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# taz.de -- Kolumne Knapp überm Boulevard: Ungleichzeitige Romantik
> Die Wahrnehmung Europas hat sehr unterschiedliche Intensitäten: Die
> Proteste auf dem Maidan wecken Leidenschaft, die Europawahl weckt nichts.
Bild: Auf dem Maidan werden Maidan-Bilder verkauft.
Manchmal gelingt es Veranstaltungen tatsächlich, gesellschaftliche
Situationen in einem Konzept begreifbar zu machen. Wie etwa der Konferenz
„Politische Romantik“, die etliche interessante Köpfe in Frankfurt
versammelte. Nicht zufällig – denn das Thema der politischen Romantik, der
politischen Leidenschaften ist derzeit das, an dem sich die Situation
Europas in seiner Widersprüchlichkeit verdichtet.
Auf der Skala der politischen Intensitäten rangiert Europa derzeit zwischen
Maidan (als Inbegriff für die in Bewegung geratene Ukraine) und den
anstehenden Europawahlen – also zwischen dichten Leidenschaften und einer
Emotionalität, die gegen null tendiert. Eine ziemliche Bandbreite: Es gibt
nicht nur ein Europa der zwei Geschwindigkeiten, sondern auch ein Europa
der zwei Intensitäten.
Dabei handelt es sich jedoch nicht einfach um ein Mehr an Leidenschaften
und ein Weniger. Vielleicht muss man die scheinbare Gleichzeitigkeit dieser
unterschiedlichen Geschehnisse zurückweisen und sich fragen, ob es sich
nicht vielmehr um eine tiefgehende Ungleichzeitigkeit handelt.
Der französische Theoretiker Michel Pecheux unterscheidet zwischen
Gesellschaft als Festung und Gesellschaft als paradoxer Raum. Die „Festung“
hat klare Fronten, klare Grenzen. Der paradoxe Raum hingegen hat keine
eindeutigen Widersprüche, kein klares Innen und Außen. Das sind nicht nur
zwei unterschiedliche Gesellschaftsordnungen, es sind auch zwei
unterschiedliche Emotionsanordnungen. In der Ordnung der Festung – zu der
die Ukraine zu rechnen ist – bildet ein Aufstand wie jener des „Maidan“
eine Überschreitung des Gegebenen.
## Politisierung der Vereinzelten
Solch ein Ausbruch ist auch ein emotionaler Ausnahmezustand. In unserem
paradoxen Raum hingegen bildet eine ständig latente, ständig abrufbare
Stimmung die emotionale Normalität. Wir sind allzeit bereit, uns zu
empören. Diese Stimmungsbereitschaft ersetzt die Bindung an Parteien und
Programme. Sie ist das Medium der Politisierung der Vereinzelten. Es ist
nicht so, dass es dort noch echte politische Leidenschaft gibt und hier
nicht.
Der springende Punkt ist: politische Emotionen haben ganz unterschiedliche
Funktionen in der Festung und im paradoxen Raum. Während hier politische
Stimmungen den Einzelne mit der Gesellschaft verbinden, dienen sie dort der
Überschreitung, der Erneuerung. Und der Massenbildung. Das ist das, was wir
aus den Revolutionstheorien als „ozeanisches Gefühl“ kennen – das Aufgeh…
des Einzelnen in der Masse der Gleichgesinnten.
Am Maidan konnte man das Janusköpfige solcher politischen Leidenschaft
beobachten: da gab es die gute und die schlechte Wut, die Hoffnungen der
Europasehnsucht und die Ressentiments der Rechten. Beide hatten einen hohen
Grad an emotionaler Intensität. Im paradoxen Raum hingegen haben wir die
Hoffnungszyklen schon durchgespielt. Und das ist die vielleicht größte
Differenz zur Festung. Uns bleibt nur der andere Januskopf der
Emotionalität: Empörung, Wut und im schlimmsten Fall Ressentiment. Und das
bringt uns zurück zur Europawahl.
## Emotionale Aufladung
Europa ist das, was der kürzlich verstorbene Theoretiker Ernesto Laclau
einen „leeren Signifikanten“ genannt hat. Leer, da er keine fixe Bedeutung
hat und um seine Bedeutung gerungen wird. So etwas ist keine intellektuelle
Auseinandersetzung, sondern vielmehr eine um die emotionale Aufladung eines
Begriffs. Begriffe werden in der politischen Auseinandersetzung zur Bühne
für Gefühle.
Im Unterschied zur Festung hat der Begriff „Europa“ im paradoxen Raum keine
positive Aufladung, keine positive affektive Bindung mehr. Die verwaiste
Bühne des leeren Signifikanten „Europa“ wurde von den Rechten mit ihren
negativen Emotionen und Ressentiments geentert. Was anderen nicht glückt,
haben sie geschafft: Sie haben „Europa“ zu einer Arena für Gefühle, zu
einem negativen Emotionsraum, zur Bühne für ihre politischen Leidenschaften
gemacht. Politische Romantik ist definitiv das Thema unserer Zeit.
22 Apr 2014
## AUTOREN
Isolde Charim
## TAGS
Maidan
Europa
Ostukraine
Slowjansk
Straßenverkehrsordnung
NSA
Der Spiegel
Wien
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