# taz.de -- Krise in der Ukraine: Eine kritische Masse an Toten | |
> „Wir haben uns für immer verändert. Eine Zivilgesellschaft ist geboren!“ | |
> – eine ukrainische Künstlerin zur Lage in Kiew. | |
Bild: Ein Opfer der Zusammenstöße in Kiew wird beerdigt. | |
Eine schwere Zeit zum Schreiben, es fällt mir in dieser Situation nicht | |
leicht. Die Zeit zerreißt auch mich: Der Flughafen Shuljany, wo meine | |
Freunde mit ihren Autos die Zufahrt blockieren, um die Regierungspolitiker | |
an der Flucht zu hindern; versteckte Lazarette, in denen die Verletzten des | |
Maidan untergebracht werden, die weiter in spezielle Kliniken ins Ausland | |
müssten. Diese Lazarette werden rund um die Uhr bewacht werden, denn die | |
Miliz verschleppt verletzte Demonstranten aus Krankenhäusern und | |
Notaufnahmen. | |
Da ich fast ständig am Maidan bin und mich dort oft mit Kleinigkeiten | |
beschäftige, kann ich kaum ein objektives Bild liefern, meine Einschätzung | |
beruht im wesentlichen auf meinen eigenen Erfahrungen, und mir scheint | |
manchmal, dass diese Ereignisse im Internet oder Fernsehen zu beobachten | |
ein Schrecken ganz anderer Art darstellt, als an Ort und Stelle zu sein. | |
In den letzten Tagen ist eine kritische Masse an Toten erreicht worden, die | |
eine unabwendbare Veränderung der Gesellschaft mit sich bringt. Die | |
Menschen kommen nicht nur zum Maidan, sondern gehen auch in den | |
Plattenbausiedlungen auf die Straße, stellen eine Selbstverteidigung | |
zusammen und postieren Wachen, um ihre Stadtviertel, Krankenhäuser, Schulen | |
und Kirchen gegen Schlägerbanden zu verteidigen, die das Regime aus anderen | |
Regionen der Ukraine herbeischafft. | |
Diese sogenannten Tituschky, eigentlich armselige Kleinkriminelle, die | |
entweder gezwungenermaßen oder für wenig Geld Pogrome veranstalten, die | |
friedliche Bürger überfallen und provozieren sollen, hinterlassen eine Spur | |
der Zerstörung. | |
## Also heißt uns wilkommen! | |
Nun war der letzte Abend ruhig, überraschend ruhig. Es wurden nur einige | |
Zufahrten zu Kasernen blockiert und einige angetrunkene Schläger in den | |
Plattenbauvierteln aufgegriffen. Früher wäre so etwas undenkbar gewesen. Da | |
galt: Schrei dir ruhig die Seele aus dem Leib, keiner wäre nachts aus | |
seiner warmen Stube gekrochen, um dir zu helfen. Doch nun ist alles anders. | |
Also heißt uns willkommen! Eine Zivilgesellschaft wird geboren! Die | |
Psychologie einer ganzen Gesellschaft ändert sich. | |
Es gibt zahlreiche Beispiele, dass sich normale Bürger, darunter auch viele | |
Frauen, den bewaffneten Einheiten des Unrechtsstaates entgegenstellen. Doch | |
nun feuern Scharfschützen gezielt auf Sanitäter, Journalisten, Frauen, | |
Jugendliche und ältere Menschen, einfach auf alle, die auf dem Maidan für | |
die eigene Würde und die Menschenrechte protestieren. | |
Die Sondereinheiten haben den Mann meiner Gesangslehrerin getötet, ebenso | |
den Mann einer befreundeten Journalistin sowie den Partner einer | |
befreundeten Übersetzerin, ich könnte die Aufzählung leider fortsetzen. | |
## Nun gibt es nur diesen einen Weg | |
Nachdem ich die Leichen gesehen habe, die mit Decken und ukrainischen | |
Fahnen im Garten des Mychajlowskyj-Klosters aufgebahrt sind, weiß ich, dass | |
ich mich völlig verändert habe, dass wir uns alle von Grund auf verändert | |
haben. | |
Wie konnte es dazu kommen? Wo liegen die Wurzeln des Übels? Und warum gibt | |
es nur diesen einen Weg mit dem Rücktritt von Janukowytsch, mit einer | |
umfassenden Aufarbeitung und Gerichtsverfahren mit all Jenen, denen Blut an | |
den Händen klebt, und mit einer grundlegenden Veränderung des politischen | |
Systems? | |
Die Ukraine ist im Prinzip ein monoethnischer Staat. Der Konflikt lässt | |
sich eher geographisch und kulturell als gesellschaftlich begreifen. Es | |
handelt sich um keinen ethnischen oder religiösen Konflikt. Es geht um | |
zivilisatorische Grundwerte. Es gibt Menschen, die auf die europäische | |
Zivilisation setzen und anderseits Menschen, die sich der „russländischen | |
Welt“ anschließen wollen. Unglücklicherweise leben sie in einem Land | |
zusammen, deren Zukunft sie sich unterschiedlich vorstellen. | |
Wenn das Land eine Regierung hätte, die diese Bezeichnung verdient, dann | |
hätte sie einen Dialog mit den unzufrieden Teilen der Bevölkerung | |
eingeleitet und alles wäre anders gekommen. Doch diese Politelite ist wegen | |
geistiger Beschränktheit zu keinerlei Dialog fähig. Sie genießt die Früchte | |
eines Systems, das in den 1980er Jahren wurzelt, als Gorbatschow den | |
Prozess der Liberalisierung einleitete und damit den Startschuss zur | |
Bildung wirtschaftskrimineller Gruppierungen gab. Diese weiteten ihre | |
Herrschaft allmählich aus und durchfilzten schließlich den ganzen Staat. | |
## Die Miliz ist eine der Verbrecherbanden | |
Teil dieses Filzes ist die Miliz. Die ukrainische Miliz ist bekannt dafür, | |
dass sie widerrechtlich Menschen verhaftet und über die zugelassenen | |
Fristen in Untersuchungshaft hält, wenn ihnen danach ist, verprügeln sie | |
nachts Fußgänger, sie handeln auch mit Drogen, es gibt richtige Preislisten | |
für die Dienstleistungen der Miliz. Dieser Filz legte sich über das ganze | |
Land, aber zuweilen riss er an einer Stelle. | |
So im vergangenen Sommer in der Kleinstadt Wradijwka, in dem ein Mädchen | |
von zwei Milizionären vergewaltigt und anschließend fast tot geschlagen | |
wurde, die Milizionäre ließen das Mädchen im Wald zum Sterben. Wie durch | |
ein Wunder schleppte sie sich aber zum Stadtrand zu den ersten Häusern. Sie | |
bat, nur nicht die Miliz zu rufen, denn die würden sie endgültig umbringen. | |
Es fand ein zwar Verfahren statt, doch das Alibigericht verwarnte die | |
beiden Milizionäre nur und beließ sie auf ihren Positionen. | |
Im Grunde genommen gab es in der Ukraine nie eine Miliz, sondern es gibt | |
nur Verbrecherbanden. Die Miliz ist eine davon. Die Charkiver | |
Menschenrechtsorganisation verzeichnet etliche tausend Fälle, bei denen | |
Menschen widerrechtlich verhaftet und in Untersuchungshaft gehalten wurden, | |
bis ein Lösegeld bezahlt wurde. All das passierte stillschweigend und | |
keiner wehrte sich. | |
Bis vor einem halben Jahr etwa funktionierte bei uns der Instinkt | |
wegzurennen, sobald man einen Milizionär sieht, um der Gefahr entkommen. | |
Doch nun haben die Menschen auf dem Maidan keine Angst mehr. Und es mag | |
pathetisch klingen, wenn wir sagen „Wir verteidigen hier unsere | |
elementarsten Menschenrechte und unsere menschliche Würde“. | |
## Wer sind die Leute auf dem Maidan? | |
Der Maidan besteht nicht aus radikalen Jugendlichen, aus Chaoten, die um | |
der Randale willen da sind. Der Maidan ist das Überbleibsel einer | |
Mittelklasse, Kleinunternehmer, Künstler, Studierende, die zur Verteidigung | |
Steine aus dem Straßenpflaster brechen. | |
Wir verstehen die Sorge wegen der Rechtsradikalen auf dem Maidan. | |
Allerdings ist der sogenannte „Rechte Sektor“ zahlenmäßig vergleichweise | |
schwach. | |
Wie man unsere Miliz nicht mit der europäischen Polizei vergleichen kann, | |
so kann man keine Analogie zwischen unseren „Radikalen“ und den westlichen | |
Radikalen bilden. In der Ukraine herrscht ein anderes Kräfteverhältnis. Im | |
Westen sind die Radikalen eher Gegner einer rechtsstaatlichen Regierung. In | |
der Ukraine kämpfen die Radikalen nicht gegen das Establishment oder eine | |
gesellschaftliche und politische Elite. Die gibt es nicht, denn ihren Platz | |
haben Gangster und Mörder eingenommen. In der Ukraine kämpfen die Radikalen | |
dagegen, dass es keinen Rechtsstaat gibt. | |
Übersetzt von Alexander Kratochvil | |
22 Feb 2014 | |
## AUTOREN | |
Irena Karpa | |
## TAGS | |
Maidan | |
Wiktor Janukowitsch | |
Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Ukraine | |
Julia Timoschenko | |
Ukraine | |
Maidan | |
Ukraine | |
Euromaidan | |
Ukraine | |
Wiktor Janukowitsch | |
Maidan | |
Ukraine | |
Ukraine | |
Ukraine | |
Ukraine | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Grünen-Abgeordnete über Maidan: „Die waren nicht zimperlich“ | |
Marieluise Beck reist als Mitglied des Bundestags regelmäßig in die | |
Ukraine. Die Grüne war auch bei den Protesten auf dem Maidan in Kiew. | |
Ukrainischer Historiker über Timoschenko: „Eine Politikerin der Vergangenhei… | |
Ihr eilt der Ruf voraus, tief in Korruptionsaffären verstrickt zu sein. In | |
der Politik sollte Timoschenko keine führende Rolle mehr spielen, meint | |
Andrij Portnov. | |
Kommentar Umsturz Ukraine: Kritische Solidarität mit dem Maidan | |
Das Regime in Kiew ist Geschichte. Wenn aus der Wut auf Janukowitsch und | |
Konsorten aber eine Hetzjagd wird, könnte das fatale Folgen haben. | |
Ukraine nach dem Umsturz: Zukunft ohne Rache | |
Auf dem Maidan gedenken die Menschen der Opfer der Anti-Terror-Milizen. | |
Doch der Kampf in der Ukraine ist noch nicht vorbei. | |
Wirtschaftliche Lage der Ukraine: Kurz vor dem Bankrott | |
Die Ukraine befindet sich auch ökonomisch in der Krise und ist vom Ausland | |
abhängig. Die EU und der Internationale Währungsfonds wollen helfen. | |
Umsturz in der Ukraine: Opposition krempelt System um | |
Frühestens am Montag soll ein neuer Regierungschef gewählt werden. Die | |
bisherige Regierungspartei sagt sich vom abgesetzten Präsidenten | |
Janukowitsch los. | |
Umsturz in der Ukraine: Interimspräsident gewählt | |
Der Parlamentspräsident und Timoschenko-Vertraute Alexander Turtschinow | |
soll das Land bis zu den Wahlen im Mai führen. 64 Maidan-Demonstranten sind | |
wieder frei. | |
Konflikt in der Ukraine: Es ist noch nicht vorbei | |
Timoschenko ist frei, Janukowitsch des Amtes enthoben, doch der Konflikt in | |
der Ukraine ist deshalb nicht beendet. Noch immer droht Bürgerkrieg. | |
Historiker über ukrainische Rechte: „Nicht der Kern der Bewegung“ | |
An vielen Stellen wird über rechtsradikale Kräfte in Kiew berichtet. Diese | |
Darstellung greife allerdings zu kurz, meint der Historiker Kai Struve. | |
Kommentar Ukraine: Es wird eng für Janukowitsch | |
Noch-Präsident Wiktor Janukowitsch kann die Freilassung Julia Timoschenkos | |
nicht mehr verhindern. Sie ist die einizge, die die Opposition einen kann. | |
Angespannte Lage in Kiew: Buhrufe für Oppositionsführer | |
Janukowitsch hat sich mit einigen seiner Gegner auf einen Übergangsprozess | |
geeinigt. Auch Julia Timoschenko könnte bald frei sein. Doch viele | |
Maidan-Aktivisten wollen mehr. | |
Vorläufige Einigung in der Ukraine: Die Skepsis bleibt auf dem Platz | |
Die Demonstranten auf dem Maidan haben wenig Vertrauen in den von Regierung | |
und Opposition ausgehandelten Kompromiss. | |
Ukrainischer Bürgerrechtler in Lwiw: „Kiew hat keinen Einfluss mehr“ | |
Alik Olisewitsch lebt in der Westukraine. Der Oppositionelle über den | |
Alltag in Lwiw, rechte Kräfte, einbehaltene Steuern und warum der Staat | |
nicht geteilt werden sollte. |