# taz.de -- Kriegstagebuch aus dem Irak: Unsere Frau in Bagdad | |
> Die Kommentare auf Facebook verraten viel über die Stimmung der Menschen | |
> – und ihre Reaktion auf den Vormarsch von Isis in Richtung Hauptstadt. | |
Bild: Bewaffnete Schiiten bei einer Demonstration in Bagdad. | |
Weder ist der Irak nach dem 10. Juni 2014 der gleiche wie zuvor, noch sind | |
es die Iraker. Die nahezu widerstandslose Einnahme der zweitgrößten | |
irakischen Stadt Mosul durch die Kämpfer der Terrorgruppe Islamischer Staat | |
im Irak und in Syrien (Isis) und den mit ihnen verbündeten Baathisten ist | |
ein entscheidendes Ereignis in der Geschichte des Irak. Vielleicht erinnert | |
es die Menschen dort sogar an den 9. April 2003, als die US-Marines in | |
Bagdad einmarschierten. | |
Um die Stimmung der Menschen und ihre Reaktionen auf die Ereignisse, | |
insbesondere in der Hauptstadt Bagdad, besser zu erfassen, beschäftige ich | |
mich in den letzten Tagen verstärkt mit den Kommentaren auf Facebook. | |
Daran konnte mich auch der Beschluss des Kommunikationsministeriums der | |
Maliki-Regierung am 13. Juni, alle sozialen Netzwerke und | |
Internetkommunikationsplattformen von Facebook, Twitter, über Whatsapp, | |
YouTube, Viber und andere zu blockieren, nur kurz hindern. Solche | |
„Abschaltungen“ sind eine altbekannte Methode diktatorischer Regime, | |
hindern junge Leute jedoch nicht, andere Wege zu finden, um zu | |
kommunizieren. Sie programmieren und tauschen Dechiffrierungsprogramme oder | |
hacken sich in ausländische Server. | |
Meine „Informationsbeute“ in diesen Tagen war groß und brachte mich auf die | |
Idee, ein Tagebuch aus den Stimmen des Krieges zu verfassen. Ein Krieg, von | |
dem ich befürchte, dass er einer der längsten, härtesten und grausamsten | |
Kriege in der ohnehin kriegsreichen Geschichte des Irak werden wird. | |
Vor allem, weil ich nicht meine Sicht auf die bedrohliche Situation des | |
Landes aus dem sicheren Berlin aufschreiben, sondern einen direkten | |
Einblick geben will, wählte ich einige Kommentare und Postings einer Frau | |
aus, die mich tief berührten. Denn was diese Frau in Bagdad schreibt (ich | |
kenne ihren Namen, verzichte aber darauf, ihn zu nennen, um sie nicht in | |
Gefahr zu bringen), scheint mir die beste Zusammenfassung der Geschehnisse. | |
Ihre Texte und ihre Kommentare machen nicht den Eindruck, dass sie zu Hause | |
sitzt und schreibt, sondern vielmehr, dass sie durch die Straßen von Bagdad | |
streift, mit Menschen redet und ihre Meinungen sammelt. Wie hieß der Titel | |
des Graham-Green-Romans? „Unser Mann in Havanna“. Diese Frau ist unsere | |
Frau in Bagdad. | |
## Der stinkende Geruch des Sektierertums | |
Posting Nummer 1: Ich habe eine kleine Bitte an sämtliche Politiker des | |
Irak. Sunniten und Schiiten. Ich bitte euch, gebt dem Irak endlich den | |
Gnadenschuss und teilt den Kuchen unter euch auf. Aber erzählt mir nicht, | |
dass ich mir keine Sorgen machen soll, um meine vertrauten Freunde und | |
Arbeitskollegen, die in Mosul leben, weil ich in einer südlichen Stadt des | |
Irak lebe. Teilt das Land nach eurem Gutdünken auf, aber lasst die | |
Unschuldigen in ihren Häusern leben und vertreibt die Menschen von Mosul | |
und Tikrit nicht. (12. Juni, vormittags) | |
Posting Nummer 2: Was mir am meisten Schmerzen bereitet, sind die | |
Kommentare meiner Freunde auf Facebook, aus denen der stinkende Geruch des | |
Sektierertums aufsteigt, was mich ängstigt, verzweifelt macht und | |
enttäuscht. (12. Juni, mittags) | |
Posting Nummer 3: Alle in Bagdad haben Angst. Die Ausreisemöglichkeiten | |
sind gleich null. Alles ist ausgebucht. Die Wege von und nach Bagdad sind | |
gesperrt. Alle lauern und versuchen, in diesem Laueren einen Ausweg zu | |
finden oder Hoffnung zu schöpfen. Das ist alles, was in ihren müden Stimmen | |
in den Gesprächen durchklingt, währenddessen haben die Politiker | |
angefangen, das Land, das sie zerstört haben, zu verlassen. Sie gehen | |
dorthin, wohin ihre Beute schon vor ihnen gegangen ist. Bei uns ist nur | |
Gott geblieben. Vielleicht reicht er uns ja. (12. Juni, abends) | |
Posting Nummer 4: Die große Katastrophe ist, was jetzt passiert, denn dann | |
wird Bürgerkrieg sein. Wenn unsere Führer, sowohl die Sunniten als auch die | |
Schiiten auf ihrer Dummheit beharren, dann werden die sunnitischen Viertel | |
Schutz bei den Isis-Leuten suchen und die schiitischen Viertel Schutz bei | |
den Milizen. So kehren wir zurück zu noch zu schlimmeren Zeiten als 2006. | |
(12. Juni, morgens) | |
Posting Nummer 5: Allmählich wird es in diesen Krisentagen unmöglich, mit | |
jemandem ein vernünftiges Gespräch zu führen. Die friedlichsten, die | |
friedliebendsten, sind wie berauscht vom Duft des Blutes, das in unserem | |
Land fließt. Freunde, die immer behauptet haben, dass sie Individualisten | |
oder Anarchisten sind, gehören plötzlich einer Konfession an. Jedes | |
Gespräch, jede Diskussion mit ihnen endet mit dem dummen Satz: Aber die | |
anderen hassen uns. Wie können wir sie da lieben? (13. Juni, mittags) | |
Posting Nummer 6: Keine Stadt, keine Gruppe, die nicht plötzlich vom Fieber | |
des Hasses befallen worden ist, ja ihm verfallen ist. Die religiösen | |
Gelehrten sind plötzlich Kriegspaten geworden. Sie segnen junge Männer und | |
schicken sie in den Kampf. Es wird der Krieg der Betrogenen, ein Krieg | |
einer ignoranten Generation, die sich freiwillig an die Front meldet. Das | |
Problem ist, dass diese jungen Männer aufrichtig sind, unschuldig, ein | |
naives, weißes Blatt. Es ist der Wahnsinn allein und Nichtwissen, was diese | |
jungen Männer euphorisch macht. Wo aber verstecken sich ihre Mütter, wenn | |
ihre Söhne mit kaltem Blut in Scharen von neuen Führern auf die | |
Schlachtbänke geschickt werden? (13. Juni, nachmittags) | |
Posting Nummer 7: Das Innenministerium versichert uns, dass Bagdad jetzt | |
bereit ist für die Konfrontation mit Isis. Heißt das, dass die Regierung | |
keine Absicht hat, die von Isis bereits eingenommen Städte zurückzuerobern? | |
Das heißt, dass sie einfach auf die Ankunft der Isis-Leute in Bagdad | |
warten, um die Stadt zu verteidigen. Und ich sage euch, wenn Isis kommt, | |
dann werden alle sunnitischen Stadtteile Bagdads in wenigen Stunden zu den | |
Isis-Kämpfern überlaufen. (13. Juni, abends) | |
Posting Nummer 8: Vor einigen Minuten versicherten die Schlagzeilen, dass | |
die Verteidigungsanlagen vor Bagdad jetzt voll ausgebaut sind. Ich frage | |
nach einem Rat bei euch: Heißt das, dass unsere Regierung und unsere | |
Schlaumeier von Politikern sich in Bagdad verschanzen werden, wartend auf | |
die Isis-Kämpfer? Und dann in der Stunde der Wahrheit verlassen sie die | |
Stadt mit ihren Privatflugzeugen? (13. Juni, spätnachts) | |
Das war der letzte Eintrag der Frau, denn spätnachts am 13. Juni 2014 hat | |
das Kommunikationsministerium den Zugang zu allen sozialen Netzwerken | |
gesperrt. Und nicht nur das, auch zwei der größten Mobilfunknetzbetreiber | |
stoppten ihren Dienst. Am 15. Juni konnte ich die Frau dann im Netz wieder | |
lokalisieren. Da wir schon öfter unsere Meinungen ausgetauscht hatten, | |
verbindet uns ein gewisses Vertrauen. Also meldete ich mich bei ihr im | |
Chat. | |
## Freundchen Schriftsteller | |
Wali: Wie geht es so bei dir? Wie ist die Lage bei euch? – Sie: Bitte, du | |
Freundchen Schriftsteller, formuliere eine bessere Frage. Das ist zu groß | |
für eine Antwort. – Wali: Entschuldige. Erstens freue ich mich, mit dir zu | |
reden, zweites wusste ich nicht, wie ich anfangen soll. Lass es mich noch | |
mal versuchen. Stimmt es, dass die Regierung Internet, fb und Twitter | |
gesperrt oder eingeschränkt hat? – Sie: Nein, Internet ist da. Aber die | |
Social Media Programs sind gesperrt. Durch die Hilfe eines Freundes konnte | |
ich die normalen Server umgehen. Er hat sich irgendwo reingehackt, damit | |
ich wieder auf fb komme. – Wali: Du bist großartig. – Sie: Diese Mittel | |
sind für mich wichtig, um die Volksstimmung zu erkennen. – Wali: Und wie | |
ist die Volksstimmung? – Sie: Auf jeden Fall ist die Lage furchterregend. | |
Das Chaos wird alle Bereiche des Lebens beherrschen. Das Land wird in | |
einigen Tagen eine einzige, riesige Militärkaserne sein. Gleiche | |
Kriegsstimmung wie 2003. Mit dem Unterschied von Gesichtern, Namen, kleinen | |
Details. Aber das ändert nichts am Gesamtbild. – Wali: Oder wie am 22. | |
September 1980. Der Tag des Ausbruchs des Iran-Irak-Kriegs, den ich erlebt | |
habe. Jeder Zweifel an dem Krieg, jedes Gespräch über die Profiteure, hieß | |
Verrat. – Sie: Die Sache ist jetzt, alle haben Angst. Die Schiiten habe | |
noch mehr Angst als die anderen. – Wali: Denn die Schiiten fühlen sich | |
einer Regierung aus Papier ausgesetzt, weder Armee noch Polizei, die sie | |
schützen. Sie zahlen den Preis für die Macht, die in ihrem Namen regiert | |
hat. – Sie: Genau das wird geschehen. – Wali: Bist du zu Hause? – Sie: Ich | |
bin bei der Arbeit. | |
Die Verbindung brach ab hier immer wieder ab. Unser Gespräch holperte mit | |
ständigen Wiederholungen und Löchern dahin. Ein halbe Stunde habe ich sie | |
ganz verloren. Als wir dann wieder kommunizieren konnten, wollte ich | |
unbedingt noch eines erfahren, bevor die Verbindung erneut abbrach. Wali: | |
Sag mir: Hast du eine Botschaft an die deutsche Presse? – Sie: Sag denen | |
bitte, dass sie objektiv bleiben und objektiv berichten. – Wali: Und was | |
wirst du jetzt tun? – Sie: Was soll ich tun? Mir bleibt nur, mich von allen | |
zurückzuziehen, solange die anderen da draußen fiebern und toben und für | |
einen Krieg schreien. | |
Wir verabschiedeten uns, und es schien mir, als ob sich mit dieser tapferen | |
Frau ein ganzes Land verabschiedete. Ich weiß, dass sie es schwer haben | |
wird. Denn selbst im Exil ist das Leben nicht so hart, als wenn man allein | |
mit seiner Haltung in seinem Heimatland lebt. | |
18 Jun 2014 | |
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