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# taz.de -- Die Wahrheit: Hass am Zug
> Die Bahn kitzelt die Menschlichkeit in uns Fahrgästen heraus. Denn von
> diesem schockgefrosteten Konzern sollten wir nichts erwarten.
Bild: Wahrheit-Autor Mark-Stefan Tietze (zwölfter Passagier von rechts außen)…
In den klimatisierten Regionalexpressen der Bahn wird man extrem gut
heruntergekühlt. Selbst als Stück Tiefkühlkost bewältigt man etwa die mehr
als zweistündige Reise im Doppelstockzug von Nord- nach Südhessen, ohne
matschig zu werden oder ins Untergeschoss zu tropfen.
Immer wieder staunt der Fahrgast jedoch, wie wenig Platz ihm die
Konstrukteure in den Gepäckablagen über den Sitzen gelassen haben. Für eine
Clutch reicht es gerade noch, für einen durchschnittlich gefüllten Rucksack
schon nicht mehr. Reisende mit Koffern, Golftaschen oder Surfbrettern sind
hier offenbar gar nicht erst erwünscht.
Als ich jüngst meinen Rucksack zu Fahrtbeginn auf dem Nebensitz in der
Viererkoje abstellte, tat ich dies selbstverständlich nicht nur wegen des
fehlenden Stauraums über mir. Sondern auch, um den Platz neben meinem
absoluten Premiumplatz –Fenster, Fahrtrichtung, Obergeschoss, ansonsten
leere Koje – möglichst wirkungsvoll zu blockieren.
In den Abteilen ist es ohnehin schon so eng, und bekommt man noch einen
unwillkommenen Sitznachbarn an die Seite gequetscht, womöglich einen
breiten oder sogar einen sehr dicken, können zwei Stunden sehr lang werden.
Eventuell so lang, dass man sich Frostbeulen oder Gefrierbrand zuzieht.
In Gießen stiegen jedoch derartig viele Studenten, Pendler und Schulklassen
zu, dass ich mich schon sehr hinter meiner Zeitung verschanzen musste, um
meine exquisite Position mit wenigstens ein bisschen Aussicht auf Erfolg
beibehalten zu können. Wie durch ein Wunder gelang der Streich jedoch. Als
sich der Rummel gelegt hatte und niemand mehr durch die Gänge drängelte,
befand sich der Platz, auf dem mein Rucksack thronte, immer noch in meiner
Gewalt. Die meisten jungen Zugestiegenen hatten sich im Tiefgeschoss
zusammenpferchen lassen, ein Dutzend Wagemutige fläzte sich auf den
Treppen.
## Artübliches Defensivverhalten
Allerdings spürte ich, nachdem ich die Zeitung erleichtert sinken gelassen
hatte, wie sich ein stechender Blick in meine Seite bohrte. Es ist
normalerweise Teil des artüblichen Defensivverhaltens in überfüllten
Bahnabteilen, Blicke möglichst lange zu ignorieren, um den Feind zu
entmutigen und ihn nach leichteren Opfern Ausschau halten zu lassen.
Jedenfalls denjenigen Feind, der sich durch ostentatives Wegschauen bereits
von der scheuen Frage abhalten lässt, ob der Platz dort gegebenenfalls noch
frei sei.
Dieses Augenpaar kam aber nicht von weiter oben, sondern von der Seite. Als
ich meiner Neugier nachgab und den Kopf zur Dreierkoje auf der anderen
Zugseite wandte, schaute ich in die wuterfüllten Augen einer nicht mehr
ganz jungen, hageren Frau in einer wallenden Gewandung aus dunkelroten und
senfgelben Farben, wie sie mir für lehrende oder heilende Berufe typisch zu
sein scheint.
„Entschuldigen Sie!“, gellte sie mir in die sich darob wie von selbst
rötenden Ohren. „Sie würden den Platz neben Ihnen doch freimachen, wenn
jemand kommt und ihn braucht, nicht wahr?!“– „S-selbstverständlich“, s…
es aus mir, während die Frau in wildem Triumph zur Treppe hin eine
einladende Geste machte, als stünde jemand bereit, den Platz einzunehmen.
## Gesellschaft geht vor die Hunde
Es war aber nur ein Bluff, keiner kam, so dass sich die schmallippige Frau
zurücksinken ließ und mit ihren Nachbarn sofort ein erregtes Gespräch
begann, von dem ich lediglich Fetzen verstand. Es schien um die
„Rücksichtslosigkeit und Gemeinheit gewisser Leute“ zu gehen, „die
Schüchternheit anderer auszunutzen“, und dass unsere Gesellschaft wegen
solchen Verhaltens langsam „vor die Hunde“, ja „den Bach hinunter“ gehe.
Mir gefror das Blut in den Adern. So unsympathisch die Frau war, sie hatte
recht! Mit den klimatischen Bedingungen in jenem Regionalexpress allein
ließ sich die soziale Kälte jedenfalls nicht rechtfertigen, die ich um mich
herum verbreitet hatte. Ich musste dringend wieder lernen, freiwillig auf
einmal eroberte Vorteile zu verzichten, wie ich beschloss, als ich mit
ersten Erkältungssymptomen endlich am Zielbahnhof ankam.
Ich musste dies, so dachte ich weiter, fortan auch deshalb tun, damit wir
alle näher zusammenrücken können in diesen ungemütlichen Zeiten, uns
vielleicht sogar eng zusammenkuscheln, weil wir schließlich, wenn schon
nicht in einem Boot, dann aber in einem Zugabteil sitzen, und zwar oben in
einem Regionalexpress der Bahn. Die, so lautet meine Ad-hoc-Hypothese dazu,
ihre Klimaanlagen im Sommer deshalb auf Permafrost stellt, damit die Leute
nicht ihre Jacken und Mäntel ablegen, weil: wohin denn auch?
Und natürlich auch, damit sich die Leute nicht gegenseitig kaltmachen,
weil: das erledigt die Bahn ja schon für sie.
19 Sep 2014
## AUTOREN
Mark-Stefan Tietze
## TAGS
Deutsche Bahn
Soziale Gerechtigkeit
Menschlichkeit
Kälte
Joachim Gauck
Schwerpunkt AfD
Der Spiegel
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