# taz.de -- Wahlkampf des türkischen Premiers: Der Gebieter | |
> Mein Land, meine Wahlen, mein Luftraum – Erdogan geht rigoros gegen seine | |
> Feinde vor. Am Sonntag lässt er sich dafür von Anhängern in Istanbul | |
> bejubeln. | |
Bild: Trotz großer Gesten von Erdogan will sich eine Volksfeststimmung beim Wa… | |
ISTANBUL taz | „Erdogan? Wir lieben Erdogan!“ Fast hysterisch schreit die | |
Frau ihr Bekenntnis zum großen Führer in das Mikrofon einer AKP-nahen | |
Fernsehanstalt. Die in ganz Schwarz Gehüllte, deren Gesicht nur zum Teil zu | |
sehen ist, gehört zu einem Block verschleierter Frau, die im Gleichschritt | |
zu dem neuen Veranstaltungsplatz in Istanbul marschieren. | |
Der Platz im Stadtteil Yenikapi, auf dem der türkische Ministerpräsident am | |
Sonntag den Höhepunkt seines Kommunalwahlkampfs zelebrierte, ist selbst | |
Teil des Programm von Recep Tayyip Erdogan: eine riesige, neu | |
aufgeschüttete Halbinsel, die wie eine Beule unterhalb der historischen | |
Halbinsel Istanbuls ins Marmarameer hineinragt. Mehr als eine Million | |
Menschen wollte der Erdogan-Partei AKP hier zu einer Großkundgebung | |
zusammenbringen. Dieses Ziel hat die konservativ-muslimische | |
Regierungspartei trotz perfekter Organisation weit verfehlt: Der in eine | |
Frauen- und eine Männerabteilung geteilte Platz war zwar gut gefüllt – die | |
Volksfeststimmung früherer Jahre aber wollte sich nicht einstellen. | |
Offenbar haben die Auseinandersetzungen der letzten Monate auch im Anhang | |
des Ministerpräsidenten Spuren hinterlassen. Diejenigen, die zu seiner | |
Kundgebung kommen, sind nicht mehr die Neugierigen von früher, nicht mehr | |
diejenigen, die auf Einladung der Partei feiern wollen. Es sind die | |
überzeugten Erdoganisten, diejenigen, die nach der durch Erdogan | |
betriebenen Spaltung der türkischen Gesellschaft jetzt umso treuer zu ihrem | |
konservativ-religiösen Premier stehen. | |
Darunter sind viele Frauen – Kopftuchmädchen lieben Erdogan, weil er | |
angeblich für ihre „Befreiung“ gesorgt hat. Auf die Frage, ob sie Twitter | |
nutzt, schüttelt eine von ihnen geradezu angewidert mit dem Kopf. „Nein, | |
Twitter greift uns an. Twitter ist ein Feind“, meint sie aufrichtig empört. | |
## Megalomanische Visionen | |
Der Platz, den Erdogan in Yenikapi hat anlegen lassen ist gigantisch – | |
locker zehn Fußballarenen würden darauf passen. Die neue Halbinsel ist Teil | |
der Modernisierung Istanbuls, wie der Premier sie sich vorstellt: Möglichst | |
groß, möglichst viel Beton und am allerliebsten als Superlativ. Den größten | |
Flughafen der Welt will er bauen und dafür die letzten Wälder in der | |
Umgebung der Bosporus-Metropole abholzen lassen. Überhaupt reicht die | |
natürliche Meerenge für Erdogans Vorstellung nicht mehr aus: Er plant, | |
einen zweiten Bosporus bauen zu lassen, einen Kanal vom Schwarzen Meer ins | |
Marmarameer, der fast die Dimensionen des Panamakanals erreichen würde. | |
Nicht zuletzt diese megalomanischen Visionen waren es, die die Proteste | |
gegen Erdogan im Sommer in Gang gesetzt haben – und dazu führten, dass sie | |
sich auf das ganze Land ausdehnten, als Erdogan die Demonstrationen brutal | |
zusammenknüppeln ließ. Dieses Muster hat sich bis heute fortgesetzt: Egal, | |
ob es um Proteste gegen seine Politik oder Vorwürfe wegen Korruption geht – | |
der Premier reagiert mit kompromissloser Härte. | |
Erdogan ließ Hunderte Polizisten und Staatsanwälte feuern und durch enge | |
Gefolgsleute ersetzen, um die Verfolgung von Korruptionsvorwürfen unmöglich | |
zu machen. Nachdem die großen Fernsehstationen und Printmedien durch | |
politischen und ökonomischen Druck auf Linie gebracht worden waren, blieben | |
der Opposition zur Artikulation von Kritik nur noch die sozialen Medien. | |
Und die werden genutzt: Seit Wochen werden auf dem Internet-Videoportal | |
YouTube Telefonmitschnitte veröffentlicht, die einen Abgrund an Korruption | |
und Misswirtschaft in der Regierung Erdogan, unter den engsten politischen | |
Freunden des Premiers und selbst innerhalb von dessen eigener Familie | |
offengelegt haben. Über den Kurznachrichtendienst Twitter wird auf die | |
YouTube-Mitschnitte verwiesen, so dass fast alle interessanten Nachrichten | |
nur noch über Twitter laufen. | |
Doch als die Nutzer am Freitagmorgen ihre Smartphones anschalteten, um sich | |
wie gewohnt dort auf den letzten Stand zu bringen, mussten sie feststellen, | |
dass der Zugang gesperrt war. Das ließ sich zwar zunächst technisch einfach | |
umgehen – doch über das Wochenende verschärfte die staatliche | |
Kommunikationsbehörde der Türkei die Blockade. Seit Sonntag lässt sich | |
Twitter nur noch mit einem ausländischen Zugang erreichen. | |
## „Wir werden gewinnen“ | |
Am Sonntag geht auch Erdogan auf die Kritik an seinem Twitter-Verbot ein. | |
„Mir ist egal, wer es ist. Ich höre gar nicht hin“, rief er | |
Hunderttausenden Anhängern seiner AK-Partei bei einer Wahlveranstaltung in | |
der westtürkischen Stadt Izmit zu. „Dieses Teil, das Twitter heißt, dieses | |
YouTube, dieses Facebook, sie alle haben Familien bis ins Mark verletzt.“ | |
Er verstehe nicht, wie man mit gesundem Menschenverstand solche Webseiten | |
verteidigen könne, sagte Erdogan. „Es gibt dort alle möglichen Lügen“. | |
Als Erdogan am Sonntag mit zwei Stunden Verspätung auf seiner neuen | |
Halbinsel mit einem Hubschrauber einschwebte, hatte er für seine Anhänger | |
eine neue Überraschung parat. „Unsere Luftwaffe“, ließ er die Menge wisse… | |
„hat heute an der syrischen Grenze ein feindliches Flugzeug abgeschossen. | |
Wer in meinen Luftraum eindringt, kommt nicht ungestraft davon.“ Nach der | |
türkischen Justiz, den früheren Freunden der Gülen-Bewegung und der Twitter | |
nutzenden Opposition lässt Erdogan jetzt, eine Woche vor den Wahlen, auch | |
noch auf Flugzeuge des Nachbarstaates schießen. | |
Genauso sicher wie gegenüber Assad gab Erdogan sich gegenüber den | |
türkischen Wählern. „Wir werden die Wahlen gewinnen wie wir auch die | |
vorherigen Wahlen gewonnen haben. Unseren Gegnern werden wir eine wichtige | |
Lektion erteilen, vor allem den Gülen-Anhängern aus den USA. Sie haben uns | |
das Blut ausgesaugt, aber damit ist jetzt Schluss. Mit Allahs Hilfe gehen | |
wir unseren Weg immer weiter.“ Den Istanbuler rief er zu: „Ihr könnt stolz | |
sein auf Istanbul, die Welt schaut auf eure Stadt.“ | |
Die massive Kritik nicht nur im In-, sondern auch im Ausland, macht Erdogan | |
in den Augen seiner Anhänger jedoch nur noch stärker. Unser Führer gegen | |
den Rest der Welt, das hebt auch das eigene Selbstbewusstsein. „Erdogan“, | |
sagt ein junger Mann mit einem Konterfei des Ministerpräsidenten auf dem | |
T-Shirt, „Erdogan hat vor Europa, den USA und erst recht vor Assad keine | |
Angst. Und das ist gut so.“ | |
23 Mar 2014 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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