# taz.de -- Brasilianische Proteste erlahmen: Die Linke erntet, was sie gesät … | |
> Trotz WM ist es ruhig auf den Straßen. Nun verschärft die Rechte den Ton | |
> gegen Präsidentin Dilma Rousseff. Und die Linke streitet über den Sinn | |
> ihrer Proteste. | |
Bild: Die brasilianische Protestbewegung verliert, wie hier in Belo Horizonte, … | |
RIO DE JANEIRO taz | Nach vier Tagen WM ist es in Brasilien erstaunlich | |
friedlich. Dank der vielen angereisten Fans trifft man zumindest an den | |
offiziellen Treffpunkten auf Partystimmung. Die Spiele und der Rummel | |
drumherum stehen nur in den Medien im Mittelpunkt. Der Alltag bleibt | |
unverändert, in den Kneipen wird getrunken statt Fußball geguckt. Außer an | |
den Spieltagen des Gastgebers, da ist ab Mittag Feiertag, scheint das eine | |
willkommene Unterbrechung. Auch die Proteste bleiben bislang unauffällig, | |
Streiks sind kein Thema mehr. | |
„Die Leute gucken lieber zu Hause Fußball. Da ist weniger Trubel, und das | |
Bild ist auch besser“, sagt Edmundo. Er sitzt mit dem Rücken zum riesigen | |
Fernseher mitten im Kneipenviertel Lapa von Rio de Janeiro. Sein Kumpel | |
Pedro verstrickt mich gleich in ein Gespräch über verschiedene Kulturen und | |
Bräuche; das Spiel Italien gegen England interessiert ihn nur am Rande. | |
„Ist die Rivalität zwischen Deutschland und Frankreich auch so groß?“, | |
fragt er. Oder die zwischen den „beiden Bayern“ aus München und Leverkusen? | |
„Die meisten gucken doch nur die Brasilienspiele, das auf alle Fälle“, | |
mischt sich Edmundo wieder ein und bestellt ein weiteres Bier, das gleich | |
auf unsere drei kleinen Gläser verteilt wird. Stimmung gebe es auch bei den | |
Ligaspielen, vor allem bei den Lokalderbys, die in Rio aufs Jahr gerechnet | |
alle paar Wochen stattfinden. „Und natürlich die Champions League, da | |
spielen doch all unsere guten Spieler, die wir hier nicht mehr bekommen.“ | |
Dass die Proteste nach einigen Ausschreitungen am Eröffnungstag gleich | |
wieder verebbt sind, überrascht beide nicht. „Das war abzusehen. Vor allem | |
der Tod eines Fotografen durch einen Feuerwerkskörper bei einer Demo zu | |
Anfang des Jahres hat dazu beigetragen, dass die Protestbewegung | |
diskreditiert wurde“, meint Pedro. Ihm sei es recht. Denn die Forderungen | |
der Straße stimmten zwar, und Dilma müsse schnellstmöglich abgewählt | |
werden, aber so nicht. Eduardo pflichtet bei, auch ihm gingen die Demos | |
langsam auf die Nerven. Edmundo wirft noch ein: „Wie unsere Präsidentin bei | |
der Eröffnung unter der Gürtellinie angepöbelt wurde, das ging zu weit.“ | |
## „Fuck you“-Rufe als machistische Beleidigung | |
Die „Fuck you“-Rufe gegen Rousseff, die sich auf portugiesisch noch | |
expliziter anhören und sonst bei jedem Spiel zumeist dem Schiedsrichter | |
entgegen geschleudert werden, stehen noch immer heftig in der Diskussion. | |
Die meisten beurteilen den Vorfall als machistische Beleidigung, die sich | |
gegen eine Frau und auch gegen das höchste Staatsamt richtete. „Diese | |
Zuschauer mögen die Präsidentin nicht, weil sie eine Frau ist und andere | |
politische Auffassungen vertritt. Aber die Hausangestellten dieser | |
Zuschauer, die mögen Rousseff“, erklärte die Ökonomin Hildete Pereira. | |
Auch Lula, Rousseffs Vorgänger, meldete sich zu Wort. „Kein einziger Armer | |
war auf den Rängen. Es scheint, sie haben sich zu vollgefuttert und zu viel | |
studiert, so dass sie jeden Respekt verloren haben.“ Rousseff selbst sagte | |
lediglich, sie werde sich nicht einschüchtern lassen – und nicht | |
nachtragend sein. | |
Die politisch eher rechte Opposition nutze die Episode für ihren Wahlkampf: | |
Rousseff ernte nur, was sie gesät habe. Deutlicher drückte sich ein | |
TV-Kommentator aus. Angesichts der Politik dieser Regierung sei es eine | |
„zivile Protestform, die sich aber nicht gegen Dilma Rousseff als Frau und | |
Mutter richte“. | |
Auf der Straße ist Politik derzeit kaum präsent. In Salvador am Freitag und | |
am Samstag in Belo Horizonte demonstrierten jeweils mehrere hundert | |
Menschen, bis die Polizei auf rabiate Weise eingriff. Im Fortaleza blieb | |
die Randale aus, aber auch dort wurden einige Protestler festgenommen. | |
Karinny de Magalhães, eine Journalistin des Medienkollektiv Mídia Ninja, | |
die am Eröffnungstag in Belo Horizonte festgenommen und erst am Samstag | |
früh freigelassen wurde, beschuldigte die Polizei zahlreicher | |
Misshandlungen. Sie sei von Beamten geschlagen und angespuckt worden. Als | |
sie das Passwort des Smartphones, mit dem sie bis zu ihrer Festnahme die | |
Demonstration filmte und live übertrug, nicht sagen konnte, wurde sie von | |
fünf Polizisten malträtiert. | |
## Streit über das Linkssein | |
Derweil ist innerhalb der einst breiten Protestbewegung ein Streit über das | |
Linkssein entbrannt. Vor allem einige Vertreter der klassischen sozialen | |
Bewegungen und gemäßigte Kritiker der Politik der regierenden | |
Arbeiterpartei PT werfen den Radikaleren auf der Straße Extremismus vor. | |
Sie distanzieren sich von denen, die den Demo-Spruch „Es wird keine WM | |
geben“ in die Tat umsetzen wollen. | |
Den Anfang machte die linke Wochenzeitung Brasil de Fato, die in zwei | |
Editorials forderte, die Protestbewegung müsse trotz aller berechtigter | |
Kritik auch die sozialen Errungenschaften der Regierung Rousseff | |
anerkennen. Eine Zuspitzung des Protests gegen die WM dürfe ihr nicht in | |
den Rücken fallen, da dies der Rechten und ihrer Rückkehr an die Macht in | |
die Hände spiele. | |
Viele Aktivisten beharren darauf, dass Missstände benannt und bekämpft | |
werden müssen. Falsch sei, sich nach wahltaktischen Überlegungen zu | |
richten. Ihren Kritikern werfen sie Nähe zur PT vor und fragen, was an der | |
Regierung Rousseff noch links sei. Die Rechte jedenfalls freut sich: Die | |
Kritik von links bereitet ihr den Weg. Plötzlich sieht es so aus, als ob | |
Rousseff nur noch von rechts öffentlich angegriffen wird: eine Demontage | |
mit Blick auf die Wahl im Oktober. | |
15 Jun 2014 | |
## AUTOREN | |
Andreas Behn | |
## TAGS | |
Brasilien | |
WM 2014 | |
Protest | |
Dilma Rousseff | |
Fußball | |
WM 2014 | |
WM 2014 | |
WM 2014 | |
Brasilien | |
WM 2014 | |
Protest | |
WM 2014 | |
WM 2014 | |
Rio de Janeiro | |
Dilma Rousseff | |
WM 2014 | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Filmemacherin über die WM: „Fifa hat mir die Freude genommen“ | |
Ein YouTube-Video machte Carla Toledo Dauden letztes Jahr zum Sprachrohr | |
der brasilianischen Protestbewegung. Wie sieht ihre persönliche WM-Bilanz | |
aus? | |
Dilma Rousseff und die WM: Angstpartie bis zum Anpfiff | |
Die Kritik an der Präsidentin war heftig, doch die Rechte hat den Bogen | |
überspannt. Nun profitiert Dilma Rousseff von der guten Stimmung im Land. | |
Vorrunden-WM-Bilanz (4/4): Bloß nicht vereinnahmen lassen | |
Seit Beginn der WM wird in Braslien weniger demonstriert. Viele trauen sich | |
nicht mehr, wegen der Polizei und der Vereinnahmung von rechts. | |
Adriana Calcanhotto über die Fußball-WM: „Es ist gut, dass die WM stattfind… | |
Für die brasilianische Sängerin sind die Proteste in ihrem Land ein | |
Zeichen, dass Brasilien zur Demokratie heranreift. Ein Gespräch über | |
Fußball und Kunst. | |
Indígenas in Brasilien: Protest in der Unterhose | |
Im Fernsehen war die Politaktion eines indigenen Jungen bei der | |
WM-Eröffnung nicht zu sehen. Die indigenen Guaraní fordern mehr Achtung. | |
Aktivist über Proteste gegen die WM: „Der Fußball ist ein Opfer der Fifa“ | |
Caio Lima vom WM-kritischen Comitê Popular da Copa e Olimpíadas do Rio de | |
Janeiro über die eher kleinen Proteste in der ersten Woche des Turniers. | |
Daniel Cohn-Bendit über die WM: „Die Leute sind nicht dumm“ | |
Daniel Cohn-Bendit ist on the road – mit dem Campingbus durch Brasilien. Er | |
kritisiert Staatspräsidentin Rousseff und spricht über linken Patriotismus. | |
Anti-WM-Proteste in Brasilien: Straßenfußball auf der Kreuzung | |
Nach eher ruhigen Tagen kommt es in mehreren Städten zu Demonstrationen. In | |
Brasilia streiken die Lehrer, in Rio zieht es den Black Block zum Maracanã. | |
Proteste am WM-Eröffnungstag: Autonome werfen Kokosnüsse | |
An der Copacabana gucken 20.000 Fans das Auftaktspiel. Parallel kommt es in | |
mehreren Städten zu Verletzten, Festnahmen und Tränengaseinsätzen. | |
Kommentar WM-Eröffnung: Sieg für Dilma | |
Brasiliens Präsidentin ist zufrieden: Die Polizei hat alles im Griff. | |
Außerdem profitiert Dilma Rousseff davon, dass die Protestler kein | |
gemeinsames Ziel haben. | |
Vor dem Eröffnungsspiel in Brasilien: Rousseff verteidigt WM-Kosten | |
Vor dem Start der Fußball-Weltmeisterschaft bemüht sich Brasiliens | |
Präsidentin um Beruhigung. Ein U-Bahn-Streik zum Eröffnungsspiel ist indes | |
noch immer möglich. | |
Fußball-WM 2014 – Protest-Ticker: Größter Polizeieinsatz der Geschichte | |
Das Finale ist vorbei. Ebenso Rios größter Polizeieinsatz der Geschichte. | |
Am Finalsonntag werden zwei Demonstrationen rücksichtslos aufgelöst. |