# taz.de -- Präsidentschaftswahl in der Türkei: Erdogan City | |
> Mit staatlichem Wohnungsbau hat Erdogans AKP eine besondere Art der | |
> Klientelpflege betrieben. Ein Besuch in Sultanbeyli. | |
Bild: Moscheen prägen das Bild von Erdogan City: die Atasehir-Mimar-Sinan-Mosc… | |
ISTANBUL taz | „Der wird hier bestimmt 90 Prozent bekommen.“ Er nickt, | |
überlegt kurz und setzt dann nach: „Ich denke, sogar über 90 Prozent“. Ve… | |
Gündogdu ist ein seriöser Geschäftsmann, der nicht einfach so eine Prognose | |
abgibt. Die Wahrscheinlichkeit ist deshalb groß, dass er Recht bekommen | |
könnte. Der Mann, über den Gündogdu redet, ist Ministerpräsident Recep | |
Tayyip Erdogan, der bei den Wahlen am Sonntag für das Präsidentenamt | |
kandidiert. In Sultanbeyli, dem Vorort von Istanbul, wo Veli Gündogdu lebt, | |
hatte Erdogans AKP schon bei den Kommunalwahlen im März satte 80 Prozent | |
der Stimmen erhalten. Es sieht so aus, als bekäme er jetzt noch mehr. | |
Sultanbeyli, nordöstlich von Istanbul gelegen, etwa anderthalb Busstunden | |
vom Bosporus entfernt, gehört zur Großgemeinde Istanbul. Von der Autobahn | |
durchschnitten, ist Sultanbeyli eine Ansammlung architektonisch | |
anspruchsloser Apartmenthäuser, die sich mehr oder weniger ähneln. Das | |
Zentrum bildet eine Fußgängerzone, parallel zur Autobahn, die genauso in | |
jeder kleineren anatolischen Stadt liegen könnte. Nichts weist darauf hin, | |
dass Sultanbeyli ein Teil der pulsierenden Metropole Istanbuls sein könnte. | |
„Wir sind ein Abbild Anatoliens“, sagt auch Veli Gündogdu, „von überall… | |
sind die Leute in den letzten 20 Jahren gekommen.“ | |
Er selbst und sein Freund Mehti Döner, mit dem er in einem Kebab-Restaurant | |
an der Hauptstraße sitzt, gehören schon zu den Alteingesessenen von | |
Sultanbeyli. Beide kamen Anfang der 90er Jahre aus dem kurdischen Bingöl | |
hierher, zu einer Zeit, als Sultanbeyli noch nicht viel mehr als ein großes | |
Dorf an der neugebauten Autobahn Richtung Ankara war. | |
## Früher heiß es „Klein-Iran“ | |
Schon damals hatte Sultanbeyli einen konservativen Ruf. Der Bürgermeister | |
gehörte zur islamischen Refah-Partei, einer Vorläuferorganisation der AKP. | |
Er machte Schlagzeilen damit, dass er ein Denkmal des säkularen | |
Staatsgründers Atatürk abreißen lassen wollte. In den Istanbuler Zeitungen | |
hieß Sultanbeyli deswegen nur „Klein-Iran“, auch weil der Bürgermeister | |
alle Straßennahmen auf grünen Schildern, der Farbe des Propheten, anbringen | |
ließ. Heute sind die Straßennamen wieder auf weißen Schildern gedruckt, und | |
die Atatürk-Statue steht immer noch in der Fußgängerzone. | |
Auch für Veli Göndogdu und Mehti Döner ist „Klein-Iran“ längst vergesse… | |
Für die beiden Geschäftsleute ist Sultanbeyli heute eine moderne Stadt, in | |
der es sich gut leben lässt. In ihren Augen sind die gesichtslosen | |
fünfstöckigen Betonbauten, die in den letzten 20 Jahren überall in | |
Sultanbeyli hochgezogen wurden, angemessen für die mittlerweile auf 300.000 | |
Einwohner angewachsene Gemeinde. Das rasante Wachstum halten sie vor allem | |
Erdogan zugute. „Als er in den 90er Jahren Bürgermeister von Istanbul war, | |
hat er als Erster in Sultanbeyli investiert. Er hat das Potenzial erkannt.“ | |
Ab 2002 von einem AKP-Bürgermeister regiert, wurde Sultanbeyli zum am | |
schnellsten wachsenden Stadtteil Istanbuls. Vor vier Jahren startete der | |
staatliche Wohnungsbaukonzern Toki in Sultanbeyli auf Anordnung des | |
Ministerrats eines der größten Stadtentwicklungsprojekte des Landes. Dazu | |
gehörte auch der Neubau von 35.000 bestehenden Häusern, die überwiegend | |
ohne Baugenehmigung errichtet worden waren. Anders als in der Innenstadt, | |
wo Erdogan ebenfalls halbe Stadtviertel abreißen und neu bauen lässt, gab | |
es in Sultanbeyli keine Proteste. Die Bewohner der illegalen Häuser | |
erhielten reguläre Besitzurkunden für die auf Staatskosten errichteten | |
Neubauten. | |
Das bringt Wählerstimmen, wie Mehti Döner und Veli Göndogdu zugeben. Der | |
staatliche Wohnungsbau sorgt für preiswerten Wohnraum in vielen | |
AKP-Hochburgen, doch in Sultanbeyli ist diese Art der Klientelpflege | |
besonders auffällig. Slums, auf Türkisch gecekondular („über Nacht gebaute | |
Häuser“), gibt es hier keine mehr. | |
## „Erdogan ist kein Weichei“ | |
Die beiden Kurden aus Bingöl haben aber noch mehr Gründe, Erdogan zu | |
wählen. „Der ist eben ein richtiger Politiker, nicht so ein Weichei wie der | |
Gegenkandidat Ihsanoglu, der von Politik keine Ahnung hat.“ Und obwohl am | |
Sonntag mit Selahattin Demirtas auch ein kurdischer Politiker ums | |
Präsidentenamt konkurriert, zweifeln die beiden keinen Moment an ihrer | |
Wahl. „Demirtas“, sagt Mehti Döner, „der ist doch nur ein | |
Minderheitenkandidat.“ Das er selbst dieser Minderheit angehört, ficht ihn | |
nicht an. „Erdogan hat schließlich den Friedensprozess mit den Kurden | |
eingeleitet.“ | |
In einem Teegarten einer Seitenstraße, der seinen Gästen auch die nargile, | |
die orientalische Wasserpfeife, anbietet, sitzt Cigdem. Sie ist 28 Jahre | |
alt, trägt türban, das religiöse Kopftuch, ist aber ohne männliche | |
Begleitung und raucht. Auch sie wird „natürlich“ Erdogan wählen. Sie kenne | |
überhaupt niemanden in Sultanbeyli, der ihn nicht wählen will. „Erdogan hat | |
die Wirtschaft in Schwung gebracht und für Wohlstand gesorgt.“ | |
Cigdem ist eine geborene Istanbulerin. Vor acht Jahren zog sie aus der | |
Innenstadt hierher. „Die Wohnungen sind billig, und es gibt gute Schulen | |
für meine Kinder. Auch die Gesundheitsversorgung ist sehr gut“, meint sie. | |
Ihr Mann hat mit Freunden ein Geschäft gegründet, das gut läuft, sie selbst | |
arbeitet fest angestellt als Buchhalterin. Auch die Fahrt ins Zentrum wird | |
bald kein Problem mehr sein, da Erdogan gerade eine U-Bahn hier heraus | |
bauen lässt. | |
## Korrupt sind sie doch alle | |
Cigdem gehört zu den selbstbewussten jungen Musliminnen, für die der | |
Erdogan-Staat bereits den größten Teil ihres politischen Lebens ausmacht. | |
Der Streit zwischen religiösem und säkularen Staat ist für sie längst | |
abgehakt. „Selbstverständlich ist die Türkei ein muslimischer Staat, aber | |
Laizisten können auch hier leben“, sagt sie – pragmatisch, nicht fanatisch. | |
Die Kritik an Erdogan nimmt sie ebenso pragmatisch zur Kenntnis. „Es | |
stimmt, dass er autoritär ist“, sagt Cigdem. „Aber wie sonst hätte Erdogan | |
die Türkei so schnell so gründlich verändern können?“ Auch die | |
Korruptionsvorwürfe gegen Erdogan bereiten ihr keine schlaflosen Nächte. | |
„Na und?“, meint sie, „selbst wenn er und seine Familie für sich etwas | |
abgezweigt haben – auch andere Regierungen waren korrupt, aber diese hier | |
tut wenigstens etwas für uns.“ | |
So hat Hüseyin Keskin, der AKP-Bürgermeister von Sultanbeyli, einen | |
verdreckten Feuerwehrteich in einen See mit Parkanlage verwandeln lassen. | |
„Den müssen Sie sich unbedingt anschauen“, sagt Cigdem zum Abschied. Im | |
Park lässt sich nach längerer Suche tatsächlich noch ein Einwohner | |
auftreiben, der – vielleicht – nicht Erdogan wählen will. Nurulla Inal war | |
Verkäufer in einem Juwelierladen im säkularen Kadiköy. Als sein Chef vor | |
acht Jahren eine Zweigstelle in Sultanbeyli aufmachte, wurde er hierher | |
versetzt. Er fühlt sich immer noch ein wenig fremd. „Urbanes Leben findest | |
du hier nicht.“ Er vermisst das lebhafte Treiben in der Altstadt von | |
Kadiköy. „Es gibt in ganz Sultanbeyli kein Restaurant, in dem Alkohol | |
ausgeschenkt wird“, berichtet er. Wer ein Bier trinken will, muss sich an | |
einem der wenigen Kioske versorgen, die Alkohol im Angebot haben, und das | |
Getränk in einer Tüte verstecken. | |
## „Müll wegräumen, können sie“ | |
Auch die Schulen, die Cigdem so begeistern, finden nicht seine Anerkennung. | |
„In der Klasse meines Sohns sitzen fast fünfzig Schüler, wie sollen die | |
Kinder da ordentlich lernen?“ Investiert werde nur in die religiösen | |
Schulen. Aber, scherzt Nurulla, „den Müll wegräumen können sie“. Und er | |
stellt fest: „Ein schöner Ort zum Leben ist Sultanbeyli nicht.“ | |
Zum Abschied zeigt Nurulla Inal einen kleinen Hügel, von dem aus sich ganz | |
Sultanbeyli überblicken lässt. Fern am Horizont sind die Hochhäuser der | |
Innenstadt zu erkennen. Nur das Meer lässt sich nicht einmal erahnen. „Es | |
gibt hier Leute, die noch nie das Meer gesehen haben“, sagt er | |
kopfschüttelnd. Nurulla vermisst das Meer. | |
9 Aug 2014 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
Nejla Osseiran | |
## TAGS | |
Recep Tayyip Erdoğan | |
Schwerpunkt AKP | |
Präsidentschaftswahl | |
Schwerpunkt Türkei | |
Wohnungsbau | |
Schwerpunkt Türkei | |
Schwerpunkt Türkei | |
Schwerpunkt Türkei | |
Recep Tayyip Erdoğan | |
Schwerpunkt Türkei | |
Schwerpunkt Türkei | |
Schwerpunkt Türkei | |
Schwerpunkt Türkei | |
Schwerpunkt Türkei | |
Schwerpunkt Türkei | |
Schwerpunkt Türkei | |
Schwerpunkt Türkei | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Türkei erlaubt Kopftuch an Gymnasien: „So leben, wie es richtig erscheint“ | |
Die Regierungspartei AKP geriert sich als Kämpferin für die Freiheit und | |
erlaubt die Kopfbedeckung für Schülerinnen. Lehrer-Gewerkschaften sind | |
empört. | |
Wahlen in der Türkei: Ein islamischer Papiertiger | |
Ahmet Davutoglu ist neuer Chef der AKP und wohl auch der nächste | |
Regierungschef. Ist er Erdogans Befehlsempfänger oder hat er eigene | |
Spielräume? | |
Kurden in der Türkei: Streit über Guerillero-Denkmal | |
Kaum errichtet, wird die Statue eines Mitgründers der kurdischen PKK wieder | |
abgerissen. Sie war ein Ärgernis für Erdogan, aber auch für Öcalan. | |
Kommentar Präsidentschaftswahl Türkei: Die unperfekte One-man-Show | |
Erdogan wurde gleich im ersten Durchgang gewählt. Doch 51,8 Prozent sind | |
ein maues Ergebnis. Der Präsident hat keinen Freibrief für die | |
Alleinherrschaft. | |
Nach der türkischen Präsidentschaftswahl: Erdogan umarmt alle | |
Die absolute Mehrheit schon im ersten Wahlgang – Recep Tayyip Erdogan ist | |
der strahlende Sieger. In seiner Jubelrede verspricht er viel, nicht | |
zuletzt eine „neue Türkei“. | |
Vorläufiges Wahlergebnis: Erdogan ist türkischer Präsident | |
Der Ministerpräsident kann nach Auszählung von mehr als drei Vierteln der | |
Stimmen mit einer absoluten Mehrheit rechnen. Damit würde ein zweiter | |
Wahlgang entfallen. | |
Präsidentschaftswahl in der Türkei: Ein ganz besonderer Tag | |
Die Türkei wählt einen neuen Präsidenten. Und dann? Unsere Autorin wagt | |
einen Blick in die Zukunft – mit einer ironischen Short Story. | |
Präsidentschaftswahl in der Türkei: Gezi – so weit weg, so gegenwärtig | |
Die Proteste im Gezi-Park bleiben in Erinnerung: für die Opposition als | |
Zeit des Aufbruchs und der Hoffnung, für die Regierung als Moment der | |
Angst. | |
Präsidentschaftswahl in der Türkei: Der Kampf wird härter | |
Die Oppositionsparteien enttäuschen im Kampf um die Macht. Erdogans | |
erwartbarer Sieg wird die Gegensätze in der Türkei verschärfen. | |
Präsidentschaftswahl in der Türkei: Keine faire Chance im Wahlkampf | |
Gleich zwei Kandidaten treten gegen Erdogan an, der auch die Medien | |
kontrolliert. Ihre Chancen, auch nur in die Stichwahl zu kommen, sind | |
gering. | |
Präsidentschaftswahl in der Türkei: Andersdenkende sind Feinde | |
Bei seinem Wahlsieg 2002 galt Erdogan als Saubermann. Heute ignoriert er | |
die Hälfte der Bevölkerung und setzt auf religiös-konservative Sunniten. | |
Präsidentschaftswahl in der Türkei: Der neue Übervater | |
Kein Politiker seit Kemal „Atatürk“ hat die Türkei so stark geprägt wie | |
Erdogan. Als Präsident würde er den Staatsgründer wohl endgültig vom Sockel | |
stoßen. |