| # taz.de -- Laye Condé: „Gipfel der Schande“ | |
| > Der Arzt Hans-Joachim Streicher berichtet von Fällen, in denen | |
| > Minderjährige bewusst mit Brechsaft gequält wurden. Die Bremer | |
| > Ärztekammer tolerierte das | |
| Bild: Sielwalleck: das mittlerweile wieder abgeräumte provisorische Condé-Den… | |
| taz: Herr Streicher, am Samstag gibt es ein öffentliches Hearing zur | |
| Beteiligung am Tod von Laye Condé. Die Brechmittel-Prozedur, durch die er | |
| starb, wird seit Jahren nicht mehr angewendet. Worum geht es noch? | |
| Hans-Joachim Streicher: Der Prozess um seinen Tod hat jahrelang die | |
| Diskussion um die anderen Verantwortlichen, die es auch gegeben hat, | |
| blockiert. Nun ist der Prozess vorbei, insofern ist es nur logisch, das | |
| jetzt zu tun. Von der Innenbehörde wurde die Brechmittelfolter | |
| eingefordert, die Justiz hat mit den Beweisen daraus gearbeitet. All das | |
| muss hinterfragt werden. Ich spreche am Samstag über die Rolle der Bremer | |
| Ärztekammer. | |
| Wie bewerten Sie die Rolle Ihrer ärztlichen Kollegen? | |
| Ich sehe erst mal meine eigene Rolle, anhand der ich das beantworten kann. | |
| In meiner Gröpelinger Praxis merkte ich 1995 eine seltsame Häufung von | |
| Fällen: Junge Männer kamen zu mir mit ungewöhnlichen Bauchsymptomen. Es | |
| waren alles Schwarze, zum Teil Minderjährige. Es war nicht leicht, der | |
| Sache auf den Grund zu gehen. Da war viel Scham im Spiel. Nur durch | |
| hartnäckiges Nachfragen bekam ich heraus, dass diese Männer den Brechsaft | |
| „Ipecacuana“ bekommen hatten. Man hatte sie dazu per Magensonde oder | |
| Drohung gezwungen. | |
| Welche Beschwerden hatten Ihre Patienten? | |
| Sie hatten Bauchschmerzen, manchmal ein tagelanges unstillbares Erbrechen, | |
| zum Teil mit Blutbeimengungen. Mit üblichen Medikamenten war das nicht zu | |
| lindern. Dazu kamen psychische Auffälligkeiten. Es waren meist Flüchtlinge, | |
| die vorher schon traumatisiert waren, was durch diese Praktiken erneut | |
| aktiviert wurde. | |
| Wie oft kamen diese Fälle vor? | |
| Es waren etliche. Später habe ich das dokumentiert, in meiner Praxis waren | |
| es 12 Fälle in drei Jahren. Wenn man davon ausgeht, dass nicht jede | |
| Brechtmittel-Vergabe zu Unverträglichkeitsreaktionen führt und nicht alle | |
| damit zu mir gekommen sind, dann ist klar, dass da eine ziemlich üble | |
| Methode angewendet wurde, die in einer erklecklichen Anzahl von Fällen zu | |
| Komplikationen führte. | |
| Was haben Sie unternommen? | |
| Es hat mich betroffen gemacht, dass hier junge Leute durch die Behörde | |
| derart drangsaliert wurden, dass sie zum Arzt mussten. Ich habe mich unter | |
| anderem mit einem Antrag an die Ärztekammer gewandt. Im März 1996 wurde mir | |
| mitgeteilt, dass die Delegierten der Ärztekammer die Vergabe als | |
| „unethisch“ eingestuft haben und die erzwungene Einnahme von „Ipecacuana�… | |
| nicht mehr durchzuführen sei. | |
| Das Brechmittel wurde in Bremen bis zum Tod von Laye Condé Anfang 2005 | |
| weiter zwangsverabreicht. Wie kam es dazu? | |
| Michael Birkholz hatte als Direktor des Instituts für Rechtsmedizin und | |
| Leiter des ärztlichen Beweissicherungsdienstes sehr viel Druck gemacht. Ich | |
| erinnere ein Gespräch zwischen ihm, mir und der Präsidentin der | |
| Ärztekammer, in dem er argumentierte, dass die Justizbehörde, die Polizei | |
| und die Innenbehörde unbedingt wollten, dass die Brechmittelpraxis | |
| weitergeführt wird. Im August 1996 ist von der Ärztekammer dann ein | |
| Beschluss gefasst worden, dass die Vergabe eines Brechmittels nur unter | |
| ärztlicher Aufsicht und nur bei qualifizierter Notfallbereitschaft | |
| vereinbar sei mit dem ärztlichen Berufsethos – eine 180-Grad-Wende. Herr | |
| Birkholz war dafür die treibende Kraft. | |
| Er ist bis heute Direktor des Instituts für Rechtsmedizin und bildet an der | |
| Hochschule für öffentliche Verwaltung Bremer PolizistInnen aus ... | |
| Was soll ich dazu sagen? Er hat den Beweissicherungsdienst aufgestellt, mit | |
| den Ärzten, wie Igor V., der am Tod Laye Condés beteiligt war. Es wurden | |
| auch vielfach sinnlos Brechmittel vergeben, jeder Polizist konnte das | |
| anordnen. Und Birkholz hat davon profitiert. | |
| Wie meinen Sie das? | |
| Die Brechmittelvergaben waren Dienstleistungen, die durch den Auftraggeber | |
| honoriert wurden. Die Ärzte arbeiteten in seinem Auftrag. Ich habe schon | |
| 1996 in einem Brief an die damalige Ärztekammerpräsidentin zu Bedenken | |
| gegeben, dass Herr Birkholz nicht uneigennützig agiert. | |
| Ihre Bedenken wurden von den Kollegen der Ärztekammer nicht geteilt? | |
| Meine vorgebrachten Fälle von Komplikationen sind weggewischt worden. Und | |
| es ist aktiv verhindert worden, dass meine Fälle zur Kenntnis kamen. Unter | |
| anderem von Ulrich Kütz, dem stellvertretenden Präsidenten der Ärztekammer | |
| und Vorsitzendem der Ethikkommission. Die hat im Oktober 1998 einen | |
| weiteren Beschluss zur Brechmittelvergabe gefasst. Darin steht: „Ein | |
| gewisses Maß an Beeinträchtigung ist den Betroffenen zuzumuten.“ Das ist | |
| der Gipfel der Schande in der Ärzteschaft, dass die Praxis auch nochmal | |
| verharmlosend gerechtfertigt wird. Als ob es nur um Peanuts ginge. | |
| Wie erklären Sie sich diese Verharmlosung? | |
| Man muss wohl die damalige Situation bedenken. Es gab eine Drogen-Hysterie. | |
| Das Wort „Dealer“ rechtfertigte fast alles. Man wollte durchgreifen, das | |
| war Konsens. Ralf Borttscheller hat das umgesetzt. | |
| Der damalige CDU-Innensenator? | |
| Er war in Bremen und Herr Schill in Hamburg. Es war eine Zeit, in der die | |
| Menschenrechte klein geredet wurden. Ich hatte den Fall eines 14-Jährigen, | |
| der ein Dutzend Mal den Brechsaft trinken musste – obwohl der Nachweis von | |
| Drogen sowieso nicht relevant war, weil er unter das Jugendrecht fiel. Es | |
| kam darauf an, dass gequält wurde, um abzuschrecken. | |
| Bremens ehemaliger Bürgermeister Scherf hat als Zeuge im | |
| Brechtmittel-Prozess ausgesagt, ihm seien bis zu Laye Condés Tod „überhaupt | |
| keine Schwierigkeiten“ bekannt gewesen. Nehmen Sie ihm das ab? | |
| Absolut nicht. Er war seit 1991 Justizsenator, später Senatspräsident, es | |
| gab Befassungen in der Bürgerschaft, Veröffentlichungen vom | |
| Antirassismusbüro. Ich selbst habe mich 1996 an den Innensenator gewandt. | |
| Das war Thema in der Stadt und er muss sich blind und taub gestellt haben, | |
| wenn er davon nichts mitbekommen haben will. Es wurde auch aus zweiter | |
| Reihe vorangetrieben. | |
| Wie bewerten Sie die Rolle des heutigen Innensenator Ulrich Mäurer, der | |
| seit 1997 Justizstaatsrat war? | |
| Man muss ihn wohl dazuzählen. Heute tut es ihm leid. Fehler einzugestehen | |
| ist nicht einfach und das rechne ich ihm hoch an. Er hat die Broschüre über | |
| Laye Condés Tod mit der Bremer Polizei herausgegeben. | |
| Halten Sie die Aufarbeitung der Polizei für ausreichend? | |
| Ich finde es erst mal gut, dass die Polizei sich eindeutig positioniert, | |
| dass sie anders vorgeht. Bei dem Kehlgriff, den sie jetzt anwenden, sind | |
| zumindest keine Ärzte mehr beteiligt. | |
| Das ist eine inoffizielle Polizeitechnik? | |
| Man kann im Viertel manchmal beobachten, dass im Rahmen einer Razzia ein | |
| Griff an die Kehle erfolgt, um das Verschlucken von Drogen-Kügelchen zu | |
| verhindern. Die Polizisten wissen nicht, was sie tun. Wenn man zu hoch | |
| greift, kann es zu einem reflektorischen Herzstillstand kommen. | |
| Die Brechmittelfolter traf ausschließlich schwarze Männer. Am Samstag soll | |
| es deshalb auch um aktuellen Rassismus bei Polizeikontrollen gehen. Wie | |
| bewerten Sie das Problem? | |
| Damals sollte ein Exempel statuiert werden, an einer bestimmten Gruppe von | |
| Schwarzafrikanern. Mein heutiger Schwiegersohn ist Kenianer. Ich war dabei, | |
| als er einmal kontrolliert wurde. Es hat mir klar gemacht, wie schutzlos | |
| Flüchtlinge mit schwarzer Hautfarbe in Bremen sind. | |
| ## Samstag 11 Uhr, Marktplatz: Öffentliches Hearing „Wer war beteiligt an | |
| der Tötung von Laye Condé? Untersuchungen zur Rolle von Politik, Justiz, | |
| Polizei und Medizin – von der Brechmittelfolter zum Racial Profiling“. Mit | |
| Beiträgen unter anderen von Hans-Joachim Streicher, Grünen-Fraktionschef | |
| Matthias Güldner, Rechtsanwältin Christine Vollmer, Danja Schönhöfer und | |
| Mathias Brettner vom früheren Antirassismusbüro | |
| 12 Jun 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Jean-Philipp Baeck | |
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