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# taz.de -- Adriana Calcanhotto über die Fußball-WM: „Es ist gut, dass die …
> Für die brasilianische Sängerin sind die Proteste in ihrem Land ein
> Zeichen, dass Brasilien zur Demokratie heranreift. Ein Gespräch über
> Fußball und Kunst.
Bild: „Ich fühle mich den Grünen nah“, sagt Adriana Calcanhotto.
taz: Frau Calcanhotto, hat Sie das WM-Fieber schon gepackt?
Adriana Calcanhotto: Ich bin nicht der Typ, der sich von Leidenschaft
mitreißen lässt. Bei dieser WM sind viele Teams auf Schlüsselspieler
angewiesen. Messi, Neymar, Balotelli – individuelle Stars, die das ganze
Team aus dem Gleichgewicht bringen könnten. Das ist spannend.
Was denken Sie über die Proteste?
Ich finde, die Proteste sind legitim, wir sind ein demokratisches Land.
Wenn die Leute nicht zufrieden sind, sollen sie demonstrieren. Und in der
Tat ist es absurd, so viel öffentliches Geld auszugeben, wenn grundlegende
Dienstleistungen nicht richtig funktionieren, wenn Menschen auf der
Schwelle zum Krankenhaus sterben. Aber ich bin gegen Barrikaden, die zum
Beispiel verhindern, dass die Ambulanz zu einer Unfallstelle gelangen kann.
Straßen blockieren geht mir zu weit. Und die Athleten sollten nicht für die
gerechte Wut der Menschen büßen. Das eine ist der Sport, das andere ist die
Fifa. Ich denke, man sollte das nicht gegeneinander ausspielen. Es ist gut,
dass die WM stattfindet.
Es hat die Weltöffentlichkeit doch einigermaßen überrascht, wie heftig und
hartnäckig die Proteste im Land von Karneval und Fußball ausfielen.
Es hat alle sehr überrascht. Niemand hat erwartet, dass so viele Leute auf
die Straße gehen würden. In Brasilien gehen die Menschen wenig raus, um für
ihre Rechte zu kämpfen. Ich sehe das positiv, es zeigt, wir sind eine
Demokratie, die heranreift. Ursprünglich dachte man wohl, die WM würde die
Menschen von politischen Fragen ablenken, weil sie sich auf Fußball
konzentrieren würden. Aber diesmal ist das nicht so und das ist für mich
ein Fortschritt.
Im Vorfeld von WM und Olympischen Spielen sollen viele
Menschenrechtsverletzungen begangen worden sein. Hätten Sie gedacht, dass
so ein Vorgehen der Polizei gegen Demonstranten, dass Vertreibungen und
Umweltverbrechen in Ihrem Land möglich sind?
Leider ja. Wir sind zwar eine Demokratie, aber noch sehr jung. Wir müssen
noch lernen. Es kommt mir vor, als wäre es gestern gewesen, dass wir noch
in einer sehr heftigen Diktatur lebten, die in unglaublicher Weise die
Menschenrechte verletzte. Und leider haben wir noch immer viele Probleme:
Sklaverei, Kinderarbeit, Polizeigewalt. Und mit diesen Problemen müssen wir
uns konfrontieren und dürfen nicht so tun, als gäbe es sie nicht. Aber ich
denke, wir sind auf einem guten Weg. Die Demokratie ist ein langsames
System.
Während der Militärdiktatur (1964–85) wurden einige engagierte Musiker, wie
Caetano Veloso und Gilberto Gil, ins Gefängnis gesteckt und mussten danach
ins Exil nach London fliehen. Welche politische Funktion haben Künstler
heute in Brasilien?
Der Musikkünstler Tom Zé sagte einmal etwas Wunderbares darüber: So sehr
die Militärs auch fürchteten, dass Caetano und die anderen Künstler
Kommunisten sein könnten, noch mehr Angst hatten sie vor der ästhetischen
Revolution. Die Tropicália (postavantgardistische künstlerische Bewegung,
d. Red.) war ganz anders als alles Bekannte und wurde als sehr bedrohlich
empfunden. Deshalb wurden sie überwacht, verfolgt und eingesperrt. Sie
benahmen sich nicht wie Kommunisten, sondern wie freie Künstler, die
Kleidung außerhalb der Norm trugen und Wörter außerhalb der Norm
gebrauchten. Tom Zé zitiert einen Song von Caetano, in dem es heißt: „Du
musst das Schwimmbad versuchen / die Margarine / die Carolina / das
Benzin“. Das war ihnen nicht geheuer. Heute, fast 30 Jahre später, weiß
man, dass sie Angst hatten, weil sie nicht wussten, was das bedeutet!
Braucht man heute noch das Engagement der Künstler?
Ich denke, die Künstler sind engagiert, sie unterstützen politische
Kandidaten, begleiten Kampagnen. Ich zum Beispiel fühle mich den Grünen
nah, die für mich eher eine globale Bewegung sind als nur eine Partei in
Brasilien. Und ich unterstütze Marina Silva, die ehemalige
Umweltministerin.
Wenn Sie aus irgendwelchen Gründen Ihr Land verlassen müssten, wo würden
Sie hingehen?
Ach, ich denke, wir werden nicht mehr zu diesen finsteren Zeiten
zurückkehren. Aber wenn ich wegziehen müsste, dann nicht so weit weg.
Vielleicht nach Portugal, wegen der Sprache.
Und wann kommen Sie wieder mal nach Deutschland?
Ich würde gerne ein bisschen mehr Zeit in Deutschland verbringen,
komponieren, viele Städte kennen lernen. Auch die Sprache würde ich gerne
lernen, um Schopenhauer im Original zu lesen. Ich warte auf eine Einladung.
23 Jun 2014
## AUTOREN
Sunny Riedel
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Brasilien
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