# taz.de -- Präsidentschaftswahl in der Türkei: Der neue Übervater | |
> Kein Politiker seit Kemal „Atatürk“ hat die Türkei so stark geprägt wie | |
> Erdogan. Als Präsident würde er den Staatsgründer wohl endgültig vom | |
> Sockel stoßen. | |
Bild: Erdogan auf einer Wahlveranstaltung in Istanbul. | |
Der Präsidentenpalast thront auf dem Cankaya-Hügel über der Hauptstadt | |
Ankara. Wenn der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan irgendwann nach dem | |
10. August dort einziehen wird, dann ist das von großer Symbolik. Denn in | |
dieser Villa residierte als erster Präsident der Türkei schon Mustafa | |
Kemal, der nach dem Ersten Weltkrieg auf den Trümmern des Osmanischen | |
Reichs die heutige Republik begründete und dafür den Ehrentitel „Atatürk“ | |
(„Vater der Türken“) bekam. | |
Seit diesem Übervater, dessen Denkmäler in der Türkei jede größere Stadt | |
zieren, hat kein Politiker das Land so stark verändert wie Erdogan in jenen | |
zehn Jahren, in denen er als Premier mit absoluter Mehrheit regieren | |
konnte. Dass Erdogan zur ersten Direktwahl des Staatspräsidenten, die er | |
selbst eingeführt hat, nun selbst antritt und das Amt wieder so aufwerten | |
will, dass er es an Machtfülle künftig mit Atatürk aufzunehmen kann, macht | |
für manche die Konterrevolution perfekt. Denn in den Augen mancher Kritiker | |
verkörpert Erdogan den Sieg des Landes über die Stadt, der | |
konservativ-religiösen Milieus über die säkularen Eliten, der Finsternis | |
über den Fortschritt, kurz: der Reaktion über Atatürk. | |
Atatürk hatte seinem Land eine radikale Kulturrevolution von oben | |
verordnet. Er verbannte alles allzu Orientalische aus dem öffentlichen | |
Raum, um es zu europäisieren, schaffte Sultanat und Kalifat ab, ließ die | |
Derwisch-Orden und ihre Klöster schließen, brachte den Islam unter | |
staatliche Kontrolle und führte den westlichen Kalender, den Sonntag als | |
Feiertag und das lateinische Alphabet ein. Selbst der Fez, die | |
Kopfbedeckung der osmanischen Bürger, wurde verboten. Mit eiserner Hand | |
ließ Atatürk aus den Überresten des einstigen Vielvölkerimperiums eine | |
homogene Nation schmieden. Religiöse und ethnische Aufstände, etwa der | |
Kurden, wurden brutal niedergeschlagen. Dieses Erbe prägt die Türkei bis | |
heute. | |
Denn seit das Land nach dem Zweiten Weltkrieg zur Demokratie überging, ist | |
seine politische Kultur von der Spannung zwischen der „Kemalismus“ | |
genannten Staatsideologie des Gründervaters und den Bedürfnissen und | |
Wünschen einer konservativ-religiösen und ethnisch diversen Bevölkerung | |
geprägt. Bürokratie und Elite, aber vor allem die Armee sahen sich stets | |
als Bollwerk gegen Gruppen, die dem Islam in der türkischen Gesellschaft | |
wieder eine größere Rolle einräumen wollten, aber auch gegen die | |
Emanzipationsbestrebungen der Kurden, in denen sie wenig mehr als | |
Seperatismus zu erkennen vermochten. Drei Mal schritt die Armee seit 1945 | |
ein, um eine gewählte Regierung zu stürzen, und hinter den Kulissen zog sie | |
noch bis weit in die späten Neunzigerjahre hinein die Strippen. | |
## Immer mehr Wohlstand | |
Erst in den letzten Jahren ist es Erdogan gelungen, die Armee endgültig zu | |
entmachten. Dazu benutzte er unter anderem das „Ergenekon“-Verfahren gegen | |
ranghohe Militärs, denen vorgeworfen wurde, den Sturz der Regierung | |
betrieben zu haben. Der beispiellose Wirtschaftsaufschwung, den die Türkei | |
in seiner Ära genommen hat, stärkte ihm dabei den Rücken. Wer verstehen | |
will, warum Erdogan seit über zehn Jahren eine Wahl nach der anderen | |
gewinnt, muss nur auf die ökonomischen Daten schauen. In seiner Amtszeit | |
hat sich das Pro-Kopf-Einkommen verdreifacht, die Reallöhne stiegen um 50 | |
Prozent. Der Boom zeigt sich auch weit weg von den Metropolen des Westens, | |
in den zuvor abgehängten Provinzen Zentralanatoliens, am Schwarzen Meer | |
oder im kurdischen Osten, wo Shopping Malls und Universitäten aus dem Boden | |
geschossen sind. Dadurch ist eine muslimisch geprägte Mittelschicht und | |
eine Business-Elite entstanden, die den bisherigen Eliten Konkurrenz macht. | |
Die Entwicklung der Türkei unter Erdogan ist paradox: sie ist | |
internationaler und zugleich islamischer geworden, moderner und zugleich | |
traditioneller, pluralistischer und autoritärer. Es gibt Kampagnen gegen | |
häusliche Gewalt und Gay-Pride-Paraden in Istanbul, aber auch eine neues | |
konservatives, muslimisches Biedermeier und eine zunehmend autoritäres | |
Auftreten Erdogans. | |
Erdogan hat an vielen Tabus gerüttelt, die die türkische Politik über | |
Jahrzehnte gelähmt haben. Er hat die Aussöhnung mit den Kurden gesucht und, | |
wie er es seiner religiös-konservativen Kernklientel versprochen hatte, die | |
Kopftuchverbote an Universitäten und für den Staatsdienst aufgehoben. Doch | |
nach den liberalen Reformen in seiner ersten Amtszeit, als er im Zuge der | |
EU-Beitrittsverhandlungen etwa mit der endemischen Folter auf türkischen | |
Polizeirevieren Schuss machte, scheint er sich in den letzten Jahren mit | |
den reaktionärsten Teilen in Justiz und Bürokratie verbündet zu haben, um | |
ein ganz auf seine Person zugeschnittenes Regime zu etablieren. Erdogan | |
setzt sich inzwischen ganz unverhohlen mit seiner Nation gleich und | |
betrachtet jeden, der gegen ihn ist, als Staatsfeind. An Stelle des | |
Personenkults um Atatürk ist deshalb mittlerweile ein Personenkult um | |
Erdogan getreten, der zuweilen groteske Züge annimmt. | |
## Diplomatie und Moral | |
Wie es sich für einen gewieften Populisten gehört, lässt Erdogan sich nicht | |
immer in ein klares Rechts-Links-Schema einordnen. Er hat die | |
jahrzehntelange Allianz mit Israel aufgekündigt, aber auch die Annäherung | |
an Armenien gesucht. Zum letzten Jahrestag des Genozids im April 2014 | |
sprach er als erster Premier seines Landes den Überlebenden sein Beileid | |
aus. Vor den Muslimbrüdern in Ägypten hat er für das türkische Modell einer | |
säkularen Verfassung geworben. Aber zu Hause nervt er seine Bürger mit | |
moralischen Appellen, wie viele Kinder sie bekommen und wie sie zu leben | |
haben, und er hat den Alkoholverkauf eingeschränkt. Einerseits hat er den | |
nationalistischen Fahnenappell abgeschafft, mit der Schüler jahrzehntelang | |
jeden Morgen ihre Treue zur Nation beschwören mussten. Doch er hat auch die | |
türkischen Medien unter seine Kontrolle gebracht und möchte am liebsten | |
auch Youtube, Facebook und Twitter zensieren. | |
Die Gezi-Proteste haben die Bruchlinien aufgezeigt, die deswegen zwischen | |
den Generationen und oft durch die Familien verlaufen. Doch seinen | |
Anhängern gefällt, dass Erdogan für sich und sein Land eine klare Vision zu | |
haben scheint und es als regionalen Großmacht positionieren will. Und | |
vielen seiner Wähler ist ihr wirtschaftliches Wohlergehen wichtiger als | |
bürgerliche Freiheiten, auf die sie ohnehin keinen Wert legen, weil sie | |
weder Alkohol trinken noch kritische Zeitungen lesen oder im Internet | |
surfen. Rund zehn Prozent aller Türken sind Analphabeten, das darf man auch | |
nicht ganz vergessen. | |
Vor allem die Kurden haben von ihm profitiert. Erdogan hat den | |
Kurdenkonflikt, der in den Neunzigerjahren rund 40 000 Menschen das Leben | |
kostete, tausende Dörfer entvölkerte und rund eine Million Menschen aus dem | |
Osten der Türkei in die Metropolen des Westens fliehen ließ, entschärft. Er | |
hat die Sprachverbote gelockert und mit PKK-Chef Öcalan verhandelt. Dass | |
der türkische Staatssender TRT nun eine kurdisches TV-Kanal betreibt, war | |
früher absolut undenkbar, auch wenn der heute nur ein weitgehend | |
unpolitisches Erbauungsprogramm sendet. Ebenso undenkbar war es noch vor | |
zehn Jahren, dass in kurdisch geprägten Städten wie Diyarbakir an | |
öffentlichen Gebäuden zweisprachige Schilder hängen, wie es heute der Fall | |
ist. | |
## Kurdische Revolution | |
Die Kurden könnten jetzt sogar in die Rolle der Königsmacher schlüpfen, | |
wenn Erdogans Partei auch nach Neuwahlen zum Parlament keine nötige | |
Mehrheit für eine neue Verfassung findet. Gegen mehr Autonomie für die | |
kurdischen Regionen und die Herabstufung der Haft von PKK-Chef Abdullah | |
Öcalan in einen simplen Hausarrest könnte die kurdische Partei BDP einer | |
Präsidialverfassung zustimmen, die Erdogan künftig mehr Vollmachten | |
verleihen würde. Dass ausgerechnet konservative Muslime und Kurden, diese | |
beiden lange marginalisierten Gruppen, gemeinsam eine neue Verfassung | |
durchsetzen würden, wäre das eine Revolution. Denn die bisherige Verfassung | |
stammt, mit wenigen Änderungen, noch von den Putsch-Generälen, die sie 1980 | |
schreiben ließen. | |
Auf Beistand der beiden anderen Oppositionsparteien, der | |
linksnationalistischen CHP und der ehemals faschistischen MHP, braucht | |
Erdogan jedenfalls nicht zu hoffen. Dass sich die beiden gemeinsam auf | |
keinen besseren Gegenkandidaten einigen konnten als auf einen konservativen | |
Professor und langjährigen Generalsekretär der Islamischen Konferenz (OIC), | |
der noch religiöser und frommer wirkt als Erdogan selbst, ist ein | |
Offenbarungseid. Dass sie versuchen, Erdogan mit einem | |
religiös-konservativen Kandidaten zu schlagen ist Ausdruck von | |
Hilflosigkeit und zeigt, wie sehr sich die Türkei unter Erdogan verändert | |
hat. | |
Erdogan ist dabei, den Gründervater Atatürk endgültig vom Sockel zu stoßen | |
und der Türkei eine neue Richtung zu geben - weg von Europa, hin zum | |
Erdogan-Staat. Bis 2023, dem hundertsten Geburtstag der Republik, soll der | |
Kurswechsel abgeschlossen sein. Mit seinen gigantischen Bauprojekten will | |
er sich bis dahin ein Denkmal setzen. Dazu zählen eine dritte Autobrücke | |
über den Bosporus, ein neuer Kanal, der parallel zum Bosporus Schwarzes | |
Meer und Marmarameer verbinden soll, der größte Flughafen der Welt in | |
Istanbul und eine Mega-Moschee, die über den Hügeln von Istanbul thronen | |
soll. Hier, heißt es, könnte er sich eines Tages begraben lassen. | |
Seine Grabstätte würde dann auch Atatürks Mausoleum, das gigantische | |
„Anitkabir“ in Ankara, das jeder Staatsgast besuchen muss, übertrumpfen. | |
8 Aug 2014 | |
## AUTOREN | |
Daniel Bax | |
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