# taz.de -- Stadtteilschule unter Druck: Schulfrieden in der Krise | |
> Immer mehr Eltern schicken ihr Kind aufs Gymnasium. Das Beispiel München | |
> zeigt: Auch Zugangshürden ändern nichts. | |
Bild: Gefährdet den Schulfrieden: Initiative "G9-Jetzt-HH" | |
HAMBURG taz | Er habe provozieren wollen, sagt [1][Hamburg-1]-Moderator | |
Herbert Schalthoff: Er sei dafür, den sogenannten Hamburger Schulfrieden | |
„einvernehmlich aufzukündigen“, hatte er auf Facebook geschrieben. Es ging | |
um die viel diskutierte Frage, wie man das Ungleichgewicht zwischen | |
Stadtteilschulen und Gymnasien aufhebt. Die meisten Vorschläge, befand | |
Schalthoff, lösten das grundsätzliche Problem nicht. Denn der Schulfrieden | |
verhindere eine Strukturdebatte und werde zum Denkverbot. | |
Niedergelegt ist der Schulfrieden in einem halbseitigen DIN-A4-Blatt, | |
welches CDU, SPD und Grüne im Februar 2010 unterschrieben, bevor sie sich | |
gemeinsam für die später am Volksentscheid gescheiterte sechsjährige | |
Grundschule einsetzten. Alle drei versprachen für zehn Jahre, die Struktur | |
aus Stadtteilschule und Gymnasium zu garantieren, „unabhängig davon, wer | |
die Regierung stellt“. | |
Seither gilt das Zwei-Säulen-Modell als unantastbar. Doch es gerät in | |
Schieflage. Bei den jüngsten Anmeldezahlen wurde deutlich, dass der Trend | |
Richtung Gymnasien unaufhaltsam ist. Besuchten im Jahr 2000 noch 39 Prozent | |
und im Jahr 2010 43 Prozent diese Schulform, so stieg die Anmeldequote für | |
die 5. Klassen jetzt auf ein Rekordhoch von 54,8 Prozent. | |
Die [2][Stadtteilschule] bekommt die übrigen Kinder und hat zudem die | |
schwierige Aufgabe der Inklusion zu leisten. Der Hamburger | |
Gesamtschulverband der „Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule“ weist | |
darauf hin, dass die Resourcen viel zu knapp sind. Der Anteil von Kindern | |
mit Förderbedarf im Bereich Lernen, Sprache und Emotionale Entwicklung | |
betrage 15,6 Prozent, es gebe aber nur eine Förderzuteilung für acht | |
Prozent (siehe Kasten). „Mehr als 50 Stadtteilschulen werden | |
voraussichtlich zum kommenden Schuljahr nicht fachgerecht versorgt sein“, | |
mahnt Sprecherin Barbara Rieckmann. | |
Walter Scheuerl, seinerzeit die treibende Kraft hinter dem Volksentscheid | |
gegen eine sechsjährige Grundschule, schlägt eine aggressive Tonlage an: In | |
einer Rundmail feiert der Schulreformgegner, der als Parteiloser der | |
CDU-Fraktion angehört, die Anmeldezahlen. | |
Eltern stimmten mit den Füßen gegen die „Einheitsschule“ ab, schrieb er u… | |
erklärte, dass die Stadtteilschule nur dann gut arbeite, wenn sie | |
abschlussbezogene Klassen und Kurse einrichte, „im Idealfall durch echte | |
Haupt- bzw. Realschul- sowie gymnasiale Zweige“. Dies entspreche der Idee | |
der Enquetekommission. | |
Im Bericht, den besagte Kommission 2007 vorlegte, steht allerdings etwas | |
anderes: „Formen der dauerhaften äußeren Differenzierung sollen zugunsten | |
innerer Differenzierung und Individualisierung zurücktreten.“ Doch Scheuerl | |
ebnet mit seiner Darstellung den Weg für die Volksinitiative | |
„[3][G9-HH-Jetzt]“, für die das an der Stadtteilschule angebotene Abitur | |
nach neun Jahren keine Alternative darstellt und die deshalb auch an | |
Gymnasien ein Abitur nach neun Jahren fordert. | |
Aus der CDU-Fraktion hört man andere Töne. „Ich halte das Schlechtreden der | |
Stadtteilschulen für gefährlich und unangebracht“, sagt die | |
Schulpolitikerin Karin Prien. Komme jetzt noch das G9 an Gymnasien, werde | |
diese „auf Dauer zur Einheitsschule“. | |
Prien hatte anlässlich der Anmeldezahlen gesagt, es müsse über eine | |
„Verschärfung der Zugangskriterien zu den Gymnasien“ gedacht werden. Das | |
Elternwahlrecht sei „tabu“, sagt die Mutter von drei Kindern. Aber eine | |
frühere Rückmeldung über Noten schon in Klasse drei und ein zweites | |
Lernentwicklungsgespräch könne sinnvoll sein, ebenso wie ein diagnostisches | |
Verfahren für Kinder, die ohne Empfehlung am Gymnasium angemeldet werden | |
sollen. | |
Aber wird dies den Trend aufhalten? Der Schulforscher Ulrich Vieluf | |
verweist auf München. Dort kletterte der Anteil der Kinder, die von der | |
Grundschule ins Gymnasium gehen, schon 2011 auf 55 Prozent, obwohl es eine | |
Notenhürde gibt. „Die Kinder schaffen das halt trotzdem.“ | |
Auch für Hamburg sieht Vieluf zwei Ursachen für den Anstieg der Quote. Zum | |
einen unternähmen Zuwandererfamilien große Anstrengungen für den | |
Schulerfolg ihrer Kinder. Zum anderen hätten immer mehr Eltern selbst | |
Abitur und wollten für ihre Kinder das Gleiche. „Das Gymnasium ist die | |
Schule für alle, die bereit sind, für ihre Kinder alle Kräfte zu | |
mobilisieren.“ Auf Dauer lässt sich die Existenz von zwei gleich großen | |
Schulsäulen wohl nicht garantieren. | |
21 Feb 2014 | |
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## AUTOREN | |
Kaija Kutter | |
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