# taz.de -- Ukraine nach dem Umsturz: Zukunft ohne Rache | |
> Auf dem Maidan gedenken die Menschen der Opfer der Anti-Terror-Milizen. | |
> Doch der Kampf in der Ukraine ist noch nicht vorbei. | |
Bild: Trauer um die Opfer: Blumen und Kerzen auf dem Maidan. | |
KIEW taz | Tausende Kiewer Bürger machten sich am Sonntagmorgen auf den Weg | |
zum Maidan, mit Blumen, Kerzen und Lebensmitteln in der Hand. „Du willst | |
nach Europa, aber einer Rentnerin einen Platz anzubieten hast du wohl immer | |
noch nicht gelernt“, faucht eine ältere Dame einen jungen Fahrgast auf | |
Russisch in der U-Bahn an. Unter den missbilligenden Blicken der Nachbarn | |
bietet der Jugendliche ihr sofort seinen Sitzplatz an. Beide haben das | |
gleiche Ziel: Sie wollen am Maidan Blumen für die von der „Berkut“-Einheit | |
getöteten Kämpfer niederlegen. | |
Seit Beginn der Auseinandersetzungen zwischen den Demonstrierenden des | |
Maidan und der Sonderpolizei „Berkut“ bietet das Michaelskloster auf dem | |
Wladimirsberg, nur wenige Meter vom Maidan entfernt, den Demonstrierenden | |
Schutz und Zuflucht. Hier, vor der Kirche, hat die Bewegung ihr | |
Rückzugsgebiet in zahlreichen Zelten. „Wir standen alle schweigend vor dem | |
Lautsprecher hier an der Kirche, als die Abstimmung über die Absetzung von | |
Janukowitsch im Parlament anstand. Und als das Ergebnis feststand, haben | |
wir geweint und gesungen“, berichtet eine ältere Dame. | |
In den Räumen werden Kurse für all die angeboten, die als Sanitäter den | |
Demonstrierenden medizinische Hilfe leisten wollen. „Auf dem Gelände der | |
Kirche herrscht ein Geist von Freiheit, wie ich ihn sonst in unserem Land | |
nicht gespürt habe“, sagt eine Sanitäterin. „Hier kann ich den Geist der | |
Freiheit einatmen. Und wir brauchen die Kirche auch in der nächsten | |
Zukunft. Ohne die Kirche schaffen wir es nicht, ohne Hass und Rachegelüste | |
auf unsere Feinde weiterzuleben.“ | |
Die Stimmung der Menschen, die seit Wochen in und vor den Zelten ausharren, | |
ist nachdenklich und von Trauer geprägt. „Wir haben einen wichtigen Punkt | |
erreicht“, kommentiert Oleg aus der Westukraine. „Wir haben gezeigt, dass | |
unser Wille stärker war als unsere Angst. Aber wir müssen weiterkämpfen. | |
Janukowitsch haben wir zum Teufel gejagt, aber die Probleme sind geblieben. | |
Jetzt gilt es, die Wirtschaft unseres Landes aufzubauen. Und wir brauchen | |
endlich einen Rechtsstaat.“ | |
## Keine Spur von Euphorie | |
Wenige hundert Meter vom Kloster entfernt, auf dem Maidan, stehen und gehen | |
die Menschen dicht gedrängt. Die meisten halten Blumen oder Kerzen in den | |
Händen, die sie an einer der zahlreichen Gedenkstätten für die Opfer des | |
Maidan niederlegen. Viele tragen eine ukrainische Flagge mit Trauerflor. In | |
den Gesichtern Nachdenklichkeit und Trauer, keine Spur von Euphorie. Die | |
Stimmung ist wie auf einer Beerdigung. Kein einziger Polizist ist zu sehen. | |
Die Funktion der Polizei haben längst die „Kräfte der Selbstverteidigung | |
des Maidan“ übernommen. | |
Am Vorabend hatte sich Oppositionsführerin Julia Timoschenko mit einer | |
kraftvollen Rede sofort nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis an die mehr | |
als 100.000 Menschen auf dem Maidan gewandt. Vom Rollstuhl aus rief sie die | |
jubelnde Menge zum Kampf auf: „Wenn euch jemand sagt, dass es zu Ende ist | |
und ihr nach Hause gehen könnt, glaubt ihm kein Wort. Ihr müsst die Arbeit | |
beenden.“ Zuvor hatte die Oppositionspolitikerin auf der Gruschewskistraße | |
Blumen für die getöteten Maidan-Kämpfer abgelegt. Von Versöhnung war jedoch | |
bei ihrem Auftritt kein Wort zu hören. „Janukowitsch muss auf den Maidan | |
gebracht werden“ rief die 53-Jährige der begeisterten Menge unter Beifall | |
zu. | |
Mitten in ihrer Rede wurde Timoschenko unterbrochen. Zwei mutmaßliche | |
Mitglieder von Janukowitschs Schlägerbanden, den sogenannten Tituschkis, | |
wurden unsanft und vor laufenden Kameras vom Platz abgeführt. Was | |
anschließend mit ihnen geschah, ist nicht bekannt. Angeblich wollten die | |
„Kräfte der Selbstverteidigung des Maidan“, die derzeit die Funktion der | |
Polizei übernommen haben, mit ihnen „ein Gespräch führen“, um | |
herauszufinden, inwieweit sie sich tatsächlich Verbrechen schuldig gemacht | |
hatten. | |
## General im Rock | |
Julia Timoschenko hatte sofort nach ihrer Haftentlassung deutlich gemacht, | |
dass sie bei den für den 25. Mai angesetzten Wahlen kandidieren wolle. Doch | |
nicht alle Maidan-Aktivisten stehen hinter der energischen | |
„1-000-Volt-Frau“, dem „General im Rock“. Timoschenko sei zu emotional, | |
könne die wirtschaftlichen Probleme des Landes nicht lösen und habe als | |
korrupte Politikerin selbst Dreck am Stecken, kommentierten wütende Frauen | |
die Rede von Julia. „Julia, geh in Rente!“, forderte eine Frau auf einem | |
Plakat. | |
Ob sich die Ukraine zu einem Rechtsstaat entwickelt, hängt auch davon ab, | |
wie mit den sogenannten Tituschkis verfahren wird. Selbstjustiz wäre der | |
Todesstoß für die Bewegung. Bleibt zu hoffen, dass sich all die | |
„Tituschkis“, die an Maidan-Aktivisten Verbrechen begangen hatten, den nach | |
ihnen benannten Wadim Tituschko zum Vorbild nehmen. Dieser hatte sich Ende | |
August letzten Jahres öffentlich bei den Journalisten, die er | |
zusammengeschlagen hatte, entschuldigt. | |
23 Feb 2014 | |
## AUTOREN | |
Bernhard Clasen | |
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