# taz.de -- Depressive Jugendliche: „Das Turbo-Abi ist ein Nebenschauplatz“ | |
> Zum Kronzeugen der Überlastung von Jugendlichen hat die Initiative „G9 | |
> -Jetzt -HH“ den Jugendpsychiater Michael Schulte-Markwort gemacht. Im | |
> taz-Interview wehrt er sich. | |
Bild: Wenn Schülerinnen nicht mehr weiterwissen, hat das wenig mit dem G8 zu t… | |
taz: Herr Schulte-Markwort, die Kritiker des Turbo-Abiturs stützen sich auf | |
eine Aussage von Ihnen. Seit fünf Jahren diagnostizieren Sie in der Kinder- | |
und Jugendpsychiatrie des UKE Burn-out und Erschöpfungsdepressionen bei | |
Jugendlichen. Ebenso lange gibt es das Turbo-Abitur (G8). Besteht ein | |
Zusammenhang? | |
Michael Schulte-Markwort: Ich habe den Elterngruppen gesagt, dass ich mich | |
nicht instrumentalisieren lassen möchte. Es stimmt, dass wir insbesondere | |
bei jungen Mädchen seit einigen Jahren Erschöpfungsdepressionen | |
feststellen. Das dies jungen Menschen passiert, ist neu. Aber die Frage, ob | |
das Gymnasium acht oder neun Jahre dauert, halte ich für einen | |
Nebenschauplatz. Das ist so, als wenn sie einen platten Reifen haben und | |
den gegenüber austauschen. | |
Wie kommt es denn zu dieser Entwicklung? | |
Kinder erleben heute schon im Kindergartenalter, dass es auf Leistung | |
ankommt und sie ohne Leistung keine Gegenleistung erhalten. Jugendliche | |
haben Angst, dass ihnen ohne gute Noten Arbeits- und Perspektivlosigkeit | |
drohen. Es gibt insbesondere viele junge Mädchen, die gerne Leistung | |
bringen und intrinsisch motiviert sind. Und es gibt die Eltern, die selber | |
viel leisten und ihren Kindern Vorbild sind. | |
Schuld ist nicht das G8? | |
Ich würde sagen, ausgelöst ist diese Entwicklung durch den Ruck der ersten | |
PISA-Studie 2001. Vor 15 Jahren kamen Eltern zu uns und klagten, ihr Kind | |
sei so faul. Das passiert nicht mehr. Heute sind die Kinder hoch motiviert. | |
Und sowie es in die 11. Klasse geht, rechnen die Schüler ihren | |
Abiturschnitt aus und sind verzweifelt, wenn da eine zwei vor dem Komma | |
steht und sie nicht den Schnitt haben, den sie für eine freie | |
Studienplatzwahl brauchen. Da stehen begabte junge Menschen vor mir und | |
klagen: „Ich habe nur 1,6.“ | |
Aber warum nicht ein Jahr mehr Zeit zum Lernen geben? | |
Weil es das Problem nicht löst. Im G9 war auch nicht alles perfekt. Damals | |
wurden in der 11. Klasse fast alle Kinder ins Ausland geschickt. Und am | |
Ende, in der 13. Klasse, waren viele unzufrieden, weil im Grunde nichts | |
mehr passierte. Ich glaube, der Leistungsdruck würde im G9 genauso | |
bestehen. Viele würden Angst haben, dass sie nicht genug leisten, und | |
drängen: Wann marschieren wir endlich los? | |
Was muss sich denn ändern? | |
Wir brauchen eine Diskussion über unsere Lern- und Leistungskultur. Wir | |
haben an Gymnasien eine veraltete Pädagogik. Es wird nur auf Defizite | |
geschaut und mit Sanktionen gearbeitet. Wenn Schüler ein Jahr im Ausland | |
waren, sind sie ganz überrascht, dass man dort auch Fragen darf, wenn man | |
etwas nicht verstanden hat, und sich ein Lehrer entschuldigt: Ich habe es | |
nicht gut erklärt. Wir brauchen individuelle Förderung und eine neue | |
Lernkultur, bei der auch die Schüler den Lehrern Feedback geben. | |
Sie sprachen von Druck ab dem Kindergartenalter. Ist die frühe Förderung | |
ein Fehler? | |
Nein. Aber wir machen alles so Deutsch, so streng. Ohne dass es Spaß machen | |
darf. | |
Die Eltern können ihr Kind ja auch auf die Stadtteilschule geben? | |
Ja. Aber die Eltern meiden sie, weil das die früheren Hauptschulen waren. | |
Sie schicken ihr Kind aufs Gymnasium, weil das eigentlich heute die | |
Regelschule ist. Wenn ich ein Kind begutachten soll, das durchschnittlich | |
intelligent ist, sage ich: Gymnasium. Das geht so durch. | |
24 May 2014 | |
## AUTOREN | |
Kaija Kutter | |
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