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# taz.de -- Debatte Lesbarkeit des Grundgesetzes: Die geheime Verfassung
> In diesem Jahr wird das Grundgesetz 65 Jahre alt. Höchste Zeit für eine
> Überarbeitung, damit der Text endlich für Laien wieder verständlich wird.
Bild: Hätte ein sprachliches Update nötig: die Verfassung.
Der Krieg war vorbei, der Faschismus besiegt. Deutschland gab sich eine
neue Ordnung. Seit 1949 gilt das Grundgesetz in Westdeutschland (seit 1990
auch im Osten), in diesem Jahr wird sein 65. Geburtstag gefeiert.
Doch eine Verfassung geht nicht in Rente. Sie muss weiter für die Bürger da
sein. Als Jubiläumsgeschenk und Ertüchtigung sollte man dem Grundgesetz
deshalb ein ordentliches Update verpassen, das die geschriebene Verfassung
wieder auf den Stand des tatsächlichen Verfassungsrechts bringt.
Denn an vielen Stellen hat das Bundesverfassungsgericht das Grundgesetz
längst so weiterentwickelt, dass der wesentliche Inhalt der Verfassung nur
noch mithilfe von Rechtsprechungs-Sammlungen und Grundgesetzkommentaren zu
erkennen ist.
In der Regel war das zwar inhaltlich erfreulich, doch das Grundgesetz wurde
so immer elitärer. Eine Bürgerverfassung sollte aber für alle lesbar und
nachvollziehbar sein und nicht nur für eingeweihte Juristen.
## Verborgene Inhalte
Einige Beispiele für Inhalte des Grundgesetzes, die nicht weiter verborgen
bleiben sollten: Die Menschenwürde (Artikel 1) garantiert inzwischen auch
das Existenzminimum des Menschen. Das Persönlichkeitsrecht (Artikel 2)
schützt längst auch das Recht auf Privatsphäre, das Recht auf das eigene
Bild, das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung und, ganz wichtig, die
informationelle Selbstbestimmung, also den Schutz der persönlichen Daten.
Das Gleichheitsrecht (Artikel 3) schützt inzwischen allgemein vor
staatlicher Willkür. Aus der Rundfunkfreiheit (Artikel 5) hat das
Bundesverfassungsgericht eine Existenzgarantie des öffentlich-rechtlichen
Rundfunks abgeleitet.
Manches kann man sich mit einiger Fantasie denken. Aber wer käme schon
darauf, dass das Eigentumsrecht (Artikel 14) auch den Mieter schützt sowie
die Ansprüche der Beitragszahler an die Sozialversicherung? Genauso
innovativ: Aus dem Wahlrecht (Artikel 38) hat das Bundesverfassungsgericht
einen individuellen Anspruch auf ausreichende Kompetenzen des Bundestags
abgeleitet. Den Parlamentsvorbehalt für Auslandseinsätze der Bundeswehr hat
das Bundesverfassungsgericht 1994 einfach erfunden, um so Akzeptanz für
weltweite deutsche Militäraktionen zu schaffen.
Nicht einmal das wichtigste Instrument des Bundesverfassungsgerichts, das
Verhältnismäßigkeitsprinzip, an dem es fast jedes Gesetz misst, steht im
Grundgesetz. Es stammt aus dem preußischen Polizeirecht und wird erst seit
1958 von den Karlsruher Richtern als verfassungsrechtliche Übermaßkontrolle
gegenüber dem Gesetzgeber und der Verwaltung genutzt.
## Neuerungen klug auswählen
Natürlich kann nicht die gesamte Karlsruher Rechtsprechung der letzten
Jahrzehnte in das schmale Grundgesetz eingebaut werden, wohl nicht einmal
alle wichtigen Urteile. Es müsste also gut ausgewählt werden: Welche
Karlsruher Innovationen sind von breiter Bedeutung? Welche Neuerungen
gingen deutlich über den Wortlaut der Grundgesetzbestimmung hinaus, aus der
sie abgeleitet wurden?
Für die Auswahl könnte eine Verfassungskommission aus PolitikerInnen,
WissenschaftlerInnen und VerfassungsrichterInnen eingesetzt werden. Am Ende
müssten Bundestag und Bundesrat das Update mit Zweidrittelmehrheit
beschließen.
Dies wäre zugleich eine Wiederaneignung des Grundgesetzes durch die
Politik. Es würde dabei deutlich, dass in der Demokratie das Parlament
selbst die Aufgabe hat, das Grundgesetz bei Bedarf weiterzuentwickeln und
es nicht einfach dem Bundesverfassungsgericht zur freien Ausgestaltung zu
überlassen. Die RichterInnen in Karlsruhe sind zwar wichtigster Interpret
des Grundgesetzes, aber nicht seine Eigentümer. Für die grundlegenden
Entscheidungen des Gemeinwesens sind die Abgeordneten auch besser
legitimiert als die 16 Richter in Karlsruhe.
Nun mag mancher befürchten, dass die Karlsruher Rechtsprechung bei einem
derartigen Update nicht eins zu eins in das geschriebene Grundgesetz
übernommen werden würde. Doch das ist Risiko und Chance zugleich.
Einerseits sind Verwässerungen von verfassungsrechtlichen Errungenschaften
zu befürchten. Andererseits gibt es auch zweifelhafte Karlsruher Urteile,
deren Korrektur so oder so ein Fortschritt wäre.
## Kommunalwahlrecht ändern
So wurde 2010 vom Bundesverfassungsgericht die Vorratsdatenspeicherung im
Prinzip akzeptiert. Besser wäre es aber, wenn im Grundgesetz die anlasslose
Massenüberwachung der Bevölkerung ausdrücklich ausgeschlossen wäre.
Korrekturbedürftig ist auch die Karlsruher Entscheidung von 1990 zum
Kommunalwahlrecht. Damals wurde trotz grundgesetzlichem Demokratieprinzip
selbst für Gemeinderäte und Bezirksversammlungen das Wahlrecht von
AusländerInnen ausgeschlossen, weil die Staatsgewalt stets auf das deutsche
Volk zurückgeführt werden müsse. 1992 wurde dies im Grundgesetz (nur) für
EU-AusländerInnen korrigiert. Ein Kommunalwahlrecht für hier lebende
TürkInnen und SchweizerInnen ist aber überfällig.
Zu national fixiert sind auch die Aussagen des Bundesverfassungsgerichts
zur europäischen Integration. Obwohl sich das Grundgesetz zum „vereinten
Europa“ bekennt, hat das Verfassungsgericht 2009 den Beitritt zu einem
europäischen Bundesstaat massiv erschwert, er wäre nur mit einer neuen
deutschen Verfassung möglich. Hier sind bessere Lösungen denkbar, etwa eine
Volksabstimmung unter Beibehaltung des Grundgesetzes.
Nach 65 Jahren gilt das Grundgesetz zu Recht als erfolgreiche Verfassung –
nicht zuletzt dank der engagierten Auslegung durch das
Bundesverfassungsgericht. Diese sichtbar zu machen, sollte ein Gebot der
rechtstaatlichen Transparenz sein. Dass sich aus diesem Update sogar eine
lebendige Verfassungsdiskussion ergeben könnte, sollte nicht nur als
Bedrohung des Status quo, sondern als Gelegenheit für gesellschaftlichen
Fortschritt betrachtet werden. Auch das wäre schließlich ein Geschenk zum
Jubiläum.
19 Jan 2014
## AUTOREN
Christian Rath
## TAGS
Schwerpunkt Grundgesetz
Bürger
Libyen
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Koalitionsverhandlungen
Datenschutz
Staatsangehörigkeit
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