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# taz.de -- Architektin und Linguist über Brasilien: „Tupi or not Tupi“
> Die Blindheit der brasilianischen Mittelschicht und die fehlende
> Aufarbeitung der Militärdiktatur: Ein Gespräch mit der Architektin
> Ambrosio und dem Linguisten Reich.
Bild: Erbaut 1960: Der Kongress in Brasilia von Oscar Niemeyer.
taz: Frau Ambrosio, Herr Reich, Charles de Gaulle hat Brasilien einst mit
dem Satz charakterisiert, dem Land fehle es an Ernst. Wie falsch lag er?
Ana Beatriz Ambrosio: Der Eindruck des Unernsten rührt vom jeitinho
brasileiro her, einer Einstellung, die weit verbreitet ist und sich auf den
kreativen Umgang mit Problemen im Alltag bezieht. Das geht dann auch oft
schief und die Fußballstadien werden zum Beispiel nicht termingerecht
fertig. Trotzdem läuft die WM.
Uli Reich: De Gaulles Landsmann Claude Lévi-Strauss hat das Land besser
verstanden. Sein Buch über Brasilien heißt „Traurige Tropen“. Wer sich au…
nur ein bisschen mit seiner Geschichte und kulturellen Vielfalt
beschäftigt, kann diesen Ernst in der Literatur, aber auch in populären
Formen der Kultur ausmachen. Dass die Brasilianer Lebensfreude an den Tag
legen, ist doch selbstverständlich.
Beim Singen der Nationalhymne wirken die Spieler der Seleção vom Text
angewidert. Drückt diese Geste Solidarität mit der Protestbewegung aus?
Ambrosio: Die Mannschaft hat die Proteste zumindest nicht verurteilt.
Früher wurde nur die Hälfte des Liedes gesungen. Vor einem Jahr hieß es
plötzlich, das Singen der kompletten Hymne soll Energie spenden.
Reich: Die Fußball-WM in Brasilien wird ja von der Fifa diktiert. Deshalb
können die Nationalspieler gar nicht anders, als ihre Solidarität mit der
Protestbewegung zu bekunden, weil die Demonstranten objektiv recht haben.
Die WM ist eine gute Plattform, um das Bild zurechtzurücken, das
systematisch seit der Zeit der Militärdiktatur aufgebaut wurde: das
Klischee von den fröhlichen, stets Samba spielenden, permanent auf Sex aus
seienden Brasilianern.
Was hatten Sie für ein Bild von Deutschland, bevor Sie nach Berlin gekommen
sind?
Ambrosio: Ich hatte nur Bruchstücke von Deutschland wahrgenommen: seine
schwierige Geschichte. Und es gab eben Klischees, etwa, die Deutschen seien
pünktlich und seriös. Jetzt, wo ich hier lebe, gefällt es mir sehr gut.
Auch wenn die Sprache kompliziert ist.
Hat sich Ihre Vorstellung von Brasilien mit dem gedeckt, was Sie im Land
erleben?
Reich: Mein Brasilien-Bild erweitert sich kontinuierlich. Das Land ist ein
Kosmos mit einer riesigen historischen Dimension. Wenn ich durch Brasilien
reise, habe ich das Gefühl, ich bereise die ganze Welt.
In den 1920er Jahren entstand in Brasilien die Avantgardebewegung des
Modernismo, die auf den Dichter Oswald de Andrade zurückgeht. Warum ist sie
wichtig?
Reich: Im Modernismo liegt die Moderne begründet und sie ist mit der Suche
nach einer Identität verknüpft. Tupi or not Tupi. Tupi heißt die
Sprachfamilie der indigenen Gruppen, die an der Küste bei Ankunft der
Portugiesen siedelten. Demografisch spielen sie heute keine Rolle mehr.
Vielmehr war dieses emphatische Bekenntnis des Modernismo gegen die
Dominanz der portugiesischen Kultur gerichtet, die aufgefressen werden
sollte, was im Konzept des Anthropophagismus, also der Menschenfresserei,
ausgedrückt wurde. Amerikanische, afrikanische und europäische Traditionen
werden verwurstet und brasilianisch gewendet. Das zeigt sich zum Beispiel
in der Toponymie: Itaquaquecetuba heißt erst seit den 50er Jahren so,
gegründet wurde die Stadt als Vila Nossa Senhora d’Ajuda. Die Moderne in
Brasilien ist eine Avantgarde, die nationalistisch ausgerichtet war und
ist. Dass man brasilianische Kultur auf einen gemeinsamen Nenner
runterbricht, funktioniert hingegen nicht. Viel eher sind es rhizomatische
Gebilde, die immer neu zusammengesetzt werden können.
Steht dies auf dem Lehrplan?
Ambrosio: Ja, die Semana de Arte Moderna lernen wir in der Schule. Es ist
zum Verständnis des Landes wichtig. Auch für Architektur. Noch im 19.
Jahrhundert sind alle Architekten zum Studieren nach Europa gegangen. Die
erste Universität wurde erst 1920 in Rio de Janeiro gegründet. Das Werk des
Architekten Oscar Niemeyer und die von ihm begleitete Errichtung von
Brasília als neue Hauptstadt lassen sich im Zusammenhang dieser
emanzipatorischen Bewegung situieren. Der Wille, mitten im Nirgendwo eine
Hauptstadt zu erbauen, zeugt vom politischen und kulturellen
Selbstbewusstsein Brasiliens bis zur Katastrophe der Militärdiktatur, 1964
bis 1985.
Wie stark hat Niemeyer Brasilien geprägt?
Ambrosio: Er ist der bekannteste Architekt des Landes. Aber er hat auch
anderswo seine Spuren hinterlassen: in New York bei der UNO, auch in
Berlin. Seine Bauweise symbolisiert unser Land, weil er die Geschichte
Brasiliens im 20. Jahrhundert architektonisch ausgestaltet hat.
Wie groß sind die Unterschiede innerhalb Brasiliens?
Reich: Einerseits gibt es sehr progressive Gesellschaftsschichten im Süden,
wo Formen der Demokratie herrschen, wie sie selbst in Mitteleuropa kaum
vorstellbar sind. Beispiel Porto Alegre, wo man in der Kommune per
Volksentscheid über den Haushalt abstimmt. Andererseits herrschen im
Nordosten noch mittelalterliche Verhältnisse. Dort existieren riesige
Latifundien, die von Großgrundbesitzern dominiert werden, völlig normal in
einem Land, das bis jetzt keine Landreform erlebt hat. Man kann momentan
auch ärmere Schichten in Shoppingmalls erleben, eine Revolution ist das
aber noch lange nicht.
Ändert Staatspräsidentin Dilma Rousseff daran nichts?
Reich: Sie ist eine Heldin der Linken, weil sie während der Zeit der
Militärdiktatur in der Guerilla war und gefoltert wurde. Es gelingt ihr
aber nicht, ihre wahrscheinlich guten Intentionen umzusetzen. Stattdessen
beobachten wir ihre Machtlosigkeit. Neben dem Fehlen einer Landreform ist
keine Bildungsreform in Sicht und auch keine Reform des Gesundheitswesens,
die grundlegend wären.
Ambrosio: Frau Rousseff hat es bis jetzt versäumt, die Geschichte der
Militärdiktatur umfassend aufarbeiten zu lassen. Obwohl ihr das Leid aus
eigener Anschauung bekannt ist, schweigt sie sich darüber aus. Viele
Brasilianer wissen bis heute nicht, was mit ihren verschwundenen
Angehörigen geschehen ist. Seit 2012 gibt es endlich die nationale
Wahrheitskommission. Aber viele der Zeitzeugen der Diktatur sind bereits
gestorben, die Zeit drängt.
Reich: Kein Vergleich mit Chile und Argentinien, wo die Erinnerung an das
Leid während der Diktatur wenigstens in Denkmälern und Tafeln im Stadtbild
der großen Städte bewahrt wird. Wo es Entschädigungszahlungen gegeben hat,
wo Militärs und Politiker auch juristisch zur Verantwortung gezogen worden
sind. Es gibt keine Reflexion und keine Kultur der Aufarbeitung.
Ambrosio: Bei der WM-Eröffnungsfeier war einer jener Putschisten neben
Rousseff zu sehen: José Maria Marin. Zur Zeit der Diktatur war er
Bürgermeister von São Paulo. Er hat die Diktatur mehrfach öffentlich
verteidigt. Heute ist er Präsident des brasilianischen Fußballverbandes.
Das ist unerträglich.
Was genau bedeutet Armut in Brasilien?
Reich: Während die Favelas inzwischen in Musik und Kino thematisiert
werden, sind sie in Brasilien selbst unsichtbar. Die Mittelschicht hat eine
Art Blindheit entwickelt, was das Thema angeht. In Rio ist das etwas
schwieriger, weil die Favelas mitten in den bürgerlichen Vierteln liegen.
Dort heißt die relevante Opposition „Asfalto“ oder „Morro“, also Aspha…
oder Hügel, auf denen sich die meisten der Favelas in den besten Lagen
erstrecken. Die Realität in den Favelas ist komplex. Es gibt dort strenge
Hierarchien, alles ist merkantilen Gesetzen unterworfen, eine
Schattenwirtschaft.
An der Ungleichheit entzünden sich die Proteste. Es fehlt an Schulen und
Universitäten.
Ambrosio: Ein Lehrer verdient in Brasilien ungefähr 1.700 Reais, das sind
etwa 550 Euro, damit kann man nicht mal seine Miete bezahlen, in den
Großstädten sind die Lebenshaltungskosten so hoch wie in Deutschland. Nur
wenige Menschen ziehen den Lehrerberuf überhaupt in Erwägung. Viele junge
Akademiker verlassen das Land.
Reich: Daher werden häufig unausgebildete Personen auf die Schüler
losgelassen.
Ambrosio: Das ist ein Erbe der Diktatur. Damals wurde Bildungspolitik
systematisch vernachlässigt. Unter Lula hat sich wenigstens der allgemeine
Wohlstand vergrößert, die untere Mittelschicht fährt nun Auto, und diese
Menschen wollen auf lange Sicht auch in den Genuss von Bildung kommen.
Können Sie etwas zum Zustand der Medien sagen?
Reich: Der Sender TV Cultura wurde 2014 von der BBC zu Recht als
zweitbestes Fernsehprogramm der Welt ausgezeichnet. Es gibt auch sehr gute
populär-wissenschaftliche Magazine zu kaufen, sogar eins für Linguistik.
Folha de São Paulo ist eine sehr gute Tageszeitung …
Ambrosio: … die im Ruch der Korruption steht. José Sarney, einer der
Herausgeber, ist ein Politiker, der schon seit der Diktatur seine Finger in
alles steckt. Er kontrolliert auch die renommierteste Tageszeitung im Land.
Brasilien wird ausschließlich von solchen Machtmenschen regiert. Das muss
sich ändern.
24 Jun 2014
## AUTOREN
Julian Weber
## TAGS
Brasilien
Dilma Rousseff
Samba
Feminismus
WM 2014
Fifa
Brasilien
Hier spricht Brasilien
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