# taz.de -- Debatte Kommunalwahl Türkei: Erdogan dreht frei | |
> Ob der Ministerpräsident eine Wahlniederlage überhaupt akzeptieren wird? | |
> Die Opposition ist skeptisch und schickt Tausende Beobachter ins Land. | |
Bild: Erdogan ist nach wie vor der Held der Straße – und sieht die Kommunalw… | |
Das ist das Bild, das die Türkei in diesen Tagen bietet: Ministerpräsident | |
Tayyip Erdogan schlägt wild um sich und wird trotzdem jeden Tag aufs Neue | |
auf den Marktplätzen der Republik von Hunderttausenden fanatisch bejubelt. | |
Dabei wissen inzwischen alle, dass Erdogan über Staatsaufträge und die | |
damit verbundenen Schmiergelder entscheidet wie über seine private | |
Haushaltskasse und Taschengeld für die Kinder. | |
Er schert sich auch nicht mehr um die internationale Meinung und deutet | |
sich und seine Anhänger zu nationalen Widerstandshelden um, die sich der | |
Anmaßung des Westens in den Weg stellten. Wird ein solcher Mann eine | |
Wahlniederlage überhaupt akzeptieren? | |
Das ist die erste und beängstigendste Frage, die sich die meisten | |
Erdogan-Gegner in diesen Tagen stellen. Ein Premier, der die | |
Ermittlungsrichter feuert und die Unabhängigkeit der Justiz per Gesetz | |
beseitigen lässt, wenn ein Korruptionsverfahren ihm gefährlich werden | |
könnte, warum sollte der die Unabhängigkeit der Wahlkommission | |
respektieren? Die türkischen Oppositionsparteien reagieren auf diese | |
Bedrohung mit Tausenden von Wahlbeobachtern, die am kommenden Sonntag die | |
Wahlurnen und die Auszählung im Auge behalten sollen. | |
Einmal unterstellt, eine entscheidungsrelevante Manipulation kann darüber | |
verhindert werden, welche Lösung der türkischen Misere könnten die | |
bevorstehenden Wahlen bringen? Immerhin ist die Kommunalwahl am kommenden | |
Sonntag nur der Auftakt zu einer ungleich wichtigeren Präsidentschaftswahl | |
in diesem August. | |
## Entscheidung fällt in Istanbul | |
Erdogan selbst, der übrigens seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahl | |
noch nicht offiziell erklärt hat, betrachtet die Kommunalwahlen als | |
Referendum über seine Person. Entschieden wird dieses in den drei größten | |
Städten des Landes: Istanbul, Ankara und Izmir. Die westlichste Metropole | |
der Türkei, Izmir, ist und bleibt eine sichere Bank für die säkulare | |
Oppositionspartei CHP. Das steht fest. | |
Der Aufstieg des politischen Islams in der Türkei begann 1994, als die | |
damalige islamisch-nationalistische Partei von Necmettin Erbakan die Wahlen | |
in Ankara und Istanbul gewann. Erdogan wurde Bürgermeister von Istanbul und | |
ein gewisser Melih Gökcek Bürgermeister regiert seitdem Ankara. Verliert | |
Erdogan jetzt Istanbul, wäre das der Anfang von seinem Ende, doch bislang | |
sagen die Umfragen, dass er Istanbul knapp gewinnen wird. | |
Ankara indessen könnte an die Opposition gehen. Der seit 20 Jahren | |
regierende Gökcek ist inzwischen weithin verhasst, und die CHP hat einen | |
rechtskonservativen Kandidaten aufgestellt, der viele AKP-Stimmen an sich | |
binden dürfte. Der Verlust der Hauptstadt wäre eine Warnung an die AKP, | |
aber noch nicht der Moment, an dem Panik in der Partei ausbräche – | |
vorausgesetzt Istanbul bleibt in ihrer Hand. Dann wird Erdogan auch sicher | |
für die Präsidentschaft kandidieren. | |
Erfüllt sich dieses Szenario, dann kommt es weniger auf die Opposition als | |
vielmehr die Kritiker Erdogans innerhalb der AKP an. Alle Blicke werden | |
sich auf den amtierenden Präsidenten Abdullah Gül richten. Erdogan und Gül | |
sind die beiden wichtigsten Gründungsfiguren der AKP. Jahrelang arbeiteten | |
sie perfekt zusammen. | |
## Entscheidung fällt in Istanbul | |
Erdogan war der Mann, der aggressiv nach vorne stürmte und Widersacher aus | |
dem Weg räumte, Gül der Moderator, der die Scherben auflas. Doch seit den | |
Gezi-Protesten im letzten Sommer und vor allem seit Beginn des | |
innerislamischen Kampfes zwischen Erdogan und der islamistischen | |
Gülen-Bewegung zeigen sich mehr und mehr Risse im Gül-Erdogan-Bündnis. | |
Erdogan ist nach wie vor der Held der Straße. Die oftmals ungebildeten | |
Armen aus den Vorstädten verehren ihn geradezu fanatisch. Die islamische | |
Elite ist dagegen ziemlich abgegessen vom großen Führer. Erdogans Kampagne | |
einer internationalen Verschwörung gegen die Türkei ist Gift für den | |
Finanzplatz am Bosporus und die erfolgreichen, global vernetzten Konzerne | |
des Landes, zu denen mittlerweile auch etliche islamische Aufsteiger | |
gehören. | |
Auch Präsident Gül kritisierte erst jüngst Erdogans Verschwörungstheorien | |
als unsinniges Gerede, das die Türkei auf das Niveau eines Drittweltstaates | |
bringe. Genauso verurteilte er das Twitter-Verbot. Für die islamische Elite | |
und für die radikal-islamische Gülen-Bewegung, deren Chef in den USA sitzt, | |
wäre er die optimale Alternative zu Erdogan. Die Gülen-Bewegung ist ja | |
nicht gegen die AKP, sondern will eine AKP ohne Erdogan. | |
## Gül, der feige Opportunist | |
Die gibt es aber nur, wenn Präsident Gül sich an die Spitze eines Prozesses | |
stellt, der die AKP in den populistischen Erdogan-Flügel und den | |
vernünftigen, moderaten Gül-Flügel spaltet. Bislang aber hat Gül noch jedes | |
Gesetz der Regierung am Ende unterschrieben, auch die Verschärfung der | |
Internetzensur und die Abschaffung der Unabhängigkeit der Justiz. Er ist | |
ein vorsichtiger Taktiker – Kritiker nennen ihn einen feigen Opportunisten | |
– und deshalb ist es fraglich, ob er sich aus der Deckung wagen wird. | |
Wahrscheinlicher ist deshalb ein langsames Zerbröckeln der Macht Erdogans. | |
Da seine eigene Partei es nicht verhindert und die Opposition keinen | |
Kandidaten hat, der gegen Erdogan bestehen könnte, wird er wohl im Sommer | |
zum Präsidenten gewählt werden. Dann aber muss er den Parteivorsitz | |
aufgeben, weil ein Präsident qua Verfassung keiner Partei angehören darf. | |
Die operative Politik wanderte damit in neue Hände. | |
Gelingt es Erdogan, einen treuen Gefolgsmann zu installieren, oder wählt | |
die Partei einen Ministerpräsidenten, der seinen eigenen Kopf hat? Genau an | |
dieser Frage wird der Machtkampf in der AKP ansetzen und in der | |
Auseinandersetzung wird auch Gül eine entscheidende Rolle spielen. Sei es, | |
dass er selbst als Ministerpräsident antritt oder einen Kandidaten von | |
seinem Flügel durchsetzt. | |
Legitimiert werden muss dieser Ministerpräsident aber in jedem Fall bei den | |
Parlamentswahlen im Frühjahr 2015. Und dann endlich kommt auch die Stunde | |
der Opposition. Erstmals seit die AKP 2002 an die Regierung kam, besteht | |
die Chance, dass die sozialdemokratisch-kemalistische CHP die AKP an der | |
Regierung ablösen oder aber in eine Koalitionsregierung mit einer vom | |
Gül-Flügel geprägten AKP einsteigen könnte. Das wäre dann das Aus für | |
Erdogan. | |
25 Mar 2014 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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