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# taz.de -- Nur die Fifa profitiert von der WM 2014: Das bittere brasilianische…
> Fußball, Freude und Effizienz – das sollte das neue Branding des
> „Siegerlandes“ werden. Doch ein Verlierer der WM steht schon fest: die
> Demokratie.
Bild: Inzwischen glauben 58 Prozent der Brasilianer nicht mehr an positive Effe…
Nur wenige Wochen fehlen bis zur Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien,
und dennoch will sich im Land keine Feierstimmung einstellen. Schlagzeilen
machen weniger Neymar und Co oder die freudigen Erwartungen der Fans,
sondern Unruhen und Polizeiübergriffe. Als letzte Woche Polizisten in einer
Favela Douglas Pereira erschossen – er war Tänzer in einer Fernsehshow –,
erschütterten Proteste und wiederum rabiate Polizeieinsätze Rio de Janeiro.
Es gab einen weiteren Toten. Das alles spielte sich nicht in einem
Stadtteil an der Peripherie ab, sondern im weltberühmten Strandviertel
Copacabana, wo viele Touristen und Funktionäre der Fifa sich während der WM
einquartieren werden. Dennoch legen die Offiziellen einen
unerschütterlichen Optimismus an den Tag. Fifa-Marketingdirektor Thierry
Weil glaubt weiterhin an die größte Party der Welt, und die brasilianische
Präsidentin Dilma Rousseff wiederholt die Marketingformel von der copa das
copas, der Weltmeisterschaft aller Weltmeisterschaften, als wäre es ein
Zauberspruch, der Unheil fernhalten könnte.
Dabei ist das Unheil längst eingetreten. Selbst wenn die WM einigermaßen
friedlich verläuft, wird sie für die brasilianische Regierung und die Fifa
wohl nicht mehr zu einem Erfolg. Allenfalls kann die völlige Katastrophe
abgewendet werden. Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen. Als
Brasilien 2007 den Zuschlag für die WM und Rio für die Olympischen Spiele
2016 erhielt, war der Jubel im Lande groß.
Für die Regierung ging es dabei von Anfang an nicht nur um Sport und
Spiele. Die Ausrichtung der beiden größten globalen Events war die
Anerkennung Brasiliens als Global Player. Die Fußball-WM sollte dazu dienen
ein neues Bild von Brasilien zu vermitteln. „Wir sind ein Siegerland“,
verkündete Präsidentin Rousseff noch im April 2013, und die WM sollte
dieses neue Brasilien der Welt zeigen: ein Brasilien, dass effizient mit
schönsten Stadien eine WM vorbereitet, das im Kampf gegen die Armut große
Erfolge erzielt und dann die copa das copas, das größte Fest aller Zeiten
organisiert. Freude sollte eine Verbindung mit sozialer Gerechtigkeit und
Effizienz eingehen.
Anfang 2013 schien auch alles bestens zu laufen. Die Umfrageergebnisse der
Präsidentin und der verbündeten Gouverneure waren gut, Felipe Scolari, der
Brasilien 2002 zum Titelgewinn geführt hatte, war wieder Trainer der
Nationalmannschaft geworden, und Neymar ließ die Brasilianer hoffen, mit
einem Superstar zu glänzen. Doch dann kam alles ganz anders.
Während des Confederations Cups gingen Millionen BrasilianerInnen auf die
Straße, protestierten gegen soziale Missstände und die Ausgaben für die
Fußball-WM. Die Explosion der Proteste war wohl für alle eine Überraschung,
und Regierung und Fifa brauchten einige Zeit, um die Sprache
wiederzufinden. Nachdem die ersten Proteste mit brutalem Polizeieinsatz
niedergeknüppelt wurden, versuchte es die Regierung später mit Verständnis
und Versprechungen. Dennoch, die unzufriedene Stimmung im Lande blieb.
Die Suche nach der Ursachen der Proteste bewegt nun Kommentatoren,
Politiker und Wissenschaftler. Die Regierung versuchte es mit der Version,
dass die Proteste eine Folge ihrer Erfolge seien. „Wer etwas erreicht hat,
will mehr“, erklärte die Präsidentin anlässlich des Papstbesuches im Juli
letzten Jahres.
Solche Erklärungen zeigen die Hilflosigkeit der Regierung. Sie kann nicht
verstehen, wie trotz der beachtlichen Erfolge in der Armutsbekämpfung die
Menschen so massiv aufbegehren. Umfragen und Untersuchungen lassen indessen
einen differenzierten Blick darauf zu. Offensichtlich war es eine brisante
Mischung ganz unterschiedlicher Aspekte, die die Menschen auf die Straßen
trieb.
## Korruptionsskandale
Unzufriedenheit mit dem Zustand des Erziehungs- und Gesundheitssystems, die
Misere des Nahverkehrs, die nicht enden wollenden Korruptionsskandale, aber
auch die Ausgaben für den Stadionbau waren die wichtigsten Elemente dieses
explosiven Cocktails. Und wer lag mit seiner Interpretation der Proteste
ganz falsch? Sepp Blatter. Der Fifa-Präsident sah den Fußball als Opfer von
doch fast ausschließlich politischen Streitereien: „Beim Confederations Cup
war der Fußball Opfer sozialer Unruhen – und davon, wie groß diese waren.“
Genau das stimmt nicht – und in diesem Missverstehen liegt die Brisanz in
dem Jahr vor der WM. Der Fußball ist selbst zum Gegenstand politischer
Debatten geworden, eine Fußball-WM ist zu einem Megaevent aufgeblasen
worden, das mit derselben Heftigkeit wie andere Großprojekte diskutiert
wird. Die WM 2014 wird die teuerste aller Zeiten, und die Erzählung von
Regierung und Fifa, die Investitionen dienten dem Lande, hat keine
Überzeugungskraft entwickelt.
Warum musste ein gerade renoviertes Maracanã-Stadion in Rio nach
Fifa-Auflagen nochmals modernisiert werden, warum in Brasilia das teuerste
Stadion der WM gebaut werden, auch wenn dort kein Verein in der ersten oder
auch nur zweiten Liga spielt? Warum mussten in Cuiabá und Manaus Stadien
gebaut werden, die nach der WM niemand nutzen wird?
Und während die Menschen täglich in überfüllten Bussen und Vorortzügen das
Drama des öffentlichen Verkehrs erfahren, werden für die WM Flughäfen
modernisiert und in Rio eine sündhaft teure U-Bahn in das Mittel- und
Oberschichtviertel Barra da Tijuca gebaut.
Die Kosten dieser WM, die Auflagen der Fifa und die Arroganz der
Verantwortlichen haben eine Distanz zwischen den fußballbegeisterten
Brasilianern und der WM geschaffen. Inzwischen glauben 58 Prozent der
Brasilianer nicht mehr an positive Effekte der WM. Je näher sie rückt und
je näher die Befragten an einem Austragungsort wohnen, umso schlechter
werden die Umfrageergebnisse. Das Modell Fifa-WM wackelt.
## Proteste, Missstände und Gewalt
Auch für die Regierung ist die Bilanz bitter: Statt Brasilien in glänzendes
Licht zu rücken – wie es doch den Deutschen so schön gelungen war –,
berichten die Medien nun über Proteste, Missstände und Gewalt. Das Branding
der Marke Brasilien misslingt gründlich, das kann selbst eine erfolgreiche
WM kaum mehr ändern.
Die Proteste haben dazu beigetragen, alle Widersprüche des heutigen
Brasilien offenzulegen, Fußball ist vieles, aber kein Opium für das Volk.
Und die Proteste in Copacabana haben noch etwas anderes in Erinnerung
gerufen: Die Frage der Gewalt ist keineswegs geklärt.
Auch hier sind im Jahre 2013 Hoffnungen und Illusionen zerstoben. Mit einem
neuen Sicherheitskonzept wollte die Polizei in Rio die Gewaltspirale des
Drogenkrieges beenden. In Favelas, die vom bewaffneten Drogenbanden
beherrscht werden, sollen neue und dauerhaft stationierte
Befriedigungseinheiten (UPPs) für Ruhe sorgen.
Dies hat zunächst, vor allem in kleinen Favelas, auch funktioniert,
allerdings nur in den reicheren Teilen der Stadt. Doch inzwischen zeigt
sich, dass auch die UPPs keine magische Lösung sind. Aus vielen besetzten
Favelas ist der Drogenhandel nicht vertrieben, und Kritik an den
Polizeieinheiten ist massiv. Auch die Favela, in der Douglas Pereira umkam,
war angeblich befriedet. Die Proteste des letzten Jahres haben nun auch
Favelabewohner ermutigt, auf die Straße zu gehen und gegen Polizeigewalt zu
protestieren.
All dem will die Regierung mit einem massiven Einsatz von
Sicherheitskräften begegnen. 2.700 Soldaten wurden allein in der Favela
Complexo da Maré stationiert, damit der Spaß an der copa das copas nicht
gestört wird. Im brasilianischen Parlament werden Gesetze beraten, die
Protestierende wie Terroristen behandeln sollen. Ein Verlierer der WM steht
jetzt schon fest: die Demokratie. Sie soll dem Fest weichen.
## Obszönes Ausgabenfestival
So sehr dies alles ein Debakel für Fifa und Regierung ist, liegt in den
Entwicklungen in Brasilien doch auch eine Chance: Weltmeisterschaften
müssen neu gedacht werden. Sie können angesichts von Armut und leeren
öffentlichen Kassen nicht weiterhin als obszönes Ausgabenfestival
inszeniert werden. Sie müssen vorhandene Infrastruktur nutzen und nur da
erweitern, wo ihre nachhaltige Nutzung garantiert ist. Und sie müssen die
Bevölkerung in die Planung einbeziehen, statt sie zu vertreiben. Eine
andere WM wäre möglich, aber ist sie mit dieser Fifa möglich?
Die Fifa erwartet nach Angaben ihres Generalsekretärs Jérôme Valcke von der
WM Einnahmen in Höhe von vier Milliarden US-Dollar. Dem stehen Ausgaben von
1,3 Milliarden gegenüber, ein Teil davon geht für Prämienzahlungen drauf.
Das Gastgeberland muss die gesamten Ausgaben für den Stadienbau und die
Infrastruktur tragen, die Gewinne streicht die Fifa ein. Kein Sommermärchen
sollte dies vergessen lassen.
2 May 2014
## AUTOREN
Thomas Fatheuer
## TAGS
Protest
Brasilien
Fußball-WM 2014
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