# taz.de -- Integration im Gentrifizierungs-Kiez: Deutsch-Türkisch für Anfän… | |
> Eine Gruppe Akademiker schickt ihre Kinder auf eine Brennpunktschule. Sie | |
> engagieren sich. Und die Migranteneltern reagieren. | |
Bild: An der Karlsgartenschule in Berlin-Neukölln lernen Kinder unterschiedlic… | |
BERLIN taz | Als die gute Schule ihre Tochter nicht haben will, beschließt | |
Susann Worschech, dass es Zeit ist, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. | |
Sie sitzt am Küchentisch ihrer Wohnung im Berliner Bezirk Neukölln, vor | |
sich ein Schreiben der Evangelischen Schule in der Nähe, einer Grundschule | |
mit hervorragendem Ruf, Hockey-AG und nach Einkommen gestaffeltem | |
Schulgeld. „Es lagen uns aber so viele Anmeldungen vor, dass wir leider | |
Ihre Anmeldung nicht mehr berücksichtigen konnten“, steht da. | |
In diesem Moment im Herbst 2011 trifft Susann Worschech eine Entscheidung, | |
die dazu führen wird, dass Fernsehteams sie interviewen und sie den | |
Berliner Staatssekretär für Bildung trifft. Sie wird ihr Streit bescheren | |
und Leute dazu bringen, sie als Eindringling zu betrachten. | |
Susann Worschech, damals 32 Jahre alt, Soziologin, entscheidet sich, ihre | |
fünfjährige Tochter Ella auf die öffentliche Schule um die Ecke zu | |
schicken. | |
Die Haustürklingel ist wieder kaputt, also kommt Susann Worschech aus dem | |
vierten Stock nach unten und öffnet selbst. In Gummilatschen tritt sie aus | |
der Tür, den Müllbeutel in der Hand, und schlängelt sich vorbei an | |
Dutzenden Fahrrädern zu den Tonnen im Hof durch. „Wenn unsere | |
Hausverwaltung auf Zack wäre, würde sie mal Fahrradständer einrichten“, | |
sagt sie. | |
Oben im Flur der Dreizimmerwohnung hängen zwei Fahrräder an der Wand, | |
darunter stehen die Kinderräder. Sie wohnen hier zu fünft – die Kleinste | |
ist anderthalb, ihr Sohn fast sechs. Und Ella, die in die zweite Klasse der | |
Schule um die Ecke geht, ist mittlerweile sieben. | |
## Abgehängte neben Aufsteigern | |
Die Schule um die Ecke ist die Karlsgarten-Schule. Eine normale staatliche | |
Grundschule. Normal für Berlin-Neukölln. Mehr als 80 Prozent der Schüler | |
kommen aus Einwandererfamilien. Kanakenschule sagten die Neuköllner in den | |
90er Jahren, Ausländerschule sagen die Türken aus dem Kiez noch heute. | |
Leute, die sozialisiert sind wie Susann Worschech, sagen: Brennpunktschule. | |
Der Schillerkiez, die Gegend, in der Susann Worschech wohnt, gilt als | |
sozialer Brennpunkt. Ein Haushalt hat hier im Durchschnitt knapp 1.700 Euro | |
im Monat zum Ausgeben, jeder Vierte ist arbeitslos gemeldet. | |
Susann Worschech und ihr Mann finden 2003 in Neukölln schnell eine Wohnung. | |
Der ramponierte Ruf des Viertels und der angrenzende Flughafen Tempelhof | |
halten die Mieten niedrig. Doch dann schließt der Flughafen und wird zu | |
einer riesigen öffentlichen Grünfläche. Es kommen noch mehr Studenten, | |
Künstler, Akademiker. Die Besitzer der Kneipen wechseln und bieten statt | |
Berliner Kindl Bio-Zisch an. Soziale Kolonisierung nennen Soziologen das. | |
Die Mieten steigen. Plötzlich steht die Gegend im Fokus von Leuten, die | |
sich mit Gentrifizierung beschäftigen – der Aufwertung von Vierteln durch | |
Verdrängung sogenannter A-Gruppen: Alte, Arme, Alleinerziehende, | |
Arbeitslose, Ausländer. | |
Im Schillerkiez ist alles noch dicht beisammen. Hundehaufen neben | |
Nobelwohnung, Abgehängte neben Aufsteigern. | |
## Sie wollen keine „biodeutsche Parallelwelt“ | |
Nur an den Schulen mischen sich die Welten nicht. | |
„Es gibt Eltern, die karren ihre Kinder ins benachbarte Tempelhof, damit | |
sie auf eine möglichst homogene Schule gehen, und leben hier in ihrer | |
biodeutschen Parallelwelt“, sagt Susann Worschech. Sie hat sich an den | |
Tisch in der Küche gesetzt, an dem sie vor zweieinhalb Jahren die Absage | |
der Evangelischen Schule las. An die Enttäuschung kann sie sich noch gut | |
erinnern. | |
Die Nervosität hatte schon früher eingesetzt, Ella war gerade vier | |
geworden. Die Nervosität vieler deutscher Eltern: Welche Schule kommt | |
infrage? Wie weit darf sie entfernt sein? Oder doch lieber wegziehen? | |
2006 schreiben die Lehrer der Rütli-Schule in Neukölln einen offenen Brief | |
über alltägliche Gewalt und Verweigerung. Seitdem steht die Frage, wie gut | |
eine Schule in Neukölln funktioniert, auch dafür, wie Integration in | |
deutschen Großstädten gelingt. | |
Susann Worschech ist gerade im Ausland, als ihr Mann anruft. Er erzählt | |
begeistert vom Tag der offenen Tür an der Karlsgarten-Schule. Ihr sei fast | |
der Hörer aus der Hand gefallen, sagt sie. | |
## Akademikereltern an die Ausländerschule | |
Als die evangelische Schule später doch noch zusagt, steht Worschechs | |
Entschluss bereits fest: Ich schicke Ella an die Karlsgarten-Schule. Aber | |
nicht allein, und ich mache ein großes Ding draus. | |
Sie gründet mit drei anderen eine Elterninitiative, organisiert Treffen mit | |
Schulleiterinnen und Lehrern, lädt die Bildungssenatorin und die Presse | |
ein. Die Geschichte von den deutschen Akademikereltern, die ihre Kinder an | |
einer Ausländerschule anmelden, verkauft sich gut. | |
„Warum flüchten wir in Schulen, die weit weg sind, anstatt hier und jetzt | |
gemeinsam etwas zu verändern?“, schreiben die Eltern in einem Aufruf. | |
Sie wollen eine „Kiezschule für alle“, so nennen sie ihre Initiative. Eine | |
alte Utopie: Wenn alle gemeinsam lernen, lernen alle am besten. Wir wollen | |
keine Parallelgesellschaften, ist eine Botschaft der Elterninitiative. Eine | |
andere: Wenn unsere Kinder kommen, wird die Schule besser. | |
## Engagiert sind auch die anderen | |
Dass es dort aber viele Eltern gibt, die schon lange davon überzeugt sind, | |
dass ihre Kinder in eine gute Schule gehen, das haben Susann Worschech und | |
die anderen damals übersehen. | |
Eine Unachtsamkeit, könnte man sagen. | |
Eine Herabwürdigung, sagt Halit Kamali. | |
Halit Kamali ist der oberste Elternvertreter der Karlsgarten-Schule, seit | |
2009. Er ist einer dieser Väter, die das Beste für ihre Kinder wollen und | |
dafür sorgen, dass sie es auch bekommen. Als es Zeit ist, eine Schule für | |
seine Tochter Melina auszusuchen, steht fest: Sie kommt nicht an eine | |
staatliche, nicht hier in Neukölln. Er kennt den Direktor der Evangelischen | |
Schule und lässt seine Tochter dort vormerken. | |
Aber weil das Prozedere es so vorsieht, musste er Melina zuerst an der | |
Karlsgarten-Schule anmelden. Dort trifft er Melinas spätere | |
Klassenleiterin, die sagt: Geben Sie mir ein paar Wochen. Sie werden sehen, | |
dass wir eine gute Schule sind. Kamali kommt ein Jahr lang fast jeden | |
Vormittag mit seiner Tochter in die Klasse, um sich davon zu überzeugen. | |
## Die alteingesessenen Eltern fühlen sich übergangen | |
Man kann Halit Kamali einen Helikoptervater nennen. Einen, der schützend | |
über seinen Kindern kreist. | |
Im penibel aufgeräumten Wohnzimmer von Kamalis Eigentumswohnung schaut man | |
vom weinroten Ledersessel auf einen großen Flachbildfernseher. Halit | |
Kamali, Anfang vierzig, zurückgekämmte Haare, wohnte früher mal im | |
Nachbarbezirk Kreuzberg. „Dort wurde alles Schickimicki, es zogen immer | |
mehr Deutsche zu, eine reine Monokultur.“ Deshalb ist er vor acht Jahren | |
nach Neukölln gezogen. „Hier fängt es mittlerweile auch schon an.“ | |
Zum Beispiel mit diesen deutschen Eltern, die kommen und anfangen, seine | |
Schule umzukrempeln. „Die Eltern von der Kiezinitiative hatten mit allen | |
gesprochen“, sagt Halit Kamali. „Aber nicht mit den alteingesessenen | |
Eltern.“ | |
„Alteingesessene“, wird Susann Worschech später schnauben, wenn sie diesen | |
Satz hört. „Wir wohnen hier seit zehn Jahren, wir sind ja wohl auch | |
Alteingesessene.“ | |
Kamalis Familie zieht mit ihm nach Deutschland, als er zwei Jahre alt ist. | |
Kurz vor der Einschulung schickt ihn sein Vater in die Türkei. Er macht | |
seinen Abschluss, kommt wieder nach Deutschland und holt das Abitur nach. | |
In einer Klasse für Kinder mit Migrationsgeschichte. | |
Als er Elternvertreter an der Karlsgarten-Schule wird, organisiert Kamali | |
eine Unterschriftensammlung für einen Zebrastreifen vor dem Schultor. Die | |
Eltern merken: Wir können etwas bewirken. Kamali holt Dozenten an die | |
Schule, die sie über ihre Rechte aufklären. Er findet: Eltern müssen | |
frecher werden. In der Türkei verhalte man sich gegenüber Lehrern eher | |
devot. | |
## „Kopftuchmütter“ und „Studenteneltern“ | |
Er baut einen offenen Elterntreff auf. Ein Raum im Erdgeschoss ist täglich | |
geöffnet. Drei Mütter und ein Vater arbeiten dort. Sie vereinbaren für | |
jene, die wenig Deutsch sprechen, Termine beim Schularzt und begleiten | |
Klassen auf Ausflüge. Kamali nennen sie ihren Chef. | |
Halit Kamali setzt sich an die Stirnseite des Tischvierecks im Elterntreff. | |
„Ich rede jetzt mal Tacheles“, sagt er. „Wir haben hier einiges erreicht. | |
Und dann kommen die Eltern von der Kiezschulinitiative und glauben, sie | |
können tun, was sie wollen.“ | |
Halit Kamali und Susann Worschech treffen sich im Frühjahr 2012 in der | |
Schule zum ersten Mal. Sie denkt: ein cooler, offener Typ. Er denkt: Toll, | |
dass diese engagierten Eltern kommen. | |
Zwei Jahre später zieht die Klassenleiterin von Susann Worschechs Tochter | |
Ella die Stirn in Falten, wenn man fragt, wie sich die neuen und die alten | |
Eltern begegnen. „Begegnen? Das ist doch wohl eher so –“, sie bewegt ihre | |
linke Handfläche am rechten Handrücken vorbei. Ein Nebeneinander. | |
Die einen sitzen im Elterntreff. Die anderen im Café Blume an der | |
Straßenecke gegenüber. | |
Das Café Blume ist der Treffpunkt der Kiezschulinitiative. Hier gibt es | |
frischen Ingwer Tee für 2,50 Euro und Babyccino für 1,50 Euro. Im | |
Elterntreff ist der türkische Tee umsonst. | |
„Die Kopftuchmütter“, sagen die einen über die anderen. „Die | |
Studenteneltern“, sagen die anderen über die einen. Deskriptive | |
Zuschreibungen, die eine Distanz ausmessen. | |
## Die Kluft im Klassenzimmer | |
Die meisten Frauen, die um ein langes Tischviereck im offenen Elterntreff | |
sitzen, tragen tatsächlich Kopftuch und ziehen ihre schwarzen langen Mäntel | |
im Schulhaus nicht aus. Sie reden untereinander Türkisch. Eine Frau hat | |
süßes Gebäck mitgebracht und reicht es herum. | |
Von der Kiezschulinitiative haben einige noch nie gehört. „Das ist die, wo | |
die Eltern ihre Kinder an die Ausländerschule schicken“, sagt eine. Waren | |
sie schon mal beim Stammtisch der Kiezschulinitiative? Die Frauen schütteln | |
die Köpfe. Und kommen die Eltern der Initiative manchmal hier vorbei? Noch | |
mal Kopfschütteln. Sie seien willkommen. Aber man sei hier eben nur bis | |
zwei, wenn die Studenteneltern arbeiten. Danach warte der Haushalt. | |
Ihre Kinder gehen gemeinsam zur Schule. Fünf Tage die Woche lernt Susann | |
Worschechs Tochter Ella mit Ahmed und Khan, Miriam und Iren. Der Abstand | |
zum Sitznachbarn beträgt weniger als eine Stuhlbreite. Da ist aber eine | |
Kluft. Sie verläuft entlang eines sehr unscharfen Begriffspaares: | |
bildungsnah und bildungsfern. | |
Als die Elterninitiative „Kiezschule für alle“ im Sommer des Jahres 2012 | |
zur Diskussion in die Karlsgarten-Schule einlädt, ist ein Thema: Wie können | |
Förderkonzepte für die unterschiedlichen Bedürfnisse bildungsferner und | |
bildungsorientierter Familien mit und ohne Migrationshintergrund aussehen? | |
Die Bildungsorientierten fragen sich: Wie können die Kinder voneinander | |
profitieren? Können sie das überhaupt? | |
## Eine Frage der Bücher | |
Die Begriffe bildungsnah und bildungsfern tauchen vor mehr als zehn Jahren | |
auf. Damals untersuchen Forscher, wie sich das Elternhaus auf Leistungen | |
auswirkt. Sie finden ein Maß, das mehr erklärt als der Bildungsabschluss | |
der Eltern oder deren Gehaltsklasse: die Anzahl der Bücher im Haushalt. | |
Schüler aus Haushalten mit mindestens zwei Regalen voller Bücher haben | |
gegenüber Schülern in Haushalten mit weniger als einem Bücherbrett einen | |
Wissensvorsprung von gut zwei Schuljahren. | |
Susann Worschech schließt gerade ihre Doktorarbeit über Demokratieförderung | |
in der Ukraine ab. Zuletzt las sie „Eisenkinder“, ein Sachbuch über die | |
Jugend der Wendegeneration. Zu Hause stehen in den Regalen etwa 800 Bücher. | |
Worschech ist ein klarer Fall von Bildungsnähe. | |
Halit Kamali hat sein Studium nicht beendet und arbeitet für eine | |
Hausverwaltung. Seine Bücher lagern in Kartons, ein paar stehen im Regal im | |
Schlafzimmer. Früher habe er viel gelesen, alles von dem kurdischen Autor | |
Yasar Kemal etwa. Zuletzt fehlte die Zeit. Ist Kamali jetzt bildungsfern | |
oder bildungsnah? | |
Für beide steht außer Frage, dass ihre Töchter Abitur machen werden. „Auf | |
jeden Fall“, sagt Worschech. „Ich werde schon dafür sorgen“, sagt Kamali. | |
Der Stadtforscher Sigmar Gude hat vor drei Jahren die | |
Sozialstrukturentwicklung in Teilen von Neukölln untersucht. Er fragte die | |
Leute unter anderem, was ihnen wichtig sei. „Bildung stand bei fast allen | |
Eltern an erster Stelle.“ Auch bei jenen, die selbst kaum zur Schule | |
gegangen seien, sagt Gude. „Eltern, die wenig Deutsch sprechen, wissen aber | |
oft nicht, wie sie ihre Kinder am besten fördern können.“ | |
## Wer bestimmt die Regeln? | |
Auf der Liste der Elternvertreter ist jeder dritte Name deutsch. Unsere | |
Bildungseltern, sagen Lehrer. Die hätten ruckzuck an zwei Wochenenden alle | |
Horträume gestrichen. „Unsere türkischen und arabischen Eltern sind es | |
gewohnt, sich rauszuhalten“, sagt eine Lehrerin. „Ja, wenn’s ums Backen | |
geht, sind sie dabei.“ „Wir können nicht nur backen“, sagt Kamali im | |
offenen Elterntreff. Seine Hand fährt in die Luft, die silberne Kette an | |
seinem Arm klirrt. Wie Trottel würden Lehrer die türkischen Eltern mitunter | |
behandeln. Er hebt die Stimme: „Sie verstehen. Ihr Kind. Morgen um acht | |
Uhr. Schule.“ Klar, es sei schwierig gewesen, türkische oder arabische | |
Eltern als Elternvertreter zu gewinnen. Aber man müsse den Weg eben etwas | |
ebnen. | |
Sevil Tosun hat bereit Unterschriften für den Zebrastreifen gesammelt, zum | |
Beginn des Schuljahres organisiert sie erneut eine Unterschriftensammlung | |
mit. Eine Frau, die selbst nur fünf Jahre zur Schule ging, zwei Kinder und | |
ihren Mann versorgt und für einen Stundenlohn von 1,50 Euro im offenen | |
Elterntreff arbeitet. Als im Herbst die Stundenpläne verändert werden, geht | |
sie auf die Barrikaden. | |
Eine Arbeitsgemeinschaft aus Eltern, Lehrern und Erziehern hatte seit dem | |
Frühjahr beratschlagt, wie für die Kinder, die im Hort nachmittags | |
Arbeitsgemeinschaften besuchen, mehr Zeit zum Mittagessen organisiert | |
werden könnte. Das Ergebnis: Die Unterrichtszeit wird für alle um 10 | |
Minuten verlängert. Vor allem Eltern der Kiezschulinitiative nahmen an den | |
Sitzungen teil, ihre Kinder besuchen den Hort. Die Mehrheit der türkischen | |
und arabischen Kinder geht um halb zwei nach Hause. Ihre Eltern erfahren | |
von den neuen Stundenplänen erst, als sie in Kraft treten. | |
„Früher gab es hier keine Probleme. Erst als die kamen“, sagt Sevil Tosun | |
im Windschatten des Schulhauses stehend, die Hände in den Manteltaschen | |
vergraben. | |
Es ist ein Streit darum, wer die Regeln für wessen Alltag macht. | |
## Die Idee von der Doppelspitze | |
In diese angespannte Zeit fällt der Termin der ersten | |
Gesamtelternversammlung im September vergangenen Jahres. Kamali steht zur | |
Wiederwahl. Aber Susann Worschech hat einen anderen Vorschlag: Sie will | |
eine Doppelspitze mit Vertretern der neuen und der alten Eltern. Die | |
Doppelspitze kennt sie von den Grünen. Da besteht sie in der Regel aus | |
einem Mann und einer Frau. Weil es 50 Prozent Frauen in der Gesellschaft | |
gibt, sollen sie auch die Hälfte der Führungspositionen bekommen, so die | |
Logik. An der Karlsgarten-Schule kommen 15 Prozent der Schüler aus | |
deutschen Familien. Unter den anderen 85 Prozent sind türkische, arabische, | |
polnische, rumänische und bulgarische Kinder. Unter anderem. | |
Als Worschech am Abend der Versammlung den Konferenzraum betritt, fällt ihr | |
auf, dass ungewöhnlich viele Eltern da sind. Sie stellt ihren Antrag vor | |
und begründet ihn mit Kommunikationsproblemen und unterschiedlichen | |
Bedürfnissen. Danach meldet sich Kamali zu Wort: Ja, es gebe | |
Kommunikationsprobleme, aber die ließen sich so nicht lösen. „Für eine | |
Doppelspitze stehe ich nicht zur Verfügung“, sagt er. | |
Es scheint in diesem Moment, als sei die Kluft zwischen den Eltern | |
unüberbrückbar. | |
Im zweiten Stock der Karlsgarten-Schule geht die Tür zum Klassenraum der | |
Gruppe 2.1 auf. Susann Worschechs Tochter Ella und ihre Freundin Madita | |
drängeln sich gleichzeitig rein, ihre Jack-Wolfskin-Ranzen stoßen | |
aneinander. Sie ziehen ihre Arbeitshefte heraus. Madita ihres für die | |
erste, Ella das für die zweite Klasse. In der Karlsgarten-Schule werden die | |
Klassen eins bis drei zusammen unterrichtet. Als Hausaufgabe musste Ella | |
ein Rätsel schreiben. „Es ist ein Mensch. Es hat ein Pferd. Es sitzt auf | |
einem Sattel“, liest sie vor. Christiane Fleischmann, ihre Lehrerin, lobt. | |
Neben dem Lehrertisch kniet ein Junge und liest gedehnt einzelne Wörter. | |
Für Fleischmann ist es die Sternstunde des Tages. „Jetzt hat es tatsächlich | |
klick gemacht“, sagt sie. Der Jüngste von acht Geschwistern, lernt in der | |
dritten Klasse doch noch lesen. | |
## Die Kinder sortieren sich nach Elternhaus | |
Man merke, wenn Eltern ihren Kindern vorlesen, sagt Fleischmann. „Diese | |
Kinder kommen mit einem Vorsprung in die Schule, den die anderen kaum noch | |
aufholen.“ Unfair sei das. „Aber wir als Schule können das nicht | |
ausgleichen.“ | |
Sie deutet auf einen türkischen Jungen aus, wie sie sagt, sehr, sehr | |
schwierigen Verhältnissen. „Der kann alles“, sagt sie. „Aber er ist eine | |
Ausnahme.“ Als die Pause beginnt, wartet Ella auf Ronja, Madita und Yasmin. | |
Omur und Kevin sind schon auf den Hof gerannt. Die Kinder sortieren sich | |
nach Elternhaus. Woran das liegt, kann Fleischmann nicht sagen. „Ich weiß | |
auch nicht, warum sie noch nie zu einem Geburtstag eingeladen wurde und | |
immer noch kaum Deutsch spricht“, sagt Fleischmann und zeigt auf ein | |
Mädchen, dessen schwarzer Zopf fast bis zur Hüfte reicht. „Ist doch auch | |
ein nettes, kluges Mädchen.“ | |
Die Eltern der Kiezinitiative stellten sich vor, dass sich die Schule, wenn | |
sie ihre Kinder dort anmelden, in einen Ort gelebter Integration | |
verwandelt. Aber Unterschiede leben fort. Auch in ihren Kindern. | |
Susann Worschech beobachtet, dass ihre Tochter vor allem mit Kindern | |
befreundet ist, die auch mal klettern gehen und eine Geo-Mini im Abo haben. | |
Am Geld liegt es nicht. Die Worschechs kommen gerade so über die Runden, | |
vielen anderen Eltern aus der Kiezschulinitiative geht es ähnlich. | |
Auch die Herkunft ist nicht der entscheidende Faktor. Manche Kinder der | |
Initiative haben einen türkischen Vater, andere eine libanesische Mutter. | |
Wichtiger scheint, was der Soziologe Pierre Bourdieu einst als kulturelles | |
Kapital bezeichnete, dazu zählt auch Bildung. Es trennt die, die viel davon | |
haben, von denen, die weniger haben. | |
## Schritte der Annäherung | |
Dann gibt es aber doch wieder Momente, wie den warmen Tag im Spätsommer, an | |
dem die Elternvertreter einer Klasse fragen, wer Lust auf ein Picknick hat. | |
Frauen mit und ohne Kopftuch sitzen nach Unterrichtsschluss auf Decken im | |
Park, während ihre Kinder spielen. | |
Erste Zeichen einer Annäherung. | |
In der Elternvertretersitzung, in der der Streit zwischen Susann Worschech | |
und Halit Kamali eskaliert, wird am Ende die Doppelspitze abgelehnt. Die | |
Kopftucheltern überstimmen die Studentenfraktion. Als Worschech | |
anschließend direkt gegen Kamali antritt, verliert sie deutlich. Wird dann | |
aber in den Vorstand gewählt. | |
„Ich hätte nicht gedacht, dass er sich so auf den Schlips getreten fühlt“, | |
sagt Susann Worschech. | |
„Die Mehrheit hat nun mal Migrationshintergrund. Das ist doch ein blödes | |
Signal: Wir sind deutsch, wir sind da, wir wollen, wir können, wir | |
kriegen“, sagt Halit Kamali. | |
Immerhin gibt es seit dem Streit in der Elternversammlung nun regelmäßige | |
Vorstandstreffen, in denen sich neue und alte Eltern besprechen. Im Café | |
Blume, dem Stammlokal der Kiezschulinitiative. Von den fünf Mitgliedern des | |
Vorstands sind an diesem Winterabend drei erschienen: Halit Kamali bestellt | |
ein Bier, Susann Worschech einen Ingwertee. Die dritte Frau nichts. | |
Worschech teilt mehrere Seiten mit Argumenten für einen neuen Vorschlag zur | |
Organisation des Schulhorts aus. Ihr Ingwertee wird kalt, während sie den | |
Plan verteidigt. Kamali wärmt sein Bierglas mit beiden Händen und hält | |
dagegen. Die andere Frau sagt kaum etwas. | |
## Ein Schlagabtausch, doch der Ton hat sich verändert | |
Nach einer Stunde verabschieden sie sich, Kamali deutet eine kleine | |
Verbeugung an und berührt Susann Worschech kurz am Ellenbogen, die streicht | |
sich die Haare aus dem geröteten Gesicht. | |
Wer hat gewonnen? „Na ich“, sagt Worschech später und lacht. – „Ich hab | |
Susann überzeugt“, sagt Kamali. | |
Die Treffen sind immer noch ein Schlagabtausch, aber etwas im Ton hat sich | |
verändert. | |
„Jemand, der klare Kante zeigt, ist mir lieber als Muttis, die meinen, wir | |
müssen uns alle liebhaben“, sagt Susann Worschech. | |
„Ich finde viele ihrer Ideen gut“, sagt Halit Kamali. | |
Noch anderthalb Schuljahre wird seine Tochter die Karlsgarten-Schule | |
besuchen. Spätestens dann wird er den Vorsitz der Elternvertretung abgeben. | |
„Dann brauchen wir auch keine doppelte Spitze mehr“, sagt er spöttisch. | |
Dann werden Eltern der Kiezinitiative die Elternvertretung übernehmen? | |
Sollen sie, sagt Halit Kamali. | |
1 Mar 2014 | |
## AUTOREN | |
Anna Lehmann | |
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