# taz.de -- Schüler ohne Perspektive: Die Schule ist aus | |
> In Hamburg sollte jeder Schüler Abitur machen oder eine Lehre. Die | |
> Realität sieht anders aus. Besuch in einer 10. Klasse, in der nur vier | |
> von 16 Abgängern eine Lehrstelle haben, | |
Bild: Viele finden keine Ausbildung: Schüler einer Hamburger Stadtteilschule. | |
HAMBURG taz | Die Lehrerin geht raus. Die Journalistin soll sich mit den | |
Schülern allein unterhalten. Zehn Schulabgänger sitzen in der Bibliothek | |
ihrer Stadtteilschule, um über etwas zu sprechen, was nicht zwingend zu den | |
Lieblingsthemen von jungen Menschen gehört: die berufliche Zukunft. Das, | |
was sie tun werden, wenn die letzte Schulwoche vorbei und die Sommerferien | |
verstrichen sind. | |
Jeder Schüler soll entweder Abitur machen oder eine Ausbildung, so hat es | |
die Hamburger SPD vor drei Jahren versprochen. Die Schulpolitikerin der | |
Linken, Dora Heyenn, sprach kürzlich von Wahlbetrug: Die Ausbildungslücke | |
sei groß, es fehlten staatliche Ausbildungsplätze. Sie kenne eine 10. | |
Klasse, in der Ende Mai nur eine Schülerin einen Ausbildungsplatz hatte, | |
sagte Heyenn, die selbst Lehrerin ist. | |
In dieser Klasse sind wir nun. Von dem Versprechen des Bürgermeisters hört | |
der 18-jährige Hamid* an diesem Morgen zum ersten Mal. „Dann müssen die | |
aber auch halten, was die sagen“, findet er. Am Ende des Gesprächs wird | |
klar sein, dass nur zwei aus der Runde einen Lehrvertrag in der Tasche | |
haben: Emre* und Lale*. Beide haben über 40 Bewerbungen geschrieben, weil | |
sie Zahnarzthelferin werden wollen. Sie äußerten einen klaren Berufswunsch | |
– in solchen Fällen müsste das städtische Garantieangebot namens | |
„Berufsqualifizietung“, kurz BQ, greifen, das auf eine staatliche | |
Ausbildung hinausläuft. | |
Es gab einen Mann an der Schule, der sich kümmerte und ihnen half, | |
berichtet Emre. Mit Hilfe dieses Berufsberaters, der seit einem Jahr nur | |
für ihre Stadtteilschule da ist, haben sich nun für die beiden die Türen | |
der Zahnarztpraxen geöffnet. Ein Junge hat nach einem Praktikum eine Lehre | |
als Parkettverleger ergattert, und Hamid weiß zumindest genau, was er will: | |
Haare schneiden. Er wird wohl eine überbetriebliche Ausbildung bekommen. | |
„Ich bin schon selber Friseur“, sagt er selbstbewusst. | |
Von den insgesamt 27 Schülern werden acht nach den Ferien in die 11. Klasse | |
gehen, um Abitur zu machen. Drei weitere werden die zehnte Klasse | |
wiederholen, um dann den Notensprung in die Oberstufe zu schaffen. Die | |
16-jährige Fadime* wird das machen und der 15- Jährige Tarik*. | |
„Ich wiederhol auch“, sagt Nihat*, wird dann aber von seinen | |
Klassenkameraden korrigiert: „Das kannst du doch nicht, weil du zu schlecht | |
bist.“ Es klingt paradox, aber die Notenschwelle erlaubt es nicht allen, | |
diese Ehrenrunde zu drehen. | |
Von den 16 Schülern, die jetzt die Schule verlassen, haben nur drei – oder | |
vielleicht noch ein vierter – eine Ausbildung. Das sind knapp 25 Prozent, | |
der Wert, der 2012 auch hamburgweit erhoben wurde und den Dora Heyenn | |
skandalös schlecht findet. Für alle Unversorgten müsse es gleich nach der | |
Schule eine Ausbildung geben. | |
„Die übrigen von uns müssen wohl auf die Gewerbeschule“, sagt Malik*. Dort | |
macht man ein Praktikum, ist drei Tage im Betrieb und zwei in der Schule. | |
AV, abgekürzt für Ausbildungsvorbereitung, heißt diese Maßnahme. Etwa 40 | |
Prozent schaffen es von dort innerhalb von einem Jahr in eine Ausbildung. | |
Die Schüler scheinen nicht begeistert. „Das steht in der Akte, dass du da | |
warst. Das ist nicht so gut“, sagt Emre. | |
Auch Cem* hat sich vergeblich beworben, als „Fachkraft für Lagerlogistik“. | |
Das klingt weniger nach Jungentraum als nach Ergebnis von Berufsberatung. | |
Andererseits kann es reizvoll sein, mit einem Gabelstapler Paletten aus | |
Hochregalen zu balancieren. Das kennt ein Junge vom Praktikum. | |
Malik sagt, dass er eigentlich gern Feuerwehrmann werden möchte. Dafür | |
müsse man aber schon 18 sein. Auch er habe sich als Logistik-Fachkraft | |
beworben, sagt er: 20 Mal. Und trotz eines guten Realschulabschlusses keine | |
Antwort bekommen. „Die meisten sagen nicht mal ab.“ – „Da musst du eben | |
anrufen“, fällt ihm Lale ins Wort. Nihat winkt ab: „Ach, die schicken einen | |
doch immer wieder weg.“ | |
Nihat möchte gern Reisekaufmann werden in einem türkischen Reisebüro, das | |
mache bei seinen Sprachkenntnissen Sinn, sagt er. Vier Bewerbungen hat er | |
geschrieben, bisher ohne Erfolg. Sein Blick wandert nach unten. | |
Später erzählt die Lehrerin, dass elf Kinder ihrer Klasse ein belastendes | |
Schuljahr hinter sich haben. Erstmals mussten Schüler, die in der 9. Klasse | |
den Hauptschulabschluss gemacht haben, in der 10. Klasse bleiben, statt | |
abzugehen. Ein Effekt, der die Erfolgsstatistik des Jahres 2013 einmalig | |
verbesserte, weil es weniger unversorgte Schulabgänger gab. | |
Doch die 10. Klasse schließt obligatorisch mit der Realschulprüfung ab. Elf | |
der 27 Schüler dieser Klasse durften daran nicht teilnehmen, weil ihr | |
Halbjahreszeugnis zu schlecht war. „Viele empfinden dies als verschenktes | |
Jahr“, sagt die Lehrerin. Viele gingen auch nicht hin. „Das ist eigentlich | |
schade, weil viele ganz am Schluss noch der Ehrgeiz packt.“ Ein | |
Zehnte-Klasse-Abschluss für alle wäre besser, findet sie. | |
Alle Schüler dieser Klasse haben Migrationshintergrund. Tariks ältere | |
Schwester studiert Sozialpädagogik, Maliks Cousine wird Ingenieurin. „Wenn | |
ich keine Ausbildung bekomme, mache ich Fachabitur an der höheren | |
Handelsschule“, sagt Malik. Doch eigentlich sei „was Kaufmännisches“ sein | |
Ding. Nach einem Praktikum bei einem Geländewagen-Verkäufer – „die waren | |
sehr nett“ – hofft er jetzt noch auf eine Ausbildung als Automobilkaufmann. | |
Als Malik beim Berufsberater war, musste er acht Wünsche angeben, darunter | |
auch diesen. „Aber der hat mir bis auf Einzelhandelskaufmann alles | |
gestrichen. Eine Hilfe war der nicht“. | |
Am Freitag ist Abschlussfeier. „Alle, die ihren Real nicht geschafft haben, | |
wollten nicht kommen, weil sie sauer sind“, sagt Malik. Nun kämen sie | |
vielleicht doch. | |
## * Namen geändert | |
2 Jul 2014 | |
## AUTOREN | |
Kaija Kutter | |
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