# taz.de -- Der sonntaz-Streit: „Mitleid ist kein guter Ratgeber“ | |
> Die private Unterbringung von Flüchtlingen kann die Integration fördern, | |
> sagt Pfarrer Olaf Lewerenz. Andere sehen darin ein Scheitern des Staates. | |
Bild: Notlösung Notunterkunft oder ein privates Zimmer? | |
Laut dem UN-Flüchtlingswerk (UNHCR) sind weltweit mehr als 50 Millionen | |
Menschen auf der Flucht – so viele gab es zuletzt während des Zweiten | |
Weltkrieges. Allein in Syrien sind inzwischen fast die Hälfte aller Syrer | |
wegen des Bürgerkriegs vertrieben worden. | |
Auch in Deutschland steigt die Zahl der Flüchtlinge. Das Bundesamt für | |
Migration und Flüchtlinge erfasste 2013 in Deutschland 109.580 Erstanträge | |
auf Asyl. Das sind 70% mehr als im Jahr zuvor. Die Länder und Kommunen sind | |
derzeit überfordert, die Vielzahl der Flüchtlinge angemessen | |
unterzubringen. | |
Ende August schlug der Bundestagsabgeordnete Martin Patzelt (CDU) vor, die | |
Situation durch „eine temporäre, unentgeltliche und freiwillige Aufnahme | |
von Flüchtlingen im eigenen Wohnraum“ zu entschärfen und damit eine | |
öffentliche Diskussion angestoßen. In einem Beitrag für die taz am | |
wochenende fordert Patzelt eine rasche Anpassung der nötigen | |
Verwaltungsvorschriften für ein solches Vorhaben und legt Wert darauf, dass | |
„Lebensunterhalt und Krankenkosten aus Steuermitteln finanziert bleiben“. | |
Auch Olaf Lewerenz, Pfarrer in der Gemeinde „Am Bügel“ in Frankfurt am | |
Main, steht einer privaten Unterbringung positiv gegenüber. Die | |
Kirchengemeinde bietet Flüchtlingen mit unsicherem Aufenthaltstitel Schutz | |
im Kirchenasyl. Lewerenz koordiniert die Betreuung dieser. | |
Er betont die prägende Erfahrung für beide Seiten: „Flüchtlinge brauchen | |
persönliche Zuwendung, die sie in Flüchtlingsunterkünften kaum bekommen | |
können. Durch eine private Unterbringung kann Unterstützung und Integration | |
einfacher gelingen. Bei uns ist eine Freundschaft entstanden.“ Jedoch | |
benötige dies ein beidseitiges Einverständnis. „Flüchtlinge privat | |
aufzunehmen braucht Ehrlichkeit. Die Sympathie muss auf beiden Seiten | |
stimmen – Mitleid ist kein guter Ratgeber.“ | |
Turgay Ulu, Flüchtlingsaktivist in Berlin, findet eine Bereitschaft zur | |
privaten Unterbringung zwar gut, das eigentliche Problem liege jedoch in | |
der Gesetzgebung: „Wegen der EU-Verordnung Dublin II haben die meisten | |
Flüchtlinge, die in Deutschland ankommen ohnehin hier kein Bleiberecht.“ | |
Dies müsse sich dringend ändern, um die Option einer privaten | |
Unterbringung, auch bereits in Deutschland lebenden Flüchtlingen, zu | |
ermöglichen. | |
## Ungleiche Machtverhältnisse | |
Rita Schillings, Geschäftsführerin beim Flüchtlingsrat Leverkusen, sieht | |
die Unterbringung in Privathaushalten kritischer. Sie schlägt ein | |
weitergehendes Modell vor, das in Leverkusen bereits seit 12 Jahren | |
praktiziert wird: „Hier wird Flüchtlingen erlaubt eine eigene private | |
Wohnung zu beziehen – unabhängig von ihrem Aufenthaltstitel.“ Sie können | |
somit „selbstbestimmt und unter Achtung der Privatsphäre leben.“ | |
Sanchita Basu arbeitet für die Berliner Opferberatungsstelle ReachOut und | |
sieht das Problem vor allem in den ungleichen Machtverhältnissen. | |
„Geflüchtete entscheiden sich nicht freiwillig für diese | |
Wohngemeinschaften, sondern aus der Not heraus. Sie sind also keine | |
normalen WG-PartnerInnen, sie sind unterstützungsbedürftig.“ | |
Die Streitfrage der Woche beantworten außerdem Günter Burkhardt, | |
Geschäftsführer von Pro Asyl, Joachim Wieland, Professor für Öffentliches | |
Recht, Dieter Dombrowski, Landtagsabgeordneter in Brandenburg sowie | |
taz-Leser Matthias Rudolph – in der taz am wochenende vom 6./7. September | |
2014. | |
6 Sep 2014 | |
## AUTOREN | |
Paddy Bauer | |
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