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# taz.de -- Die Wahrheit: Wo ist der Tatzelwurm?
> Früher war er eine regelrechte Touristenattraktion. Aber schon seit 30
> Jahren wurde der Superwurm nicht mehr in seinem alpinen Habitat
> gesichtet.
Bild: „Vierbeinig ist der Grimsel-Lurch, sein Mittelteil hängt leider durch.…
„Gibt es einen Tatzelwurm?“, fragte der Handweiser für Naturfreunde Kosmos
1931 und die Tribune de Genève antwortete noch 1970 mit „Cherchez le
Tatzelwurm“, da die Frage offensichtlich immer noch nicht geklärt war. Seit
200 Jahren stellt die Wissenschaft die Frage nach dem Tatzelwurm.
Der erste Fragesteller in dieser langen Reihe war Samuel Studer, der 1814
in seiner „Reise in den Alpen“ von der Existenz eines Tatzelwurms
berichtete, der den Einheimischen von „Unterseen weg bis auf die Grimsel“
im Berner Oberland als „Stollenwurm“ bekannt sei. Damit war nicht der
herkömmlich kriechende Wurm, sondern ein mythischer Schlangenwurm gemeint,
den man auch als Lindwurm kennt. Der Stollenwurm lebt nicht etwa in dunklen
Erdgängen, die „Stollen“ verweisen vielmehr auf die mindestens „zwey Fü…
(gemeint sind eher: kurze Beine) am Leib des sonderbaren Reptils. Diese
Bedeutung des Begriffes „Stollen“ ist ja allgemein bekannt, auch unsere
Fußballschuhe laufen auf vielen kleinen Stollen.
Anderswo wurde der Stollenwurm Tazzel-, Daazl oder Tatzelwurm genannt. Aber
auch als Berg- oder Springstutzen, Praatzelwurm und Füesseliwurm begegnet
er uns, und alle diese Tatzel, Praatzel oder eben Füesseli genannten
Gehwerkzeuge verweisen darauf, dass der Wurm gut zu Fuß ist: Augenzeugen
berichten gewöhnlich von zwei bis vier Extremitäten. Ansonsten sei der
Tatzelwurm von wurstförmigem Aussehen und wird von Einheimischen als
„armdick“, „in der Dicke ungefähr wie ein Bierkrügel“ oder „dick wi…
Fuß“ beschrieben. Eine Schönheit ist der Bergstutzen nicht gerade: eine
„Grauliche Farbe“ habe er und wird ferner als „schuppig“ und „unbehaa…
nur am Kopf einige Borsten“ beschrieben. Dazu kommen noch ein starker,
widriger Geruch und ein bösartiger Blick.
Doch der Blick in die bösartigen Augen des Tatzelwurms verschattet sich
zunehmend: Die letzte Sichtung eines mutmaßlichen Bergstutzen in Aosta 1984
liegt lange zurück und es wurde still um den Tatzelwurm. Ganz anders in den
dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, als eine regelrechte
Tatzelwurmhysterie ausgebrochen war, nachdem eine Berliner Zeitung eine
Belohnung von 1.000 Reichsmark für einen Tatzelwurm ausgeschrieben hatte:
Tot oder lebendig! Ein offensichtlich gefälschtes Foto löste eine hektische
Betriebsamkeit in den alpinen Tatzelwurmregionen aus, Suchexpeditionen
rutschten über Geröllhalden, auf denen sich vorher noch die Bergstutzen
gesonnt hatten, und die Hüttenwirte rieben sich erfreut die Stollen
(gemeint sind eher: die Hände an ihren kurzen Armen) über den blühenden
Tatzelwurmtourismus.
In Kosmos, dem „Zentralblatt für das naturwissenschaftliche Bildungs- und
Sammelwesen“, erzählte der Agraringenieur Flucher von „völlig ernst zu
nehmenden Menschen“, die berichteten, dass ein Tatzelwurm „fauchend
pfeifende Laute wie eine bös gemachte Katze“ ausstieß, ehe er über das
Geröll verschwand. Auch ein 60-jähriger Berufsjäger erzählte, dass er einen
Springwurm gesehen hatte, als er selbst noch „als Wilderer dem Waidwerk
frönte“. Weitere Gewährsmänner waren ein alter Bauer vom Fuße des Hundsto…
und ein Holzarbeiter aus den Gesäuselbergen und der angesehene Liesenwirt
in Uttendorf – kurzum: lauter seriöse Zeugen. Der Liesenwirt konnte sich
vor dem Springwurm nur in Sicherheit bringen, weil dieser beim
Seitwärtslaufen den steilen Berghang hinuntergerollt sei, da er ja keine
Hinterbeine als Stütze habe, wie zumindest Wurmexperte Flucher annahm.
Eine möglicherweise verhängnisvolle Schwäche, denn der Tatzelwurm wurde
seit 30 Jahren nicht mehr gesichtet, weder in den Gesäuselbergen noch auf
der Schirmalp. Was, wenn der geheimnisvolle Tatzelwurm einfach ausgestorben
ist, ehe er überhaupt richtig wissenschaftlich beschrieben werden konnte?
Zuzutrauen wäre es ihm, dem vermaledeiten Haderlump, dem nackerten!
7 Jul 2014
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