# taz.de -- Kommentar Twittersperre in der Türkei: Eine Liga mit Pakistan und … | |
> Nie hat der türkische Staat Kosten und Mühe gescheut, sich vor aller Welt | |
> zu blamieren. Aber was will Erdoğan mit der Twittersperre erreichen? | |
Bild: Istanbul: Twitter ist nicht tot. | |
Selbst wenn sie zuweilen den gegenteiligen Eindruck erwecken, ist es den | |
Türken keineswegs egal, was man im Ausland über sie denkt. Ich erinnere | |
mich, wie vor 25 Jahren Verwandte und Bekannte meinen Vater bei Besuchen in | |
der Türkei fragten: „Sag mal, wie sieht die Türkei von Europa betrachtet | |
aus?“ Eine Standardfrage, auf die mein Vater eine Standardantwort parat | |
hatte: „Ungefähr so, wie Pakistan von hier betrachtet aussieht.“ Das war | |
zwar pointiert, kam aber meist nicht so gut an. Denn mit einem [1][Land wie | |
Pakistan] wollten die Leute die Türkei nicht gleichgesetzt wissen, schon | |
damals nicht. | |
Doch die Wahrheit ist: Aus der Ferne betrachtet gehört Türkei in eine Liga | |
mit Ländern wie Pakistan, dem Iran oder China. Nicht im Hinblick auf den | |
Zustand der Zivilgesellschaft, aber im Hinblick auf die Verfasstheit des | |
Staates. Das ist allerdings nicht erst seit [2][Antritt der AKP-Regierung] | |
so. | |
Ob der Dichter Nazım Hikmet, der Romancier Orhan Kemal, der Maler Abidin | |
Dino, der Musiker Ruhi Su oder der Regisseur Yılmaz Güney – seit Gründung | |
der Republik ließ sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, der Rang | |
türkischer Künstler zuverlässig an der Zahl der Jahre ablesen, die sie in | |
türkischen Gefängnissen eingekerkert waren. Meist lautete die Anklage | |
kommunistische Umtriebe, später „Separatismus“. | |
Nie hat der türkische Staat Kosten und Mühe gescheut, sich vor aller Welt | |
zu blamieren (um hinterher über seinen schlechten Ruf zu jammern). Und in | |
einem Land, in dem selbst seine (internationale) Bekanntheit einen Künstler | |
nicht vor Verfolgung schützte, waren alle anderen erst recht Gefängnis und | |
Folter ausgeliefert. | |
Noch vor einem Jahrzehnt wurden die Schriftstellerin Elif Şafak, der | |
spätere Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk oder der armenisch-türkische | |
Publizist Hrant Dink wegen „Verunglimpfung des Türkentums“ vor Gericht | |
gestellt. Diese Prozesse führte die alte kemalistische Justiz. Ein paar | |
Jahre später war die mit einem anderen Personal besetzt. Nun gingen | |
Staatsanwälte aus den Reihen der islamischen Gülen-Bewegung – | |
[3][größtenteils dieselben Leute], die später die Korruptionsermittlungen | |
gegen führende Mitglieder der AKP-Regierung einleiten sollten – gegen | |
regierungskritische Intellektuelle vor. | |
## Geübt, Sperren zu umgehen | |
Größtenteils, aber nicht ausschließlich traf es Kemalisten und Kurden; | |
angeklagt wurden etwa die Journalisten [4][Ahmet Şık] oder [5][Mustafa | |
Balbay]. Und der hanebüchene Prozess gegen die Soziologin [6][Pınar Selek] | |
bewies Kontinuität: Das Verfahren begann 1998, letztinstanzlich zu | |
lebenslanger Haft verurteilt wurde sie [7][Anfang 2013]. | |
Ihren 154. Platz auf der [8][Rangliste der Pressefreiheit] der Organisation | |
Reporter ohne Grenzen – sechs Plätze hinter Russland, vier vor Pakistan – | |
hatte sich die Türkei also schon vor dem Donnerstagabend redlich verdient, | |
als der Zugang zu Twitter [9][blockiert wurde]. | |
Nun sind die türkischen User darin geübt, Internetsperren zu umgehen, | |
weshalb in der Türkei Twitter jetzt [10][keineswegs tot ist]. Auch der | |
Regierung dürfte es dämmern, dass sie Twitter nicht vollständig bändigen | |
kann. Doch ihr dürfte es um den größeren Rest der türkischen Gesellschaft | |
gehen. Denn so verbreitet Twitter in der Türkei auch ist – der größere Teil | |
der Menschen hat die kompromittierenden [11][Tonbandmitschnitte] nie gehört | |
haben, weil diese außerhalb kleiner oppositioneller Sender nicht im | |
Fernsehen ausgestrahlt wurden. | |
Ganz so, als würde man dem Staffelfinale einer Fernsehserie | |
entgegenfiebern, spekulieren die Leute, welches Schmankerl sich die | |
mutmaßlichen Urheber der Tonbandveröffentlichungen, die Gülenisten, vor der | |
Kommunalwahl am 30. März wohl aufgehoben haben. Oben auf der Gerüchteliste | |
stehen Sexvideos oder Enthüllungen darüber, dass der Tod des | |
islamistisch-nationalistischen Politikers Mushin Yazıcıoğlu im März 2009 | |
kein Unfall gewesen sei, sondern ein – womöglich von höchster Stelle | |
angeordneter – Mord. Mit der jüngsten dürfte die Regierung bezwecken, vor | |
dem großen Finale den Fluss von Informationen aus Twitter in den Rest der | |
Gesellschaft soweit wie möglich zu drosseln oder zumindest zu verlangsamen. | |
Und womöglich will Erdoğan noch etwas anderes: Proteste provozieren. Schon | |
kursieren unter dem Hashtag [12][#TwitterİcinSokağaCıkıyoruz] Aufrufe zu | |
Demonstrationen, bereits nach der ersten Ankündigung hatten User | |
geantwortet: „[13][Dann gehen wir halt auf die Straße].“ Genau das aber | |
könnte Erdoğan wollen, um sodann, unter dem Eindruck neuer Ausschreitungen, | |
vor der Wahl die eigenen Anhänger um sich zu scharen. Denn unter einem Teil | |
von ihnen herrscht infolge der Korruptionsvorwürfe Irritation, ob sie nun | |
einen Twitter-Account haben oder nicht. | |
Weltweit die meisten Twitter-User gibt es übrigens in China. Zugleich ist | |
China das einzige Land der Welt, in dem Twitter gesperrt ist. In Pakistan | |
ist es erlaubt. | |
21 Mar 2014 | |
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## AUTOREN | |
Deniz Yücel | |
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