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# taz.de -- Braunbären in Rente: Ruhe, Fett und Medizin
> Sie sind den Zwingern, Minizoos und Zirkusmanegen entkommen – an der
> Mecklenburger Seenplatte genießen 16 Braunbären ein naturnahes Altenteil.
Bild: Vater Siggi und Sohn Balou (r.) beim Verdauungsspaziergang
Stuer taz | Vor dem Frühstück braucht Siggi sein Arthrose-Mittel. Seine
Knochen machen ihm zu schaffen, auch die Arterien und die Zähne, manchmal
noch der Magen. Die Medizin nimmt er im Honigbrötchen zu sich. Anders
brauche man es gar nicht erst probieren, sagt Tierpflegerin Sabine
Steinmeier, die wie an jedem Morgen die Bären im Bärenwald Müritz zusammen
mit ihren Kolleginnen versorgt.
Siggi ist einer von 16 Braunbären, die auf dem 16 Hektar großen Areal aus
Wald, Wiesen und Wasser im Südwesten der Mecklenburgischen Seenplatte
leben. Über den Baumkronen ziehen die letzten Zugvögel in Schwärmen
Richtung Süden, ihr Schnarren ist das lauteste Geräusch, während die
wuchtigen Bären mit ihrem muskulösen steilen Buckel vor allem durch ihr
leises Auftreten und die ruhigen sanften Bewegungen überraschen. Alle sind
ehemalige Zirkus- oder Zoobären. Sie kamen meist aus Betongehegen und
Zwingern in das naturnahe Projekt der internationalen
Tierschutzorganisation „Vier Pfoten“, den Bärenwald Müritz.
Steinmeiers braune Augen verharren geduldig auf dem Honigbrötchen, bis
Siggi den Snack mit dem Maul schnappt und mitsamt dem untergemischten
Grünlippmuschel-Extrakt auffuttert. „Tiere in Gefangenschaft werden oftmals
viel älter als ihre frei lebenden Artgenossen. Mit dem Alter kommen auch
Krankheiten, dazu machen sich die Spuren der katastrophalen früheren
Haltungsbedingungen bemerkbar“, sagt die 53-Jährige.
Steinmeier kennt selbst auch „die andere Seite“, etwa aus ihrer
Ausbildungseinrichtung, in der damals vier Bären in Käfigen lebten. Für
ihren jetzigen Job ist sie vor neun Jahren aus Solingen an die Müritz
gezogen, weil sie „genau in diesem Projekt“ arbeiten wollte. Inzwischen ist
die Frau mit den rötlichen Locken und den hellen Leberflecken auf den
runden Wangen Chef-Tierpflegerin im Bärenwald.
## Trauben, Nüsse, Kohlköpfe
Unmittelbar vor die Schnauzen der Bären servieren die Tierpflegerinnen nur
die getarnte Medizin. Das restliche Futter verstecken und verstreuen sie
querfeldein im Gehege. Mit Schaufeln pfeffern sie Äpfel, Birnen,
Zwetschgen, Trauben, auch Nüsse, Avocados und Brötchen ins neblige
Dickicht. Kohlköpfe kugeln oben auf der vollgeladenen Schubkarre hin und
her, die sie über den teils glitschigen Waldboden schieben. Die Futtermenge
ist beeindruckend, auch wenn sie wegen der bevorstehenden Winterruhe schon
reduziert ist, um den natürlichen Jahresrhythmus einzuhalten.
Mehr als 70.000 Euro kostet das Bärenfutter jährlich. Vier Fünftel der
Nahrung ist vegetarisch, etwa ein Fünftel besteht aus Fleisch und Fisch –
im Bärenwald reicht nahezu das Unfallwild von den umliegenden Förstereien:
„Je mehr es stinkt, desto lieber mögen es die Bären“, sagt Steinmeier, die
die toten Tiere auch oft selbst mit dem Transporter abholt.
Während die Tierpflegerinnen im Großgehege unterwegs sind, wartet Bär Siggi
zusammen mit seinem viel bulligeren Sohn Balou in einem separaten
Vorgehege. Es ist wie alle Bärenareale mit Maschendraht- und Stromzaun
gesichert, durch den auch die Besucherinnen und Besucher von den Tieren
getrennt sind. Einige der Bären haben sich ihr Fettpolster zugelegt und
befinden sich schon in Winterruhe. Ihre Körpertemperatur sinkt um etwa 5
Grad, ihr Herz schlägt nur noch 8 Mal statt der normalen 40 Mal in der
Minute. So können Braunbären bis zu sieben Monate ohne zu urinieren und zu
koten, ohne Nahrung und Flüssigkeit verharren. An dem Protein, dass diesen
verlangsamten Stoffwechsel ermöglicht, ohne die Organe zu schädigen, ist
auch die Forschung interessiert.
## Vater und Sohn
Die Bären Siggi und Balou bauen sich noch keine Winterhöhlen, wie sie in
den Gehegen der anderen Tiere teils schon gut zu erkennen sind. Bärin Hanna
hat sich etwa mit ihren Pranken eine sechs bis sieben Meter weite Höhle
schräg in die Erde gegraben und mit Stroh ausstaffiert, das ihr jetzt am
Hintern klebt, als sie lethargisch über die Lichtung trottet.
Siggi und Balou bevorzugten in den vorherigen Wintern stattdessen eine
Betonröhre – eigentlich eines ihrer Spielgeräte – als Rückzugsort. Währ…
des vorherigen milden Winters machten sie keine klassische Winterruhe, was
nicht ungewöhnlich ist für die wetterfühligen und individualistischen
Braunbären. Steinmeier kennt all diese Details und Geschichten aus dem
Bärenreich, sie könnte wohl ihre Uhr stellen nach ihren Müritzer Bären.
Sobald die Tierpflegerinnen die morgendliche Ration verteilt haben, können
Siggi und Balou zurück in ihr Revier und nach ihrem Futter suchen – in der
freien Natur stöbern Braunbären bis zu 16 Stunden täglich nach Futter und
legen dabei bis zu 40 Kilometer zurück. „Für wild geborene Tiere wäre die
Gehegehaltung nicht das Richtige, es fehlt der Platz und die Menschennähe
macht ihnen Stress. Für die ehemals gefangenen Bären ist es mit das Beste,
was es gibt“, sagt Steinmeier, deren goldene Delfinohrringe beim Gang zum
nächsten Gehege hin und her wackeln.
## Großwildtiere im Zirkus
„Es ist schon beeindruckend, wie viel Platz die Bären in freier Wildbahn
benötigen. Und es ist einfach nur grotesk, sie in Zoos und Zwingern
unterzubringen“, sagt Carsten Hertwig in seiner nüchternen Art. Dass es in
Deutschland nach wie vor erlaubt ist, Großwildtiere in Zirkusbetrieben zu
halten, verärgert ihn. Der 50-Jährige leitet den Bärenwald seit der
Eröffnung vor zehn Jahren als Geschäftsführer. Meist ist es er, der
Forstwissenschaftler, der mit den Tierhalterinnen und -haltern verhandelt,
sie überzeugt, die Bären abzugeben.
Hertwig und Steinmeier kennen die Ticks, die die Bären in der betonierten
oder ausgelatschten Enge bestimmen. Bevor die Bären umziehen, werden sie
intensiv beobachtet: Sie laufen rastlos im Kreis, werfen ihren Kopf umher,
masturbieren übermäßig, hüpfen auf der Stelle oder verletzen sich. Diese
immer gleichen, sinnlosen Verhaltensmuster werden als Stereotypien
bezeichnet. „Bei manchen Bären hatte das wahnsinnige, wirklich ganz
gruselige Dimensionen“, sagt Hertwig, der für „Vier Pfoten“ auch alle
anderen weltweiten Bärenprojekte koordiniert.
So setzt sich Hertwig auch ein für bulgarische Tanzbären, serbische
„Restaurantbären“, ukrainische „Kampfbären“, die für das Abrichten v…
Hunden missbraucht werden, oder vietnamesische „Gallebären“, denen zur
Herstellung traditioneller Medizin auf Großfarmen der Gallensaft mit
Kanülen abgezapft wird. Auch die albanische Bärin Gjina, die täglich bis zu
20 Liter Bier bekam, bereitete Hertwig auf ihre Befreiung vor. Sein Telefon
hat er auch hier im Bärenwald immer wieder am Ohr. Wie ein Manager rattert
er Reisedaten, Städtenamen, Länder und Zahlen runter. Und er kümmert sich
um eine Baugenehmigung in Vietnam, während er nach oben ins bunt gefärbte
Blätterwerk blickt.
## Lothars Leidensweg
Für Hertwig ging alles los mit Lothar, dem ersten Bären, der im Oktober
2006 an einem Freitag, den 13., an der Müritz ankam. „Das war total neu und
unglaublich spannend, wie er sich entwickelt hat“, sagt Hertwig. Lothar ist
nach dem früheren Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Lothar Späth,
benannt. Denn der im sächsischen Torgau geborene Bär ging 1990 anlässlich
einer Landesgartenschau als Geschenk an die schwäbische Partnerstadt
Sindelfingen. Nach einer Saison im Streichelzoo landete Lothar dann für
fast 16 Jahre in einem Betongehege eines Schwarzwälder Tierparks.
Ein Video an einer der Besucherinnen-Stationen des Bärenparks zeigt, wie
Lothar sich zunächst kaum auf den ihm unbekannten Waldboden traute. Die
Unsicherheit hat er längst abgelegt. „Wie ein Imperator tritt er auf. Wenn
Lothar präsent ist, haben die anderen Bären Schiss“, sagt Tierpflegerin
Steinmeier. Sie weichen vor ihm zurück.
Als Lothar mal bei Wintereinbruch seine Höhle nicht fertig hatte, jagte er
kurzerhand Bärin Sindi aus ihrer Höhle. „Das war ein Gebrüll und Getöse,
wie ich es bis dahin nicht kannte,“ sagt Steinmeier. Am Ende habe sich
Sindi damit begnügt, Lothars Höhle bei Frost und Schnee fertigzubauen.
## Der Käfig im Kopf
„Wie sich die Tiere in der neuen Umgebung verhalten, ist kaum
vorherzusagen“, sagt Steinmeier, die mit Verhaltensprotokollen auch viel
Zeit im Büro verbringt. Das fange schon bei der Ankunft an: Manche hätten
ihre Transportkiste sofort verlassen, eine Bärin erst nach Tagen. „Es ist
ein Luxus, die ganze Entwicklung zu sehen, weil die Bären sich sehr
verändern.“
Manchmal scheint es aber auch, als hole die Bären ihre Vergangenheit ein.
Wie bei Ida. Ihr Fell ist triefend nass, sie muss gerade im Bach gebadet
haben. Jetzt aber läuft sie ganz nah am Zaun auf und ab. Drei Schritte nach
links, eine Wendung mit angehobener Pfote, drei Schritte nach rechts.
Dieses akkurate Nonstop wirkt völlig irre, gibt es doch so viel Platz um
sie herum. Auch wie Bär Michal auf den Hinterbeinen steht und seinen in den
Nacken zurückgelegten Kopf monoton hin und her schwenkt, irritiert.
Clara ist selbst nicht zu sehen, aber ihr kreisrunder Weg im Gehege umso
deutlicher. Sie ist ihn schon so oft gelaufen, dass sie richtige Furchen in
den Boden getrampelt hat. Es ist ihr Tick, den sie aus dem
Mönchengladbacher Tiergarten mitgebracht hat. „Gerade jetzt an den kurzen,
dunklen Tagen, bevor sie in Winterruhe gehen, verstärken sich die alten
Stereotypien meist“, sagt Steinmeier. Doch gegen diesen Käfig im Kopf ist
auch sie hilflos.
23 Nov 2016
## AUTOREN
Andreas Koob
## TAGS
Tierschutz
Mecklenburg-Vorpommern
Bären
Zirkus
Aktivismus
Tierhaltung
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