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# taz.de -- Die Wahrheit: Waagerecht wandern
> Seit Jahrhunderten bezwingen Alpinisten aus Daffke jeden Gipfel, doch die
> wahre Erfüllung findet man nur im Tal.
Bild: Marsch, marsch unten bleiben und nicht in noch höhere Höhen aufsteigen!
Berge waren dem Menschen schon immer ein Ärgernis, da sie ihn am
ungestörten Fortkommen hinderten. Der weltgewandte Baron Carl Ludwig von
Pöllnitz brachte 1735 seinen Missmut deutlich zum Ausdruck: „Dreiviertel
Meilen von Innspruck kommt man in sehr unangenehme und verdrießliche
Gebirge, davon der höchste Brenner genannt wird.“ Auch Goethe ist auf
seiner Schweizreise 1775 angesichts der Berge „verwirrt und beunruhigt“ und
gab enerviert jeden Versuch auf, diese Landschaft in Zeichnungen
festzuhalten – zu hässlich und klobig erschien ihm das alpine Ambiente.
Der Bergbevölkerung der Alpen war Schönfärberei seit jeher fremd. Sie
belegte die hässlichen Schrund- und Faltengebirge vor ihrer Haustür mit
drastischen Namen: Kleiner Krottenkopf, Schwarze Milz, Haariger Rücken,
Zinken, Brocken und Watzmann. Was konnte der Gebirgler von den schartigen
Gratbergen und hässlichen Horstgebirgen schon erwarten? Die Namen Höllhorn,
Sorgschrofen, Teufelsberg und Grauenstein verraten es.
Vom Jauchstein über den Kackenkopf bis zum Kotzen, der Berg war dem
Menschen höchst zuwider. Auch die Reisenden des 18. Jahrhundert machten da
keine Ausnahme. Sie beschrieben die Berge als „erschröklich, entsetzlich,
fürchterlich“, wie Aloys Dreyer 1913 in einem Aufsatz über die Alpenreisen
jener Zeit berichtet. Der Reisende Blainville beklagt auf seiner Fahrt von
Lausanne nach Genf das Offensichtliche: „Auf der Savoyischen Seite wurde
unsere Aussicht von Bergen eingeschränkt.“
Auch dem Schöngeist und Klassizisten Johann Joachim Winckelmann entfährt
angesichts der Alpen ein ungläubiges „Welcher entsetzliche Anblick, welche
ungeheuere Höhe der Berge“. Der Flachländer Ernst Moritz Arndt bringt es
1798 auf den klaustrophobischen Punkt: „Es ist ein unbeschreiblich süßes
Gefühl, wenn man stundenlang zwischen engen Bergen eingeklemmt gewesen ist,
mit einem Male in die stille und sanfte Natur entrückt zu sein.“
Doch leider sollte die vernünftige und gut begründete Ablehnung der
störenden alpinen Bergwelt von den zum Exzess neigenden Romantikern
aufgeweicht werden. Der exzentrische englische Dichter Addison empfand
angesichts der schrundigen Bergriesen „eine angenehme Art von Schauder“.
Ein Pionier der Bergsteigerei, der schreibende, zeichnende und
komponierende Marc-Théodore Bourrit, prägte den Ausdruck „horribles
beautées“.
Auch den Ur-Alpinisten und Naturforscher Horace-Bénédict de Saussure
überfällt 1796 ein „Gefühl aus Schrecken und Bewunderung gemischt“, was …
freilich nicht davon abhielt, den Montblanc zu besteigen. Bei diesen
gemischten Gefühlen sollte es leider nicht bleiben, der oben erwähnte
Alpenvereinschronist Dreyer sieht in den späteren Jahrzehnten „das
Selbstbewusstsein“ der frühen Bergsteiger, „das stolze Gefühl der Kraft,
die Freude über den errungenen Sieg (über den Berg) mächtig emporlodern“.
Diesen Sieg sollten spätere Bergtouristen immer einfacher erringen können:
Gebirgsbahnen wurden angelegt, Steige und Stiege errichtet, die Sennhütten
wurden komfortabler und die Hilfsmittel immer kommoder.
In einem Bericht des Deutschen Alpenvereins von 1907 wird berichtet, dass
zwei Bergführer eine lange Stange an den Enden hielten, „die der inmitten
einherschreitende Bergfahrer als eine Art von Geländer benutzte“. Leitern
sind noch heute beim Aufstieg gebräuchlich und dem Bergsteiger Woodley
wurde bei seiner Tour auf den Piz Urlaun von einem Bergknappen sogar ein
Bett nachgetragen.
Aber sind voll verkabelte Bergaufstiege und mit Dübeln gespickte Bergrücken
überhaupt noch zeitgemäß? Sollten wir nicht zur Natürlichkeit zurückfinden,
zur Wiederentdeckung der Langsamkeit und des waagerechten Wanderns? Was ist
so verwerflich an Höhenangst? Das fragen die Begründer der neuen Bewegung
des Voralpinismus. Sie fordern sanften Tourismus statt Sänftentourismus.
Dabei wollen sie keineswegs auf die positiven Aspekte der Gipfelstürmerei
verzichten: die Gruppe, die Gaudi und gute Brotzeit.
Man erkennt eine Gruppe von Voralpinisten daran, dass sie aneinander
angeseilt, fern der bedrohlichen Berge die süßen Mühen in der Ebene suchen.
Die Voralpinisten sind die Seilschaften der Senke, und wenn sie schon
einmal abstürzen, dann am Tresen der Rasthäuser, in denen sie abends
biwakieren.
6 May 2014
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