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# taz.de -- Daniel Cohn-Bendit über die WM: „Die Leute sind nicht dumm“
> Daniel Cohn-Bendit ist on the road – mit dem Campingbus durch Brasilien.
> Er kritisiert Staatspräsidentin Rousseff und spricht über linken
> Patriotismus.
Bild: „Ein Offenbarungseid für eine linke Präsidentin“ – Daniel Cohn-Be…
Eben hat er das EU-Parlament hinter sich gelassen – und kann jetzt ein
neues Projekt realisieren: Cohn-Bendit fährt während der WM mit einem
Camping-Bus namens Sócrates durch Brasilien, um für Arte einen Film und den
täglichen Blog [1][„Danys Day“] über die Beziehung zwischen Fußball und
politischem Engagement zu machen.
taz: Herr Cohn-Bendit, in wie viele Gewehrläufe der Militärpolizei haben
Sie schon geschaut?
Daniel Cohn-Bendit: Das kommt immer darauf an, wo man ist. Vor den Stadien
gibt es überstarke Militärpolizeipräsenz. Aber in der Stadt gibt es nicht
mehr, als wenn in Frankreich die deutschen Hooligans im Anmarsch sind.
Wie erleben Sie Begeisterung und Protest?
Der aktive militante Protest ist im Moment sehr klein. Zum einen hat die
große Polizeipräsenz verhindert, dass die kleine Opposition auf der Straße
größer wird. Zum anderen sind die Stadien weit weg von den Stadtzentren.
Und dann gibt es eben eine sehr große Begeisterung, das ist so.
Die Kritik an Vertreibung, Sozialdefiziten, Umweltignoranz und einem
monetarisierten öffentlichen Raum ist vergessen?
Nein, die Kritik an der Fifa, der Organisation und der Geldverschwendung
angesichts der sozialen Spannungen ist berechtigt. Es ist auch auffallend,
dass Leute aus allen gesellschaftlichen Schichten, mit denen man spricht,
diese Kritik teilen. Am meisten ärgert die Brasilianer die Vertreibung der
kleinen Händler aus einer 2-Kilometer-Zone vor den Stadien, die nur der
Fifa gehört. Aber die Faszination Fußball stimmt auch. Diese Faszination
schlägt jetzt zu.
Wie machen Sie das fest?
Bei allen Demos, an denen ich teilnahm, liefen auch die Kritiker in
Brasilien-Trikots herum. Und auf einer Protestkundgebung gegen die WM
hatten die Kritiker in der Mitte einen Fernseher aufgestellt, damit sie das
Spiel sehen konnten. Das ist die Realität.
Hätte Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei PT das Geld statt
für eine WM besser für Bildung und Gesundheit ausgeben sollen?
Das ist ein spannender Streit. Ich habe für meinen Film einen
Fußballtrainer in einer Favela in Rio interviewt. Der sagt: Ja, es muss
mehr Geld in Erziehung und Gesundheit investiert werden, aber es ist doch
nicht wahr, dass es ohne WM mehr Geld dafür gegeben hätte. Man darf auch
nicht ignorieren, dass diese WM für Brasilien auch ein wahr gewordener
Traum ist.
Für alle?
Ein anderer Mann aus der Favela sagte mir: Die WM findet nicht in Brasilien
statt, die findet in Fifaland statt. Wir aus den Favelas schauen genauso
zu, als würde sie in Tokio stattfinden. Mittlerweile ist die Begeisterung
aber so groß, dass sie wirklich in Brasilien stattfindet.
Für die meisten aber nur am Fernseher.
Stimmt. Nach den Schmähungen gegen Regierungschefin Rousseff beim
Eröffnungsspiel, haben ihre Spindoctoren verbreitet, dass die Beleidigungen
von politischen Gegnern kämen, weil sich Rousseffs Wähler den Stadionbesuch
gar nicht leisten könnten. Selbst in Südafrika gab es Ticketkontingente für
Leute mit wenig Geld, in Brasilien nicht. Das ist der wahre Offenbarungseid
für eine linke Präsidentin. Skandalös ist auch, dass die Beschimpfungen vom
Sender Globo und der Fifa genauso zensiert wurden wie ein Protestplakat
einer Indígena-Teilnehmerin bei der Eröffnungsfeier.
Der Protest wird als unpatriotisch denunziert. Können Sie einen linken
Patriotismus dagegensetzen?
Da habe ich etwas Irres erlebt, einen Poesiesalon in einem Vorort von São
Paulo. Dieser Poesiesalon hat dazu beigetragen, aus einem der härtesten
Viertel der Stadt ein Viertel zu machen, in dem sich jeder frei bewegen
kann. Es war ein unglaublicher Abend. Drinnen 300 Leute, draußen auch 300,
eine unwahrscheinliche Solidarität, sehr gesellschaftskritisch, da wurden
alle Protestthemen angesprochen. Am nächsten Abend schaue ich mit den
Organisatoren das Eröffnungsspiel. Alle tragen Brasilien-Trikots, alle
stehen bei der Nationalhymne auf und schreien die Worte heraus wie die
Spieler im Stadion.
Das ist linker Patriotismus?
Ich habe mit wirklich hartgesottenen Randalierern gesprochen. Und nach
einer gewissen Zeit sage ich: Und, wer wird Weltmeister? Dann sagen sie
alle: Brasilien. Die engagieren sich sozial für Brasilien. Und sind bei der
WM für ihr Land. Wo ist das Problem?
Die folkloristische Deutung lautet, dass Fußball das Opium des
deklassierten Brasilianers ist. Das dürfe man nicht auch noch bedienen.
Ach, Unsinn. Das ist intellektueller Schmarren. Die Leute sind nicht dumm.
Wenn die sich für Fußball begeistern, dann sind sie für Fußball begeistert.
Das nimmt dem Protest überhaupt nichts und macht sie auch nicht blind. Sie
wollen einfach ein Moment der Leidenschaft erleben. Alle großen
Gesellschaftskritiker müssen einsehen, dass sie gegen die Begeisterung
nicht ankommen, die Fußball bewirkt.
Sie finden offenbar, dass die WM gut für Brasilien ist?
Ja, die WM in Brasilien ist gut für die Brasilianer. Man hätte es aber
sozialer und gerechter machen können.
Und der Fußball? Teilen Sie die Häme über Spaniens Auftaktniederlage?
Nein, das ist der Aufstand der Kleinkarierten. Barcelona und Spanien haben
uns ein Jahrzehnt träumen lassen, das war Fußball vom anderen Stern. Die
Häme ist die Häme jener, die nie drankamen an die Qualität der Spanier. Ich
wünsche mir, dass sie zurückkommen, aber mein Gefühl sagt, dass hier ein
Stück Fußballgeschichte zu Ende geht. Ich verneige mich vor den Spaniern.
17 Jun 2014
## LINKS
[1] http://info.arte.tv/de/danys-day
## AUTOREN
Peter Unfried
## TAGS
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