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# taz.de -- Solidarität in Berlin: „Gezi hat die Türken politisiert“
> Die Gezi-Proteste in der Türkei haben auch Berlin bewegt - in einem Buch
> über den "türkischen Sommer in Berlin" spüren Ebru Tasdemir und Canset
> Icpinar dem nach.
Bild: Solidarität mit den Protestierenden in der Türkei: Demonstrierende am K…
taz: Frau Tasdemir, Frau Icpinar, im vergangenen Sommer sind ausgehend vom
Gezipark in der Türkei landesweite Proteste gegen den autoritären
Regierungsstil des Ministerpräsidenten Erdogan ausgebrochen. Auch in Berlin
gab es Demonstrationen. Wie haben Sie die Protestwelle hier erlebt?
Ebru Tasdemir: Bezeichnend war, dass am 31. Mai [als Polizisten gewaltsam
den Gezipark in Istanbul stürmten, Anm. d. Red.] sofort eine Demonstration
in Berlin am Kottbusser Tor stattfand. Dabei waren rund 500 bis 600
Studenten aus Istanbul. Schon am nächsten Tag gab es eine weitere
Demonstration mit fast 5.000 Menschen. Als dann am 16. Juni der Gezipark
brutal geräumt worden war, kam es zu einer Demonstration mit rund 10.000
Menschen, die von Kreuzberg bis vor die türkische Botschaft in Tiergarten
führte. Spätestens im Juli ebbten die Demonstrationen dann ab.
Wer war alles unter diesen Demonstrierenden?
Tasdemir: Auffallend war, dass am Anfang viele Proteste zusammengeführt
wurden: Aleviten, Sunniten, Kurden, Kemalisten, Linksnationalistische,
Atheisten, AKPler und Fußballfans türkischer Clubs. Das wäre vorher nie
denkbar gewesen. Diese anfängliche Solidarität unter den Türken hat hier
aber recht schnell wieder nachgelassen. Ansonsten wurden die Proteste
natürlich auch durch Linke, Autonome, nichttürkische und unpolitische
Menschen begleitet.
Sie schreiben in Ihrem Buch auch von Streitigkeiten innerhalb von Familien:
Regierungsanhänger gegen Gezi-Sympathisanten. Wie sahen da die
Auseinandersetzungen aus?
Canset Icpinar: Gerade in Familien, in denen sowohl rechte, konservative,
religiöse als auch linke Ansichten vorkommen, war es teilweise sehr heftig.
Viele sind sich zu der Zeit dann auch aus dem Weg gegangen. Zumindest kann
ich das aus dem näheren Umfeld und aus Gesprächen mit vielen Familien
berichten.
Haben solche Begegnungen und auch Auseinandersetzungen das Verhältnis der
Türken in Berlin untereinander langfristig verändert?
Icpinar: Nachhaltige Veränderungen im Sinne einer Annäherung gab es unter
den ganz unterschiedlichen türkischen Gruppierungen leider nicht. Aber ich
denke, gesehen zu haben, wie unterschiedlich die Gruppierungen der hier
lebenden Türken sind, hat den Blick auf die türkische „Community“
verändert.
Wie haben diese Protestformen gegen eine – zumindest in der Türkei –
gewaltsame Staatsmacht auf Sie gewirkt?
Tasdemir: Uns war zu Beginn noch gar nicht klar, dass wir ein Buch über die
Proteste schreiben werden. Aber Gezi hat so eine Kraft in der Türkei
hervorgebracht, vor allem was den friedlichen und kreativen Protest angeht.
Das fand ich spannend. Entscheidend war für uns dann aber zu fragen, was
bei uns passiert, was die Proteste in der Türkei bei den türkischstämmigen
Menschen hier ausgelöst haben.
Das Vorgehen der türkischen Polizei, was hat das bei den Berliner Türken
ausgelöst?
Icpinar: Gezi hat in Berlin ein Stück weit die hier lebenden Türken
politisiert. Auf einmal sind viele Menschen auf die Straße gegangen, die
vorher niemals auf einer Demonstration waren. Diese Auswirkungen auf die
Türken in Berlin versucht das Buch zu fassen.
Tasdemir: Man darf nicht vergessen, dass viele hier wegen der Brutalität
der Staatsmacht sehr angespannt waren – allein weil viele Verwandte in den
damals betroffenen Städten leben. Und um diese Anspannung loszuwerden und
sich solidarisch zu zeigen, ist es das Einfachste, in den öffentlichen Raum
zu gehen. Genau so, wie es die Menschen in der Türkei getan haben.
Icpinar: Jeder hat natürlich, so wie auch in der Türkei, unterschiedliche
Gründe gehabt, mitzuprotestieren. Hier waren Studenten aus der Türkei mit
einer großen emotionalen Nähe zum Herkunftsland. Dann die hier
Eingewanderten, die sich bis heute für die politischen Verhältnisse in der
Türkei eher interessieren als für die deutschen. Und was diejenigen angeht,
die hier geboren und aufgewachsen sind: Sie kennen das Land aus dem Urlaub
– also ein entspanntes Verhältnis –, vielleicht schon mit einem Interesse
an den politischen Geschehnissen dort. Aber erst durch Gezi wurde auch eine
emotionale Verbundenheit mit den politischen Zuständen in der Türkei
spürbar.
In Ihrem Buch zitieren Sie die Schriftstellerin Sema Kaygusuz, die über die
Proteste in der Türkei schrieb: „Ich bin 41 Jahre alt und habe nun zum
ersten Mal ein Land.“ Auch Sie schreiben: „Vielleicht fühlten wir uns das
erste Mal wirklich mit dem Land verbunden.“ Können Sie dieses Gefühl
beschreiben?
Icpinar: Viele Berliner Türken waren begeistert vom Mut und Tatendrang der
Demonstranten in der Türkei, fühlten sich emotional verbunden – und
plötzlich merkten besonders junge Menschen: Ich bin vielleicht doch
verbundener mit dem Herkunftsland meiner Eltern, als ich es gedacht hatte.
Tasdemir: Für mich persönlich kann ich sagen: Da waren so viele Menschen,
mit denen ich mich identifizieren konnte. Menschen, die sich einen Tag nach
der brutalen Räumung des Parks wieder dorthin begaben und den Polizisten
Bücher vorlasen. Überhaupt waren die Proteste gekennzeichnet durch
Friedlichkeit und Kreativität. Diese Momente der Schönheit und
Menschlichkeit haben mich sehr bewegt.
Twitter- und Youtube-Sperren, Korruptionsskandale, in den letzten Monaten
ist es in der Türkei wieder zu landesweiten Protesten gekommen. Gab es
erneut vergleichbare Solidaritätsbekundungen in Berlin wie vergangenes
Jahr?
Tasdemir: Gezi reloaded? Eher nicht. Jetzt am 11. März, als Berkin Elvan
starb [der 15-Jährige wurde bei den Protesten von einer Tränengaspatrone
verletzt und starb nach neunmonatigem Koma, Anm. d. Red.], hatten wir
wieder kurzzeitig das Gefühl, dass hier die Zeit stehen bleibt. Am Abend
versammelten sich Hunderte von Menschen in vielen Städten Deutschlands und
natürlich in Berlin und trauerten. Am Folgetag waren abends erneut ein paar
hundert Menschen am alevitischen Gotteshaus und am Kottbusser Tor. Aber
gegen die Twitter- und Youtube-Sperre gehen Berliner eher nicht auf die
Straße.
Am Wochenende waren Kommunalwahlen in der Türkei – wie sieht die Stimmung
innerhalb der türkischen Community hier aus?
Tasdemir: Die türkische Community gibt es nicht, genauso wenig, wie es nur
eine türkische Gesellschaft gibt. Fakt ist aber, dass die türkische
Innenpolitik einen Großteil der Gespräche hier ausmacht. Und auffällig
viele junge Leute aus Berlin wollen im August an der Wahl des
Staatspräsidenten teilnehmen. Und zu den Kommunalwahlen – spätestens wenn
man die Autokorsos der jubelnden AKP-Anhänger am Hermannplatz hört, ist für
mich eindeutig klar: Gezi und die Nachbeben, das bleibt ein Thema in
Berlin.
31 Mar 2014
## AUTOREN
Baran Korkmaz
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