# taz.de -- Kommunalwahlen in der Türkei: Kalif in Panik | |
> Die Opposition will Erdogans Ende einläuten. Doch die aussichtsreiche CHP | |
> hat Berührungsängste nach links und hofft auf die Gülen-Bewegung. | |
Bild: Anhängerinnen der Opposition in Istanbul. | |
Noch drei Tage bis zu den Kommunalwahlen, es ist Mittwochabend. Im | |
Istanbuler Vorort Cekmeköy warten einige hundert Anhänger der größten | |
Oppositionspartei CHP auf einen Auftritt des Istanbuler Kandidaten für das | |
Amt des Oberbürgermeisters, Mustafa Sarigül. Pünktlich rollt der Parteibus | |
an, es werden zwei kurze Reden gehalten, und schon geht es weiter. Solche | |
Auftritte von der Plattform ihres Wahlkampfbusses absolvieren Sarigül und | |
der Parteichef Kemal Kilicdaroglu in diesen letzten Tagen des Wahlkampfs zu | |
Dutzenden am Tag. | |
Die CHP kämpft, aber sie hat ein großes Problem. Während Ministerpräsident | |
Recep Tayyip Erdogan jeden Tag mit einer Wahlkampfrede mindestens eine | |
Stunde lang im Staatsfernsehen übertragen wird, muss sich die CHP wie die | |
anderen Oppositionsparteien auch mit kurzen Meldungsschnipseln im Fernsehen | |
begnügen. Dieses Defizit kann sie nur im direkten Kontakt mit dem Wähler | |
versuchen, ein wenig auszugleichen. | |
Die CHP-Anhänger in Cekmeköy geben sich zuversichtlich. Die Partei habe | |
gute Chancen dieses Mal, denn schon 2009 sei die AKP nur durch Betrug | |
stärkste Partei in Cekmeköy geworden. Nach der Wahl habe man ganze Säcke | |
mit Stimmzetteln im Müll gefunden, alle hatten ihr Kreuz bei der CHP. Der | |
unterlegene Kandidat klagte wegen Wahlbetrugs, doch vergeblich. Jetzt, da | |
sowieso die ganze Türkei über Korruption und Betrug durch Erdogan und die | |
AKP redet, jetzt muss es doch klappen mit dem Wechsel im Rathaus. | |
Dieser Kommunalwahlkampf wird längst nicht mehr nur darum geführt, welche | |
Partei in welcher Stadt den Bürgermeister stellen wird. Zur Entscheidung | |
steht die Zukunft des ganzen Landes, denn letztlich geht es um das | |
politische Überleben von Erdogan, dem Mann, der während der letzten zwölf | |
Jahre die Türkei geprägt hat wie kaum ein anderer vor ihm. Doch inzwischen | |
steht Erdogan mit dem Rücken zur Wand. | |
Nach den landesweiten Protesten im letzten Sommer, aus der die | |
Gezi-Bewegung als neue zivile Opposition hervorging, und seiner vor keiner | |
Denunziation und Drohung zurückschreckenden [1][Auseinandersetzung mit der | |
Gülen-Sekte] – der größten islamischen Bewegung des Landes, die im Zuge | |
dieses innerislamischen Kampfes um die Macht im Staat die Korruptionsfälle | |
der Regierung und der Erdogan-Familie an die Öffentlichkeit brachte – | |
kämpft Erdogan um seine politische Zukunft. Sollte er verlieren, würde ihn | |
das wohl nicht nur sein Amt kosten, sondern auch eine Anklage wegen | |
Korruption einbringen, die ihn direkt ins Gefängnis katapultieren könnte. | |
Wann also, wenn nicht jetzt, schlägt die Stunde der Opposition? | |
## Die Bürde der CHP | |
Doch der CHP-Chef und der Bürgermeisterkandidat für Istanbul kämpfen nicht | |
nur gegen Erdogan, sie kämpfen auch gegen die Geschichte ihrer Partei, und | |
die macht es ihnen schwer, enttäuschte AKP-Wähler zu sich herüberzuziehen. | |
Die CHP ist die von Atatürk gegründete ehemalige Staatspartei, die in den | |
30er und 40er Jahren des letzten Jahrhunderts die säkulare Modernisierung | |
der Türkei durchgesetzt hat. Seit der Einführung des Mehrparteiensystems | |
Anfang der 50er Jahre hat die CHP es bei allen Häutungen nie ganz | |
geschafft, ihr Erbe als Staatspartei, ihre Kollaboration mit dem Militär, | |
ihre Arroganz gegenüber der kurdischen Minderheit und den religiösen | |
Unterschichten abzulegen und tatsächlich zu einer modernen | |
sozialdemokratischen Massenpartei zu werden. | |
Sie wird von säkularen Leuten und der alevitischen Minderheit gewählt, die | |
an einem säkularem Staat interessiert ist, der sie vor der sunnitischen | |
Mehrheit schützt. Das macht im besten Fall 30 Prozent der türkischen | |
WählerInnen aus. | |
Die konservativen Sunniten indessen wählen eine Mitte-rechts-Partei. Wenn | |
es einer Partei, wie jetzt der AKP seit mehr als zehn Jahren, gelingt, | |
dieses Potenzial allein auf sich zu vereinen, kann sie mit rund 45 Prozent | |
rechnen. Jenseits dieser beiden Hauptströmungen gibt es die | |
Ultranationalisten, die in der MHP organisiert sind, kleinere linke Gruppen | |
und die Millionen Menschen umfassende kurdische Minderheit, die meist | |
ethnisch, also eine kurdische Partei wählen. | |
## Neue linke Partei | |
In Istanbul und anderen Städten in der Westtürkei tritt dieses Mal die neu | |
gegründete HDP an. Das ist ein Zusammenschluss aus linken Gruppen mit der | |
kurdischen Partei BDP. Auch viele Gezi-Aktivisten unterstützen die HDP, | |
deren Kandidat in Istanbul, Sirri Sürreya Önder, bei den Gezi-Protesten | |
eine wichtige Rolle gespielt hat. CHP und HDP gemeinsam hätten wohl die | |
Chance, der AKP Istanbul abzunehmen. Doch zwei Tage vor den Wahlen sieht es | |
nicht danach aus. | |
Innerhalb der türkischen Linken, der Gezi-Bewegung und auch unter den in | |
der Westtürkei lebenden Kurden, ist viel darüber diskutiert worden, dieses | |
Mal CHP zu wählen, um Erdogan loszuwerden. Ende letzten Jahres hat es | |
inoffizielle Gespräche zwischen CHP und HDP gegeben, die, wie ein | |
hochrangiger HDP-Mitarbeiter vertraulich erzählte, zu nichts geführt haben, | |
weil die CHP kein offizielles Bündnis mit der HDP wollte. | |
Aber auch in der HDP gibt es massive Vorbehalte gegenüber der CHP, die den | |
Kurden nach wie vor als viel zu nationalistisch gilt. Erst vor wenigen | |
Tagen hat der historische Führer der PKK, Abdullah Öcalan, einen Brief aus | |
dem Gefängnis verlesen lassen, in dem er die Kurden aufforderte, beim | |
Friedensprozess weiter auf Tayyip Erdogan zu setzen. Damit war eine | |
Unterstützung der CHP durch die HDP vom Tisch. | |
Es gibt es aber Indizien dafür, dass auch die CHP ihre Bündnisse eher auf | |
der Rechten, als bei den Kurden und Linken sucht. In Ankara, der nach | |
Istanbul wichtigsten Stadt des Landes, hat die CHP einen früheren MHP-Mann | |
als Kandidaten für das Amt des Oberbürgermeisters aufgestellt und hofft so, | |
im rechten und konservativen Spektrum punkten zu können. | |
Das ist in Istanbul anders. Mustafa Sarigül ist im Rahmen der CHP ein | |
Modernisierer, den man sich eher als Schröder-Typen, denn als | |
nationalistischen Kemalisten vorstellen muss. Die Bezeichnung „Genosse der | |
Bosse“ würde für Sarigül gut passen, der seit mehr als zehn Jahren den | |
reichen Istanbuler Bezirk Sisli mit guten Kontakten zu alteingesessenen | |
Istanbuler Unternehmerclans regiert. Die Chance für Sarigül besteht deshalb | |
vor allem darin, neben den klassischen CHP-Wählern die von der AKP | |
enttäuschten Wirtschaftsliberalen im ökonomischen „Power House“ Istanbul | |
für sich zu gewinnen. | |
Doch allzu offensiv wollen die Unternehmer sich nicht auf die Seite | |
Sarigüls stellen, denn sie wissen, dass im Falle des Scheiterns die Rache | |
Erdogans fürchterlich sein wird. Sowohl der Dogan-Clan, der unter anderem | |
die Zeitung Hürriyet, immer noch das säkulare Flaggschiff des Landes, und | |
den Fernsehkanal D kontrolliert, wie auch die Koc-Familie, zu deren | |
Imperium das Divan-Hotel am Gezipark gehört, das während der | |
Auseinandersetzungen um den Park verletzten Demonstranten Zuflucht vor der | |
Polizei gewährte, haben den alttestamentarischen Zorn Erdogans bereits zu | |
spüren bekommen. Dank des gezielten Einsatzes der Steuerfahndung haben sie | |
bislang hunderte Millionen Dollar verloren. | |
## Pakt mit der Gülen-Bewegung | |
Nur hinter vorgehaltener Hand ausgesprochen, setzen Kemal Kilicdaroglu und | |
Mustafa Sarigül deshalb noch auf einen ganz neuen Verbündeten. Nach dem | |
Motto „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“ hofft die säkulare CHP, | |
dass die mächtige islamische Gülen-Bewegung, die sich mit Erdogan derzeit | |
einen „Kampf auf Leben und Tod“ liefert, wie diverse Kolumnisten der großen | |
Zeitungen es formulieren, bei den Wahlen ihren Einfluss für die CHP geltend | |
macht. | |
Nicht allzu offensichtlich und doch unübersehbar, wird die CHP in den | |
Medien der Cemaat (Gemeinde), wie die Gülen-Truppe genannt wird, gelobt und | |
gestreichelt. Vor allem Mustafa Sarigül kommt bei Kommentatoren der | |
Gülen-Zeitung Todays Zaman regelmäßig gut weg. Insider erzählen, dass die | |
Millionen von Gülen-Anhängern aufgefordert werden, bei den Kommunalwahlen | |
immer den jeweils aussichtsreichsten Gegenkandidaten der AKP zu wählen. | |
Viele AKP-Bürgermeisterkandidaten verfluchen deshalb insgeheim Erdogans | |
kompromisslosen Kampf gegen die Gülen-Bewegung, weil sie Angst haben, | |
dadurch die entscheidenden Prozente zu verlieren. Doch Erdogan denkt gar | |
nicht daran, zurückzustecken. Bei jedem Wahlkampfauftritt geißelt er die | |
Gülen-Leute als islamische Heuchler und Verräter und kündigt an, nach | |
gewonnener Wahl gnadenlos mit ihnen abzurechnen. | |
Der Einsatz ist deshalb bei allen Beteiligten hoch. Die gesamte Türkei | |
wartet gebannt auf Montag, den Tag danach. | |
28 Mar 2014 | |
## LINKS | |
[1] /Machtkampf-in-der-Tuerkei/!130115/ | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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