |
| Karin Mück hat 25 Jahre lang als Krankenschwester gearbeitet. In den 80ern | |
| brach sie in Versuchslabore ein, befreite die Tiere, zerschlug das | |
| Inventar. Dann wurde sie verhaftet. Wegen Verdacht auf „Bildung einer | |
| terroristischen Vereinigung“ verbrachte sie einige Monate im Gefängnis. | |
| ## Kurz davor, aufzugeben | |
| Jan Gerdes hatte nie vor, den Hof zu übernehmen. Er hat sich ins Esszimmer | |
| gesetzt; der Hund Mastercard, blind, taub, dement, tapst aus der Küche | |
| herein. In Braunschweig hatte Gerdes ein Lehramts-Studium begonnen, doch | |
| als sein Vater krank wurde, zog es ihn zurück. Er machte seinen Meister als | |
| Landwirt, und nach dem Tod des Vaters baute er den Betrieb zum Bio-Hof um. | |
| Trotzdem musste er den Kühen ihre Kälber wegnehmen. Gerdes konnte damit | |
| nicht leben. Er war kurz davor, alles aufzugeben. | |
| Dann lernte er Karin Mück kennen. Die sagte: „Bist du verrückt, hier | |
| wegzugehen.“ | |
| Gemeinsam entwickelten sie die Idee mit dem Kuhaltersheim. Heute finanziert | |
| sich der Hof aus Spenden, der Vermietung der zwei Ferienwohnungen auf dem | |
| Hof, EU-Zulagen und den Erträgen eines kleinen Windrads. Sie verkaufen | |
| bedruckte T-Shirts, Kalender, Mück hat ein veganes Kochbuch herausgebracht. | |
| Alles in allem reicht es gerade. | |
| Mück bringt Kaffee und eine Schüssel mit aufgeschäumter Sojamilch an den | |
| Tisch. Ein Nachbar stapft über den Hof; Bernd Spenglers Michbetrieb liegt | |
| ganz in der Nähe. „Die meisten hier halten die für Spinner“, sagt er. „… | |
| bin der einzige, der das vegane Kochbuch gekauft hat.“ | |
| ## Ratschläge unerwünscht | |
| Spengler will sich mit allen seinen Nachbarn gut verstehen. Sein richtiger | |
| Namen soll nicht preisgegeben werden; er will nicht zwischen die Fronten | |
| geraten. „Ich find das okay, wenn einer seine Sache macht.“ Nur die | |
| Ratschläge der beiden sind ihm manchmal zu viel, sagt er. „Dass sie ein | |
| Ärgernis sind, haben sie sich auch selbst zu verdanken.“ | |
| Die Jäger haben sich inzwischen in einer Gaststätte niedergelassen. Im Flur | |
| liegen drei tote Hasen; auf dem Tisch steht eine Flasche Korn. Auf den | |
| Konflikt mit Gerdes angesprochen, verschließen sich ihre Gesichter. „Wir | |
| haben das Recht, die Flächen zur Jagd zu nutzen“, sagt ein Mann, „und das | |
| werden wir auch tun.“ Zumindest, bis über das Verbot entschieden ist. | |
| Der Regen hat etwas nachgelassen, Karin Mück durchquert den Obstgarten | |
| hinter dem Stall. Im dämmrigen Halblicht zeichnet sich das Kaninchengehege | |
| ab. Die Mastsäue Erna und Else, die zwischen den Wurzeln schnüffeln, sie | |
| sind nur als helle Schemen zu erkennen. Mück schweigt einen Moment. „Wir | |
| leben hier ein gutes Leben und mir ist es egal, was die anderen von mir | |
| denken“, sagt sie dann, „es ist Freiheit.“ | |
| 16 Jan 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Gabriela Keller | |
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