# taz.de -- Konfliktherd Ostukraine: Gespenstische Belagerung | |
> Die Bewohner von Donezk sind ratlos: Niemand erklärt ihnen, was die | |
> Bewaffneten dort wollen und warum niemand gegen sie vorgeht. | |
Bild: Pro-russischer Vermummter vor einem besetzten Verwaltungsgebäude in Slav… | |
DONEZK/SLAWJANSK taz | Gesprächsstoff gibt es in dieser Provinz seit einer | |
Woche so viel wie sonst in einem Jahr nicht. Donezk und Umgebung, das | |
sogenannte Donezkbecken, liegen schließlich nicht in Russland, wo ständig | |
irgendwo eine Bombe hochgeht und das Land mit irgendjemandem bewaffnete | |
Konflikte austrägt. Noch vor ein paar Tagen schien es, als bestehe das | |
Schlimmste, was in Donezk passieren könnte, im Hissen einer fremden Fahne | |
auf dem Verwaltungsgebäude. Jetzt aber streifen Unbekannte in Tarnuniform | |
und bis an die Zähne bewaffnet vor den Fenstern der Einwohner umher, | |
Unbekannte schießen auf Autos, Menschen werden getötet. | |
In den großen Medien, den sozialen Netzwerken und auf der Straße wird von | |
„Terroristen“ gesprochen, und es werden Interpretationen geliefert, die die | |
Verwirrung noch größer machen. Es ist, als könne man sich unter mehreren | |
miteinander unvereinbaren Welten aussuchen, in welcher man gerade lebt: In | |
der einen finden „terroristische“ und „antiterroristische Operationen“ | |
statt, in einer anderen vereinigen sich Brudervölker, und es herrscht | |
Friede unter Russlands Ägide, in einer dritten ist man von Verrätern | |
umgeben, die die eigene Heimat aufgegeben haben. | |
„Wie schön wäre es, wenn meine ganze Familie jetzt in Winterschlaf fallen | |
könnte und erst wieder aufwachen würde, wenn sich alles normalisiert hat“, | |
wünscht sich die Donezkerin Aljona: „Schade, dass wir keine Bären sind. | |
Schade, dass hier schon der russische Frühling angebrochen ist. Schade, | |
dass es ringsum wimmelt von Leuten ohne jeder Logik und mit niedrigem IQ. | |
Schade, dass so viele Verräter herumlaufen.“ | |
Ähnlich wie Aljona denken viele von denen, die das Donezkbecken für einen | |
Teil der Ukraine halten und alles, was jetzt hier geschieht, für | |
unrechtmäßig. Am meisten enttäuscht sind sie von der Regierung in Kiew. | |
Deren „antiterroristische Operation“ gleicht einem Mythos: Alle sprechen | |
von ihr, hohe Kiewer Beamte berichten regelmäßig auf Facebook von ihr, aber | |
niemand hat sie bisher gesehen. | |
Zuallererst tauchten die „Marsmännchen“ in Slawjansk auf. Dort stehen von | |
Unbekannten gesteuerte Panzer und Fahrzeuge der ukrainischen Armee. Und | |
dort hält sich gerade der Donezker Denis auf und meint: „Alles, was in den | |
letzten Tagen in Slawjansk vor sich ging, war reines Theater. Auf den | |
Armeefahrzeugen rasen bloß Leute herum, um für sich selbst Reklame zu | |
machen und sich fotografieren zu lassen. Von Operationen kann keine Rede | |
sein. Niemand scheint auch nur daran gedacht zu haben, die besetzten | |
Gebäude im Stadtzentrum zu befreien. Aber in den Massenmedien tun sie so, | |
als ob wir hier in Tschetschenien wären und in jedem Hinterhof geschossen | |
würde.“ | |
## Einwohner mit friedlichen Maschinengewehren | |
Dass es in Donezk im Zeitalter des Internets seit einigen Tagen an | |
richtigen Informationen fehlt, führt in der gesamten Region zu einer Art | |
Sauerstoffmangel. Die Leute sind ratlos: Irgendetwas geht hier vor. Aber | |
was? | |
Sehen kann man immerhin einige Zerstörer, die einige Male am Tage über der | |
Stadt fliegen. Niemand weiß, ob es ukrainische sind oder russische. Auf den | |
Barrikaden in Donezk stehen Leute mit Maschinengewehren. Auch das kann man | |
mit bloßem Auge erkennen. Manche davon scheinen nicht von hier zu sein, | |
andere schlagen sich mit Fäusten auf die Brust und erklären im typischen | |
Donezker Slang, sie seien hier zu Hause. | |
Die lokale politische Elite betont, dass es sich bei diesen Leuten um | |
friedliche Menschen handele. Das mag sein, aber warum haben die dann | |
Maschinengewehre? Niemand unterhält sich mit diesen Menschen. Nur hin und | |
wieder kommt mal ein Politiker für fünf Minuten vorbei und lässt ein | |
Pressefoto von sich machen. Auch kommt niemand, auch kein offizieller | |
Gesandter, vorbei und versucht, die Lage zu erklären. Und überhaupt nehmen | |
die bewaffneten „Marsmännchen“ ihre Drohposen auch nur dann ein, wenn sich | |
eine Fernsehkamera nähert. | |
„Ich habe das Gefühl, dass hier bloß eine Nachrichtensendung produziert | |
wird“, teilt mir mein Bekannter Jewgeni seine Eindrücke mit: „Mir kommt das | |
alles wie eine Aufführung auf einer provinziellen Laienbühne vor.“ | |
In offiziellen Verlautbarungen geht es ebenfalls drunter und drüber. | |
Irgendwo ist irgendwer bewaffnet eingedrungen und dann wieder doch nicht. | |
Abends berichten Zeugen, dass beim Sturm eines Gebäudes fünf Menschen ums | |
Leben gekommen seien, am folgenden Morgen sprechen die Ärzte von nur noch | |
drei Toten. Es klingt abgedroschen, aber die Meldungen klingen nicht wie | |
Nachrichten, sondern wie Bulletins aus dem „Ministerium für Wahrheit“ aus | |
George Orwells Roman „1984“. | |
## Lokalpatrioten würden ukrainisch wählen | |
Trotz aller Widersprüche und Unklarheiten scheint eines gewiss: Die | |
ukrainische patriotische Gesinnung in der Bevölkerung nimmt zu. Im Gebiet | |
von Donezk herrschte immer ein starker Lokalpatriotismus, der weniger stolz | |
darauf war, zur Ukraine zu gehören, als eben zum Donezkbecken. | |
Jetzt aber müssen sie wählen: Wer oder was soll über dieses Gebiet | |
herrschen? Und immer mehr Leute werden sich bewusst, dass sie in der | |
Ukraine leben wollen. Am Gründonnerstag gingen hier dreitausend Menschen | |
mit ukrainischen Fahnen auf die Straße, um klarzumachen, dass sie in keinem | |
anderen Land leben wollen – und das trotz der unsicheren und | |
undurchsichtigen Lage. | |
Im benachbarten Kramatorsk versammelten sich über 1.000 Leute. Und es wird | |
wohl nicht das letzte Mal gewesen sein. Nikolaj Wolynko, einst Bergmann und | |
jetzt Führer einer Bergleute-Gewerkschaft, kommentiert: „Aus irgendeinem | |
Grunde werden jetzt alle Anhänger der Ukraine als „Banderowzy“ beschimpft | |
[umstrittene Partisanenbewegung im 2. Weltkrieg, von der ein Teil mit den | |
Deutschen paktierte; Anm. d. Red.]. Wenn das gleichgesetzt wird, dann werde | |
ich mich eben auch als Banderowjez bezeichnen. Darauf bin ich stolz. Auch | |
darauf, dass auf dem Maidan in Kiew das Volk Gestalt angenommen hat. Nicht | |
die Bevölkerung, sondern das denkende Volk. Jetzt müssen auch wir uns hier | |
als Volk formieren und aufhören, einfach nur ein Territorium zu bevölkern.“ | |
Aus dem Russischen von Barbara Kerneck | |
19 Apr 2014 | |
## AUTOREN | |
Valerija Dubowa | |
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