# taz.de -- Medientheoretiker Friedrich Kittler: Stimme aus dem Off | |
> Die postum veröffentlichte Vorlesung „Philosophien der Literatur“ von | |
> Friedrich Kittler ist ein Glücksfall. Selten schrieb er seine Thesen so | |
> elegant auf. | |
Bild: Geisteraustreiber der Geisteswissenschaften: Friedrich Kittler. | |
Mehr als zwei Jahre liegt der Tod des undogmatischen Medientheoretikers | |
Friedrich A. Kittler nun schon zurück. Durch den beinahe zwanghaften Drang, | |
mit dem er „hinter den Rücken der Texte“, hinter die Medien des Denkens – | |
Zahlen, Schrift, Schreibmaschinen, Computer – schauen wollte, drängte er | |
die Germanistik maßgeblich in eine kulturwissenschaftliche Spur. | |
Gerade macht sein [1][taz-Artikel], in dem er bereits 1986 auf die mit der | |
NSA verbundenen Gefahren hinwies, im Internet wieder die Runde. Vergleiche | |
mit Foucault waren in den Nachrufen keine Seltenheit, und wie dieser wurde | |
Kittler Pop, ohne je mit unterkomplexen Angeboten dazu beigetragen zu | |
haben. | |
Gewissermaßen aus dem Off erklingt nun noch einmal Kittlers Stimme mit | |
seiner wahrscheinlich letzten Schrift, „Philosophien der Literatur“. Die | |
2002 in Berlin gehaltene Vorlesung ist ein Glücksfall, schlägt sie doch | |
eine Brücke zwischen dem breit rezipierten Werk des Medienphilosophen und | |
seinem gräkoamourösen Spätwerk, dem selbst hartgesottene Anhänger mit | |
Ratlosigkeit begegneten. | |
Thematisch ist die Vorlesung eine Tour de force durch die | |
Philosophiegeschichte, eine kommentierte Lektüre der Klassiker, immer der | |
Frage nach, wie die Interpretation zu den Texten kam. | |
## Nach den letzten Dingen stochern | |
Selbstredend erfindet Kittler in „Philosophien der Literatur“ die großen | |
literaturphilosophischen Entwicklungen nicht neu: Die Reise geht vom | |
Vorrang der Dichtung vor der Philosophie im alten Griechenland über die | |
Umkehrung dieses Verhältnisses im 18. Jahrhundert durch die Regelpoetiken | |
bis zur gegenseitigen Auflösung ineinander bei Nietzsche, gewissermaßen | |
Bedingung für die heute institutionalisierte Trennung von | |
Literaturphilosophie und Literaturwissenschaft. | |
Doch die Fragestellung allein zeigt, wie genüsslich Kittler noch dort nach | |
den letzten Dingen stochert, wo seine Fachkollegen bereits festen Boden für | |
ihre Gedankengebäude voraussetzen. | |
Natürlich sind letzte Dinge bei Kittler niemals metaphysischer Natur, | |
kokett umschrieb er sein wissenschaftliches Projekt als „Austreibung des | |
Geistes aus den Geisteswissenschaften“. | |
Entsprechend impft Kittler den Lesern seiner Vorlesung mit den ersten | |
Sätzen ein, dass Homer nach Plutarch zwar als Sohn einer Muse und eines | |
Gottes zur Welt kam. Allerdings muss man dabei ein aufgebrezeltes | |
Dorfmädchen und einen als Gott verkleideten Dorfjungen vor Augen haben, die | |
„im Nachvollzug der göttlichen Dinge so weit gehen, dass ihre namenlose | |
Begegnung biologische Folgen für das Mädchen hat“. Der Anfang aller | |
Literatur als feuchtfröhliches Dorffest. | |
Später sollte Homer, dieser Musensohn, so bewegende Gesänge verfertigen, | |
dass die Griechen das Verlangen packte, diese nicht nur inhaltlich, sondern | |
auch in ihrer Musikalität zu speichern. Darum, so Kittler, ergänzten sie | |
das Konsonantenalphabet der Phönizier um Vokale und schufen mit dem | |
Vokalalphabet „die erste und vollständige oder totale Analyse einer | |
gesprochenen oder gar gesungenen Sprache“. | |
So schwer Kittlers historischer Zusammenhang von Literatur und | |
Alphabettechnik nachzuerzählen ist – bei ihm selbst lesen sich die | |
Ausführungen darüber klar und überzeugend. Zwar sind seine Gedanken über | |
das Alphabet als Medium bekannt, selten jedoch hat er sie so sauber und | |
elegant zu Papier gebracht. | |
Mal bestaunt man die gedankliche Brillanz, mit der Kittler die Ästhetik des | |
Aristoteles aus der Alphabetschrift erklärt. Dann amüsiert die polemische | |
Dreistigkeit, mit der die Regelpoetiken des 18. Jahrhunderts mit dem | |
zeitgenössischen Onaniediskurs verknüpft werden. | |
Auf keinem Dorffest der Welt schwängert man die Muse mit | |
Selbstbefriedigung. Den poetischen Keuschheitsgürtel hat erst wieder | |
Goethes Genieästhetik abgelegt, was Kittler unter anderem belegt mit | |
Goethes süffisanter Replik auf die Kritik seines Freundes Knebel, die | |
„Wahlverwandtschaften“ seien leider kein sehr moralischer Roman: „Ich habe | |
ja auch nicht für dich, sondern für die Mädchen geschrieben.“ | |
## Goethe ist angestachelt | |
Apropos Goethe, auch die funkelndste Passage der Vorlesung nimmt den | |
Dichterfürst ins Visier. Als der Junghegelianer Friedrich Wilhelm Hinrichs | |
in einer der ersten Einzeltextinterpretationen überhaupt Goethes „Faust“ | |
auf Hegels „Phänomenologie“ abgebildet hat, „wie ein Schlüsseltext auf | |
seinen Klartext, wie eine poetisch-unbewusste Prophetie aus Weimar auf ihre | |
in Berlin institutionalisierte philosophische Erfüllung“, weist Kittler | |
unnachahmlich nach, wie Goethe dadurch angestachelt die Arbeiten am „Faust | |
II“ aufnahm. | |
Demnach verpasste der alte Goethe der Tragödie zweiter Teil ihre | |
enigmatische Struktur, „nur um von seinen philosophischen Deutern nicht in | |
den Wind geschrieben zu werden“. Solch so unkonventionellen wie zwingenden | |
Schlüsse sind es, die Kittler selbst dann die ungeteilte Aufmerksamkeit | |
seiner Leser erhält, wenn er die gesamte Frühneuzeit als irrelevant | |
abhandelt oder Walter Benjamin unterschlägt. Wobei dieser Gestus der | |
intellektualistischen Unerbittlichkeit immer auch Teil des Faszinosums | |
Friedrich Kittlers gewesen ist, was ihm wahrlich nicht nur Freunde | |
eingebracht hat. | |
Sein Spätwerk „Musik und Mathematik“ wurde als „Hobby-Gräzistik“ abge… | |
in dem Kittler zeige, dass wahrnehmbare Auf- und Ableitungen nicht sein | |
Sache seien. Genau diese schuldete der Professor allerdings seinen | |
lauschenden Studenten, weswegen Kittler in „Philosophien der Literatur“ | |
deutlich verständlicher argumentiert als zuletzt. Somit zeigt diese letzte | |
Publikation Kittler noch einmal in seiner vollen geistigen und | |
schriftstellerischen Potenz. | |
27 Jan 2014 | |
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[1] /taz-Artikel-von-1986-ueber-NSA/!131154/ | |
## AUTOREN | |
Moritz Scheper | |
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