# taz.de -- Kolumne Knapp überm Boulevard: Pro Unsicherheit! | |
> Fußgängerzone war gestern. Die Begegnungszone kommt – zumindest in Wien. | |
> Dank Deregulierung könnten aggressive Verkehrsbestien gezähmt werden. | |
Bild: Die Mariahilfer Straße in Wien: Hier begegnen sich jede Menge Menschen. | |
Während Deutschland noch im Dämmerschlaf der FuZo liegt und | |
verkehrsberuhigte Bereiche schon gewagt wirken, tut sich andernorts auf der | |
Straße Unerhörtes: Die Begegnungszone (BZ) kommt! Ausgehend von der | |
Schweiz, hat sie bereits Wien erreicht, wo seit Monaten ein Glaubenskrieg | |
um die BZ tobt. | |
Denn die Straße ist ein Konfliktraum. Da prallen die unterschiedlichsten | |
Interessen aufeinander. Bislang wurde das durch die StVO, also durch eine | |
Autorität geordnet, die Regeln aufstellt. Eine sehr demokratische Ordnung. | |
Die Regeln gelten für alle. Da braucht es keine Moral, damit der Stärkere | |
auf den Schwächeren Rücksicht nimmt. Die Verkehrsteilnehmer müssen | |
individuell keine guten Menschen sein, um bei Rot stehen zu bleiben. Die | |
StVO nimmt dem Einzelnen die Last von Moral und Tugend ab und delegiert | |
diese an eine verwaltende Institution. | |
Die StVO ist also ein Gesellschaftskonzept. Genau das fordert die BZ | |
heraus. Denn die funktioniert über die Deregulierung dieser Ordnung: (fast) | |
keine Regeln, keine Verkehrsschilder, keine Signale. Der Verkehr | |
organisiert sich selbstständig. Ohne Autorität. Heraus kommt eine | |
konfliktfreie, gemeinsame Nutzung des öffentlichen Raums, ein shared space. | |
Da regt sich Skepsis. Zu tief haben wir alle, ohne es zu wissen, die | |
hobbesche Lektion verinnerlicht, dass jenseits der Autorität, die unsere | |
Egoismen eingrenzt und Leidenschaften zähmt, der Krieg aller gegen alle | |
lauert. Wie also soll sich ein autoritätsfreier Raum selbst organisieren? | |
Verwandeln sich etwa alle in verantwortungsbewusste Wesen in der BZ? | |
Die Antwort liefert unser paradoxes Verhältnis zu Regeln. Auferlegte Regeln | |
werden nicht nur befolgt, sie werden auch übertreten. Die Übertretung | |
gehört also zur Disziplinierung dazu. Mehr noch: Das Nichtbefolgen von | |
Vorschriften wird zum Ausweis von Aufbegehren. Auch und gerade auf der | |
Straße. Und was die Sicherheit betrifft, so hat sich erwiesen: Maßnahmen | |
zur Erhöhung der Sicherheit im Straßenverkehr haben neben den erwünschten | |
auch unerwünschte Wirkungen: Der Sicherheitsgewinn wird auch in riskanteres | |
Fahren umgelegt. | |
Kurzum: Die paternalistische StVO, die uns in ebenso disziplinierte wie | |
undisziplinierte Straßensubjekte verwandelt, reicht nicht mehr aus. Es | |
braucht stattdessen eine Art von Protestantisierung der Verkehrsteilnehmer: | |
die müssen die Prinzipien von Rücksicht tatsächlich verinnerlichen. Die | |
Delegierung an die StVO ist nicht mehr genug. | |
## Herstellung subjektiver Unsicherheit | |
Und wie erreicht man diese wundersame Verwandlung von aggressiven | |
Verkehrsbestien? Nicht durch Regeln – der Verkehr soll sich ja von alleine | |
organisieren. Nicht durch Appelle wie: Seien Sie doch bitte rücksichtsvoll! | |
Nein, man erreicht dies durch Deregulierung. Das ist die bewusste | |
Herstellung von subjektiver Unsicherheit. Durch räumliche Gestaltung – wie | |
dem Wegfall eindeutig zugeordneter Straßenflächen – erzeugt man beim | |
Einzelnen ganz absichtlich das Gefühl von Unsicherheit. Denn das führt zu | |
verändertem Verhalten. Die Unsicherheit des Einzelnen erzeugt eine sichere | |
Gesamtsituation. Das ist der gewissermaßen umgekehrte paradoxe Effekt zur | |
StVO: Während die Regel Übertretungen produziert, bringt die Deregulierung | |
vorsichtige, rücksichtsvolle Verkehrsteilnehmer hervor. | |
In anderen Bereichen führt eine solche Deregulierung zu einer knallharten | |
Ellbogengesellschaft. Auf der Straße ergibt dies Selbstorganisation und | |
Eigenverantwortung aus reinem Selbsterhaltungstrieb. Das ist die | |
„unsichtbare Hand“ der BZ, die die Egoismen der Einzelnen zu einem großen, | |
funktionierenden Ganzen verbindet. Ganz ohne Moral. Die Selbsterhaltung | |
widerlegt Hobbes: Jenseits der regulierenden Autorität liegt nicht das | |
Chaos, sondern die BZ. | |
26 Feb 2014 | |
## AUTOREN | |
Isolde Charim | |
## TAGS | |
Straßenverkehrsordnung | |
Wien | |
Begegnungszone | |
Maidan | |
NSA | |
Der Spiegel | |
NGO | |
Wien | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Umgestaltung der Bergmannstraße: Fremdeln in der Zone | |
Am Dienstagabend geht die Bürgerbeteiligung zur „Begegnungszone“ in der | |
Kreuzberger Bergmannstraße in die zweite Phase. Gegen das Projekt regt sich | |
Widerstand. | |
Kolumne Knapp überm Boulevard: Ungleichzeitige Romantik | |
Die Wahrnehmung Europas hat sehr unterschiedliche Intensitäten: Die | |
Proteste auf dem Maidan wecken Leidenschaft, die Europawahl weckt nichts. | |
Kolumne Knapp überm Boulevard: Verlust der Schutzzone | |
Seit den 70ern gibt es eine kollektive Arbeit an der Unterscheidung | |
geheim/publik. Das Veröffentlichen von Privatem ist ein Befreiungsakt. | |
Kolumne Knapp überm Boulevard: Gurlitt, der gute Erbe | |
Der „Spiegel“ stellt Gurlitt als einsamen, entrückten Herrn dar, der aus | |
der Zeit gefallen ist. Das ist dem Thema NS-Kunstraub nicht angemessen. | |
Knapp überm Boulevard: Kein Amt hinterm Mensch | |
Schon wieder ein Kaiser ohne Kleider: Der Versuch, hinter die Fassaden der | |
Politik zu blicken, verträgt sich nicht mit der Wunsch nach politischer | |
Begeisterung. | |
Kolumne Knapp überm Boulevard: Noch schneller soll es sein | |
Nichtregierungsorganisationen waren einmal Avantgarde. Sie versprachen | |
effizientes, sinnvolles Tun und „gute“ Politik. Das ist längst vorbei. | |
Knapp überm Boulevard: Kunst kann beglücken! | |
Der Klotz ruft: Ein Berg aus Styropor lädt in Wien zum Besteigen, Abgraben | |
und Aushöhlen. Das erwachsene Publikum ist begeistert. |