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# taz.de -- Bürgerengagement und Kirchenasyl: 30 Quadratmeter Deutschland
> Zwei tschetschenische Familien landen nach langer Flucht in einem Ort in
> Franken, dann kommt der Abschiebebefehl. Wie Bürger ihre Ausweisung
> verhindern.
Bild: Ein Teil der Flüchtlingsfamilien mit ihren Unterstützern aus Dingolshau…
DINGOLSHAUSEN taz | Mit einem Blumenstrauß in der Hand, Schokolade, Brot
und Salz klingeln Sigrid Fessel-Walter und Christine Heberle an einem
heißen Juliabend 2013 an der Tür des Hauses, das so lange leerstand. Mitten
in Dingolshausen, einer fränkischen Kleinstadt mit 1.300 Einwohnern, unweit
von Schweinfurt.
Fremde sind in das Haus eingezogen, Tschetschenen. Die Männer der Familien
schauten immer so finster, haben ihnen die Nachbarn erzählt. „Finstere
Blicke“, sagt Sigrid Fessel-Walter heute, eine große Frau mit knallroter
Brille und dunklen Haaren, mit etwas Spott in der Stimme: „Mir war sofort
klar, dass diese Bemerkung Unsicherheit und Unbehagen ausdrückt. Wir
wollten selbst sehen, wer die Neuen sind.“
Es sind zwei Flüchtlingsfamilien aus Tschetschenien, die Mitte Mai in
Dingolshausen eintreffen. Der 38-jährige Milan und seine schwangere Frau
Malika mit ihren vier kleinen Kindern; der 26-jährige Magomed mit seiner
Frau Zarina. Zarina ist 18 und ebenfalls schwanger. Sie hat schweres
Rheuma, ihre Finger und Arme sind völlig verkrümmt. Das junge Paar hofft in
Deutschland auf medizinische Behandlung für sie. Milan wiederum wurde in
Tschetschenien verfolgt und gefoltert. Selbst in Deutschland hat er noch
Angst, dass ihn die Foltertrupps aufspüren. Deswegen heißen alle
Flüchtlinge in diesem Text anders als in Wirklichkeit.
Beide Familien, die sich vorher nicht kannten, haben eine lange Flucht
hinter sich. Mit dem Zug reisen Milan, Malika und ihre Kinder über Moskau
nach Weißrussland. Eines frühen Morgens erreichen sie Terespol, die heilige
Grenze nach Polen. Es ist kalt, die Mückenschwärme am Flussufer sind
unerträglich. Nach vier Stunden Warten darf die Familie in das Büro der
Grenzbeamten. Milan erzählt, dass er in Tschetschenien gefoltert wurde und
in Europa Schutz sucht. Sie haben Glück, der Beamte glaubt ihm und lässt
die Familie passieren. Andere versuchen es hier 30, 40 Mal.
## Mit Händen, Füßen, Stiften
Sie landen in einem polnischen Flüchtlingslager. „Da ging der russische
Geheimdienst ein und aus“, berichtet Milan. „Ich hatte Todesangst, dort
konnten wir nicht bleiben.“ Eine Woche leben sie zusammengepfercht hinter
Stacheldraht, dann bringt sie ein Schlepper im Privatauto nach Deutschland,
13 Stunden, ohne Pause – 1.450 Euro für sechs Personen. Abends erreichen
sie die Asylsammelstelle Zirndorf in Bayern, von dort werden sie nach
Dingolshausen geschickt, wo der Gemeinderat das leerstehende Haus zur
Verfügung stellt.
Ein paar Tage später klingelt es an ihrer Tür. Es sind Sigrid Fessel-Walter
und ihre Freundin Christine Heberle. Milan öffnet vorsichtig die Tür; als
er Blumen und Schokolade sieht, winkt er die Frauen herein. Bis spät abends
sitzen sie zusammen. Sprechen können sie kaum miteinander, aber mit Händen,
Füßen und Stiften erzählen sie sich, wer sie sind und woher sie kommen. Es
wird ein reizender Abend, ihre Verständigungsversuche bringen alle zum
Lachen.
Die beiden Frauen macht diese Geschichte so unmittelbar vor ihrer Haustür
betroffen. „Ich wusste, dass in Tschetschenien Krieg war, mehr nicht“, sagt
Fessel-Walter. Zu Hause schlägt sie den Atlas auf und findet Tschetschenien
– die autonome Republik im Nordkaukasus, an der Grenze zu Georgien und
Armenien. Im Internet liest sie erschreckende Berichte von Amnesty
International und von der Gesellschaft für bedrohte Völker. Und sie erfährt
von Dublin II, jener EU-Verordnung, die regelt, dass Flüchtlinge in dem
Land Asyl beantragen müssen, über das sie in die EU eingereist sind. Die
Familien müssten demnach zurück nach Polen. Sie sind illegal in
Deutschland.
## „Wir müssen alle mit einbeziehen“
Das weiß auch Lothar Zachmann, Bürgermeister von Dingolshausen. Weil die
Asylsammelstelle in Zirndorf überfüllt ist, sollen die Flüchtlinge
vorübergehend in dem Haus in Dingolshausen wohnen, das dem Landratsamt
gehört. „Mir war sofort klar, dass die Familien im Ort nur eine Chance
haben, wenn wir von Anfang an alle mit einbeziehen“, sagt Zachmann. Die
Nachbarschaft sei sehr „homogen“ – ein fremdes Kind an der Bushaltestelle,
eine fremde Frau auf der Straße, das sorge für Verwunderung.
Auf der nächsten Gemeinderatssitzung erzählt Zachmann von den Flüchtlingen.
„Einige hatten Bedenken: Wie sollen wir uns mit denen unterhalten? Kommen
wir mit denen klar? Aber die meisten Bewohner waren erst mal neugierig.“
Doch bald darauf kommt der Abschiebebefehl. Milan soll mit seiner Frau und
den inzwischen fünf Kindern im September, Magomed mit Zarina und dem
Neugeborenen Anfang Oktober nach Polen abgeschoben werden. Warum, verstehen
sie nicht. Asylverfahren, Schengen, Dublin – das haben sie noch nie gehört.
„Rein rechtlich gab es keine wirklich aussichtsreiche Möglichkeit, die
Abschiebung abzuwenden“, erklärt Joachim Schürkens, Anwalt für Asylrecht.
Die Frauen aus Dingolshausen haben ihn im letzten Juli eingeschaltet. „Die
einzige, winzige Chance, die es gab, war zu versuchen, die Abschiebung ein
halbes Jahr lang zu verhindern.“ Die Dublin-Verordnung sieht vor, dass
Flüchtlinge in ihrem Aufenthaltsland Asyl beantragen können, wenn die
Abschiebung nicht innerhalb von sechs Monaten erfolgt ist. Die einzige
Möglichkeit also: Kirchenasyl.
## Kirchenasyl riskant?
50 Fälle von Kirchenasyl gab es im Jahr 2012 in Deutschland – Schutz für
105 Personen. Mehr als die Hälfte davon waren sogenannte
Dublin-II-Verfahren, wie in Dingolshausen. Rein rechtlich gesehen ist
Kirchenasyl keine Garantie dafür, dass die Flüchtlinge nicht abgeschoben
werden. Die Polizei kann auch hier eingreifen, aber es passiert selten. In
den letzten 20 Jahren sind alle Kirchenasyle in Bayern – bis auf eine
Ausnahme – geachtet worden.
„Kirchenasyl ist riskant“, sagt Anwalt Schürkens, „nicht nur, weil die
Polizei jederzeit zugreifen kann. Es ist sowohl für die Flüchtlinge als
auch für die Unterstützer eine enorme psychische Belastung.“ Die Gemeinde
muss den Pfarrer überzeugen, Räume finden, Spenden eintreiben, einkaufen
und die Flüchtlinge betreuen. „Denen fällt in ihren meist sehr kleinen
Räumen die Decke auf den Kopf. Vor allem, wenn es ganze Familien sind.
Kirchenasyl, sagt der Anwalt schließlich im Juli zu den Frauen und den
Flüchtlingen, sei „nahezu unmöglich“.
Nahezu unmöglich – das sind die Wörter, die den Ehrgeiz von Sigrid
Fessel-Walter wecken. „Nahezu unmöglich bedeutet, es ist möglich.“
Milan, Magomed und ihre Familien sind weniger kämpferisch, sehen aber keine
andere Möglichkeit: „Wir gehen überall hin, und wenn es ein Kellerloch ist
– Hauptsache, nicht zurück nach Tschetschenien.“
## Schreckliche Monate des Ausharrens
Sigrid Fessel-Walter und Bürgermeister Lothar Zachmann berufen eine
Versammlung ein und schaffen es, noch mehr Dorfbewohner zu überzeugen. Zum
Beispiel Albina Baumann, die in Kasachstan geboren wurde und als Einzige im
Dorf Russisch spricht. Die Rentnerin Inge Königer, die bäckt und mit den
Kindern bastelt. Oder die Gemeinderätin Elisabeth Finster, die Möbel und
Kleider besorgt. Zu neunt gründen die Frauen das „Bündnis für
Menschlichkeit“. Nicht alle im Dorf sind so euphorisch.
Auch die Kirchenvertreter sind zögerlich. Sie tragen letztlich die
Verantwortung, und auf Beihilfe zum illegalen Aufenthalt stehen Geldstrafen
und Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr. Allerdings werden diese Fälle nur
äußerst selten verfolgt. Trotzdem stimmen die Nonnen im Kloster und der
Pfarrer zu – unter der Bedingung, dass das Kirchenasyl „still“ verläuft,
dass also außer der Ausländerbehörde niemand davon erfährt. Auch heute,
nach Ende des Kirchenasyls, wollen weder Pfarrer noch Nonnen darüber
sprechen.
Mitte September zieht Milan mit seiner Familie ins Kloster. Zwei Zimmer,
zwei mal 15 Quadratmeter mit kleinem Bad. In einem Zimmer schlafen sie,
sieben Betten eng aneinandergestellt. Im anderen halten sie sich auf,
beten, lesen, essen, warten. Die ersten zwei Wochen sind für Milan
schrecklich. Die Enge, die Einsamkeit, das Ausgehverbot – alles erinnert
ihn an die Zeit in Tschetschenien.
## Ein erster Sieg
Magomed, seine Frau und das Baby kommen in einem ehemaligen
Besprechungsraum der Kirche unter – 30 Quadratmeter mit kleiner Küche und
kleinem Bad, vor die Tür dürfen sie nicht. „Das Schlimmste war die
Langeweile“, sagt Milan. Wenn er über die Zeit im Kloster spricht, zieht er
sich zusammen. Krummer Rücken, Arme vor der Brust verschränkt, Blick auf
den Boden. Sein Deutsch ist gebrochen, er versteht viel, spricht aber nur
wenig. Albina Baumann ergänzt und führt seine Sätze zu Ende. „An guten
Tagen dachte ich: Ich hab fünf Kinder, die werden uns doch nicht einfach
abschieben? An schlechten dachte ich: Ich habe fünf Kinder – die nehmen
doch hier keine sieben Tschetschenen auf einmal.“
Fünf Monate lang verharren die Familien in ihren Unterkünften. Die
Bündnisfrauen kommen jeden Tag. Ende Januar kommt der Brief vom Bundesamt
für Migration: Die Asylverfahren werden nun in Deutschland geführt. „Auf
diesen Moment hatten wir so lange gewartet“, sagt Sigrid Fessel-Walter. „Da
fiel eine unheimliche Last von uns ab.“
Einige Wochen später, an einem verregneten Samstagnachmittag, sitzen die
beiden Familien wieder in dem Haus in Dingolshausen, wo sie zuerst gewohnt
haben. Holzvertäfelte Decken, die Fototapete an der Wand zeigt den
bayerischen Wald. Die Deckenlampen sind von Hirschgeweihen umfasst, in
einer Vitrine stehen Bierkrüge – bayerischer könnten die Tschetschenen kaum
wohnen. Es ist der 26. Geburtstag von Magomed. „Aber auch so etwas wie mein
erster“, sagt er, „mein erster in Freiheit.“ Magomed möchte in
Dingolshausen bleiben. „Hier hab ich Freunde gefunden.“ Er möchte Geld
verdienen, als Bauarbeiter, seine Kinder sollen in die Schule gehen, seine
Frau einen guten Arzt finden.
So ausgelassen die Stimmung an diesem Tag ist, allen ist klar, dass viel
Arbeit vor ihnen liegt. Zwei bis drei Jahre dauert das Asylverfahren,
schätzt Anwalt Schürkens, und es ist nicht sicher, dass die Familien dann
bleiben dürfen. Ihr Sohn hätte neulich gesagt, erzählt Sigrid Fessel-Walter
am Geburtstagstisch, ihr Engagement mit den Flüchtlingen sei wie in der
Bundesliga. Den Aufstieg in die erste Liga hätten sie jetzt schon mal
geschafft. Aber das Schwierige sei, in der Liga zu bleiben. „Wenn das so
ist, dann wärmen wir uns jetzt eben auf, für die kommende Saison.“
23 Mar 2014
## AUTOREN
Anne Fromm
## TAGS
Abschiebung
Asylverfahren
Dublin-System
Kirchenasyl
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