# taz.de -- Präsidentschaftswahl in der Türkei: Ein ganz besonderer Tag | |
> Die Türkei wählt einen neuen Präsidenten. Und dann? Unsere Autorin wagt | |
> einen Blick in die Zukunft – mit einer ironischen Short Story. | |
Bild: „Kein Mensch mag Gefängniswärter.“ | |
Beim Aufwachen schlug ihm das Herz bis zum Hals: laut und schnell wie das | |
Schlagzeug einer Rockband. Um sich zu beruhigen, trank er von seinem | |
Wasser, in das er eine Scheibe Zitrone zu werfen pflegte. | |
Im Bad, während er sich das Gesicht wusch, fiel ihm auf, dass sein Bart | |
gewachsen war, nicht viel, nur leicht. An einem gewöhnlichen Tag würde er | |
sich nicht die Mühe machen, sich zu rasieren, was er ohnehin höchst ungern | |
tat, weil er es immer fertigbrachte, sich zu schneiden. Doch heute war eben | |
kein gewöhnlicher Tag. Heute musste alles tadellos sein. Er rasierte sich | |
sorgfältig und setzte sich an den Frühstückstisch: eine Scheibe Käse und | |
zwei kleine Paprikaschoten, wie immer. Zum ersten Mal in seinem Leben ließ | |
er eine Schote auf dem Teller liegen, wahrscheinlich vor Aufregung. Sein | |
Magen meldete sich mit einem Krampf und mit leichter Übelkeit, wie damals | |
vor einer Prüfung in der Grundschule. Vielleicht sollte ich ein | |
Beruhigungsmittel nehmen, dachte er. Dann verwarf er diesen Gedanken | |
wieder. Er musste heute ganz wach sein. Alles bis ins kleinste Detail in | |
sein Gedächtnis eingravieren. Diesem heutigen Tag einen Platz unter | |
Erinnerungen bereiten, die selbst in hundert Jahren nicht ausgelöscht sein | |
werden. Nicht die kleinste Nachlässigkeit, nicht den geringsten Fehler, | |
keinen Augenblick der Unachtsamkeit durfte er sich heute leisten. Er prüfte | |
seine Uniform, die er am Vorabend gewaschen und gebügelt hatte. Am Kragen | |
saß ein Staubkörnchen, kaum sichtbar. Mit einem kleinen Fingerschnips | |
schaffte er diesen Fehler aus der Welt. Vor dem Hinausgehen betrachtete er | |
sich in dem großen Spiegel. Nein, ein schöner Mann war er nicht unbedingt. | |
Er war es nie gewesen, und in den letzten Jahren hatte er stark zugenommen, | |
auch seine Haare hatten sich gelichtet. Sein Doppelkinn hing unübersehbar. | |
Alterserscheinungen! Doch, um ehrlich zu sein, stand ihm diese Uniform gar | |
nicht schlecht, sie überdeckte seine Mängel. Und heute stand sie ihm besser | |
denn je, das konnte man ruhig zugeben. Er lächelte, reckte sich, fühlte | |
sich stolz. Er liebte diese Uniform! | |
Im Wagen schaltete das Radio ein. Kurznachrichten: Große Party im | |
Gezi-Park, drei Tage lang, Alkohol ist erlaubt. Der Abriss der | |
Camlica-Moschee, deren Bau wegen Verstoßes gegen das Naturschutzgesetz | |
gestoppt wurde, beginnt. Kemal Kilicdaroglu, Vorsitzender der ehemaligen | |
Oppositionspartei CHP, erklärte, er werde zur Rente in den Süden, in die | |
kleine Küstenstadt Olympos ziehen. Letzte Etappe in den Beziehungen | |
zwischen der Türkei und der EU: In den nächsten Tagen wird die | |
Vollmitgliedschaft der Türkei bestätigt. Die Türkei gehört seit einiger | |
Zeit zu den Schengen-Staaten, sodass türkische und kurdische Bürger | |
Visafreiheit genießen. Verkehrsunfall auf der Transeuropäischen Autobahn | |
TEM … | |
Mehmet fuhr gerade auf der TEM auf den Stadtrand zu. Die Häuser wurden | |
spärlicher, die Farben blasser. Im Radio lief ein altes kurdisches Lied: | |
Dar Hejiroke. Mehmet verstand diese Sprache nicht … Aber diese Stimme … | |
Diese Aynur! Nur ihretwegen hatte er sich in den Kurdisch-Kurs in seinem | |
Viertel einschreiben lassen, aber Talent ist ja Gottes Geschenk; wenn es | |
fehlt, kannst du nichts machen. Seiner verflixten Zunge blieb ihre Sprache | |
fremd. So lebte und alterte Mehmet fern von Aynur, nah ihrer Stimme. | |
Als er aus der Magie der Musik erwachte, stand er schon vor den grauen | |
Mauern. Er ging durch zwölf Eisentüren, stand dreimal vor | |
Sicherheitskameras, wurde zweimal durchsucht. Tägliche Routine. | |
Punkt acht übernahm er den Dienst. | |
Kein Mensch mag Gefängniswärter. Mehmet hatte sich von Anfang an damit | |
abgefunden, nicht geliebt zu werden. Vom ersten Moment an. Schon, als er | |
ein Kind war. Als er noch ein Baby war. Von dem Tag an, an dem seine Mutter | |
ihn verließ. Er glaubte an die Liebe noch weniger als an Wunder. Ich werde | |
eher in meiner Einsamkeit aufrecht gehen als auf allen Vieren kriechen, um | |
das zu bekommen, was die Leute Liebe nennen, sagte er sich und lebte auch | |
nach diesem Motto. Draußen war er Gefängniswärter und zu Hause der einsame | |
Herrscher seines Einpersonenkönigreichs. | |
Im Gefängnis ist das Leben eine ewige Wiederholung, für die Eingesperrten | |
wie für Wärter. Die Insassen werden immer zur gleichen Zeit auf die gleiche | |
Art und Weise gezählt. In den Hof geht man in der gleichen Ordnung zur | |
gleichen Zeit. Ein Gefangener dreht seine Runden entweder immer von rechts | |
nach links oder von links nach rechts. Ein Wärter läuft entweder immer auf | |
der rechten oder auf der linken Seite des Korridors. Gegessen wird immer | |
zur gleichen Zeit. Die Wäsche ist bei allen identisch und wird immer zur | |
gleichen Zeit gewaschen. Zweimal die Woche gehen die Insassen in den Hamam. | |
Alle waschen sich nackt. Dieses Ewiggleiche, das einen anderen in den | |
Wahnsinn treiben könnte, bedeutet Ruhe für Mehmet. Er findet sich im | |
Unveränderlichen wieder. | |
Doch dieser Tag war für ihn, für die anderen Gefängniswärter und für das | |
gesamte Gefängnisleben außerhalb der Routine. An diesem Tag sollten sie | |
einen besonderen Gast bekommen. | |
In dem Hochsicherheitsgefängnis des Typ „O“ wurden die Sicherheitsmaßnahm… | |
auf die höchste Stufe gesetzt. Jeder Urlaub und jeder Besuch wurde | |
gestrichen. Sportsaal, Bibliothek und die Höfe, alles wurde gesperrt. Ein | |
angespanntes Warten setzte ein. | |
Auch Mehmet wartete. Nur, wie sehr er es auch versuchte, wollte es ihm | |
nicht gelingen, ernst zu bleiben. Es war 14 Uhr vorbei und er musste | |
ständig, fast reflexartig, grinsen. Endlich kam der Augenblick näher, auf | |
den das ganze Land wartete. Der Gefängnisdirektor bestellte ihn in sein | |
Büro. Mehmet war aufgeregt. | |
Im Büro waren zwei weitere Wärter. Sie standen nebeneinander. Um nicht zu | |
lachen, biss er sich auf die Unterlippe. „Ihr habt eine wichtige Aufgabe“, | |
sagte der Direktor. „Heute kommt die besagte Person. Er wird in D 18 | |
eingeliefert. Diese Information werdet ihr niemandem weitergeben. Ihr | |
werdet ihn am Tor D empfangen und in seine Zelle bringen. Auf keinen Fall | |
mit ihm reden! Ihn auf keinen Fall anfassen! Ihm nicht ins Gesicht schauen! | |
Ihr dürft auch nicht untereinander sprechen!“ Mehmet versuchte sein Lächeln | |
zu unterdrücken. Der Direktor fuhr fort: „Über diese Angelegenheit werdet | |
ihr, von der Presse ganz zu schweigen, niemandem, keinem Freund, keinem | |
Verwandten, nicht einmal eurer Frau, euren Kindern gegenüber ein Wort | |
verlieren. Das ist nicht nur besser für ihn, sondern auch für eure eigene | |
Sicherheit.“ | |
Während seiner Rede hatte der Direktor die Wärter angeschaut, einen nach | |
dem anderen. Am Ende seines letzten Satzes blickte er zum Fenster hinaus, | |
zwirbelte seinen Schnurrbart und fügte mit gedämpfter Stimme hinzu: „Man | |
weiß nie, was einen in diesem Land erwartet.“ | |
Um Punkt 14.30 Uhr wartete Mehmet mit den beiden anderen Wärtern vor dem | |
Tor D. Sie standen stramm, wirkten munter und entschlossen. Das Tor wurde | |
geöffnet. Die besagte Person erschien. Er ähnelte nicht im Geringsten jenem | |
Mann, der im Fernsehen schrie und tobte, jeden zurechtwies, Drohungen | |
ausstieß, zügellos und voller Rachsucht. Er war zehnmal älter geworden. | |
Sein Rücken war gekrümmt, sein Blick stumpf. Er hatte abgenommen, sein | |
ganzer Körper schien schlaff zu hängen. Er schlurfte über den Boden, oder | |
vielleicht kam es Mehmet nur so vor. Als er durch die Tür lief, drehte er | |
sich für einen Moment um und schaute zurück; für einen Augenblick empfand | |
Mehmet einen Hauch von Mitleid. | |
Zu viert liefen sie den langen, von Energiesparlampen beleuchteten Gang | |
entlang. Mehmet hatte diese Szene in seiner Vorstellung tausendmal gefilmt; | |
mal schrie der Verurteilte, stieß Drohungen aus, mal sackte er ohnmächtig | |
zu Boden. Mal wollte ihn einer der Wärter prügeln und wieder ein anderes | |
Mal gab es einen Aufstand unter den Insassen … Aber es geschah nichts | |
dergleichen. | |
Mehmet brachte ihn in seine Zelle und schloss ab. Während er sich | |
entfernte, spürte er, wie ihm mit jedem Schritt leichter ums Herz wurde. | |
Das Gefängnis kehrte wieder in seine Routine zurück, als wäre nichts | |
geschehen. Tee wurde aufgebrüht, das Geschirr gespült, die Kantine | |
beaufsichtigt, Bildschirme der Sicherheitskameras wurden geprüft, und so | |
weiter. | |
Wie immer verließ Mehmet um 5 Uhr nachmittags das Gebäude. Er setzte sich | |
vergnügt in seinen Wagen, strich im Rückspiegel seinen Schnurrbart zurecht. | |
So schlecht sah er ja eigentlich gar nicht aus. Er schaltete das Radio ein. | |
Die Abendnachrichten liefen bereits: … wurde heute ins Gefängnis | |
eingeliefert. Staatspräsident Selahattin Demirtas erklärte, endlich sei der | |
Gerechtigkeit Genüge getan worden.“ | |
Mehmet schaltete das Radio aus, legte Aynurs CD ein, holte tief Atem und | |
drückte aufs Gas. | |
10 Aug 2014 | |
## AUTOREN | |
Gaye Boralioğlu | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Türkei | |
Recep Tayyip Erdoğan | |
Schwerpunkt Türkei | |
Schwerpunkt Türkei | |
Recep Tayyip Erdoğan | |
Schwerpunkt Türkei | |
Schwerpunkt Türkei | |
Schwerpunkt Türkei | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kommentar Präsidentschaftswahl Türkei: Die unperfekte One-man-Show | |
Erdogan wurde gleich im ersten Durchgang gewählt. Doch 51,8 Prozent sind | |
ein maues Ergebnis. Der Präsident hat keinen Freibrief für die | |
Alleinherrschaft. | |
Präsidentschaftswahl in der Türkei: Gezi – so weit weg, so gegenwärtig | |
Die Proteste im Gezi-Park bleiben in Erinnerung: für die Opposition als | |
Zeit des Aufbruchs und der Hoffnung, für die Regierung als Moment der | |
Angst. | |
Präsidentschaftswahl in der Türkei: Der Kampf wird härter | |
Die Oppositionsparteien enttäuschen im Kampf um die Macht. Erdogans | |
erwartbarer Sieg wird die Gegensätze in der Türkei verschärfen. | |
Präsidentschaftswahl in der Türkei: Erdogan City | |
Mit staatlichem Wohnungsbau hat Erdogans AKP eine besondere Art der | |
Klientelpflege betrieben. Ein Besuch in Sultanbeyli. | |
Präsidentschaftswahl in der Türkei: Keine faire Chance im Wahlkampf | |
Gleich zwei Kandidaten treten gegen Erdogan an, der auch die Medien | |
kontrolliert. Ihre Chancen, auch nur in die Stichwahl zu kommen, sind | |
gering. | |
Präsidentschaftswahl in der Türkei: Andersdenkende sind Feinde | |
Bei seinem Wahlsieg 2002 galt Erdogan als Saubermann. Heute ignoriert er | |
die Hälfte der Bevölkerung und setzt auf religiös-konservative Sunniten. | |
Präsidentschaftswahl in der Türkei: Der neue Übervater | |
Kein Politiker seit Kemal „Atatürk“ hat die Türkei so stark geprägt wie | |
Erdogan. Als Präsident würde er den Staatsgründer wohl endgültig vom Sockel | |
stoßen. |