| # taz.de -- Nationalsozialistischer Untergrund: Das Rätsel um die NSU-CDs | |
| > Rechtsterror des NSU? Vor 2011 nie gehört. Diese oft wiederholte | |
| > Behauptung des Verfassungsschutzes gerät immer stärker ins Wanken. | |
| Bild: Nie im Auge gehabt oder doch im Hinterkopf vergraben? Der Verfassungsschu… | |
| Thomas R. starb einen einsamen Tod. Der Vermieter fand ihn am 7. April | |
| leblos in seiner Wohnung im Landkreis Paderborn. Der langjährige Topspitzel | |
| des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Deckname „Corelli“, war dort von den | |
| Sicherheitsbehörden nach seiner Enttarnung 2012 versteckt worden. | |
| Nicht nur sein Exitus mit 39 Jahren kam unerwartet. Auch der Ort, an dem er | |
| starb, sorgte für Erstaunen: Das Versteck lag nur eine halbe Autostunde | |
| entfernt von Detmold-Pivitsheide, wo Thomas R. Anfang der neunziger Jahre | |
| zu Beginn seiner rechtsextremen Karriere eine Weile in der Parteizentrale | |
| der „Nationalistischen Front“ gewohnt hatte. | |
| Der Tod des Neonazis ist längst keine Nebensache mehr im NSU-Skandal. Seit | |
| Monaten kommen immer neue Ungereimtheiten und Behördenpannen im Fall | |
| „Corelli“ ans Licht. Fast sein halbes Leben spitzelte Thomas R. für den | |
| Verfassungsschutz. Bei ihm liefen viele Fäden zusammen, auch aus dem | |
| NSU-Netzwerk. | |
| Nun bringt die frühere Topquelle auch den Chef des Bundesamtes für | |
| Verfassungsschutz (BfV) in Erklärungsnot. Denn Hans-Georg Maaßen hat die | |
| Öffentlichkeit über Monate falsch informiert. Der Behördenleiter | |
| versicherte, sein Amt habe keine Propaganda-CD mit Hinweisen auf einen | |
| gewissen „NSU“ bekommen. Von einer solchen CD habe er erst im März 2013 | |
| erfahren – nachdem ein Informant ein Exemplar beim Hamburger | |
| Verfassungsschutz abgeliefert hatte mit der Behauptung, es stamme von | |
| „Corelli“. | |
| ## Weitere Blamage für den Inlandsgeheimdienst | |
| Doch seit letzter Woche ist klar: Auch das BfV besaß eine CD, die neben | |
| Propagandabildern eine Datei mit dem Kürzel „NSU/NSDAP“ enthielt – und z… | |
| schon seit neun Jahren. „Corelli“ höchstpersönlich hatte sie im August 20… | |
| seinem V-Mann-Führer übergeben und behauptet, das gute Stück habe ihn ohne | |
| Absender erreicht. Die CD landete zwischen rund 3.000 anderen Datenträgern | |
| mit rechtsextremem Material im streng abgeschirmten | |
| Verfassungsschutzarchiv. Und dann wurde sie angeblich vergessen. Glaubt man | |
| den Ermittlungsbehörden, dann sind die Asservate von „Corelli“ bis heute | |
| nur ansatzweise ausgewertet – obwohl der Mann aus Sachsen-Anhalt besonders | |
| nah am NSU dran war. | |
| Pikant: Die Sache flog erst auf, als eine dreiköpfige Ermittlungsgruppe des | |
| Bundeskriminalamts im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens zur Hamburger | |
| „NSU“-CD auf eigene Faust in der Kölner Verfassungsschutzfestung | |
| recherchierte und am 29. September die CD entdeckte. Eine beispiellose | |
| Blamage für den Inlandsgeheimdienst, der seit dem Auffliegen des NSU | |
| ohnehin viel Glaubwürdigkeit verlor. | |
| Die Opposition schlägt nun Alarm. „Ich halte inzwischen fast nichts mehr | |
| von dem, was der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz zum | |
| Corelli-Komplex sagt, für glaubwürdig“, sagt Martina Renner, die für die | |
| Linkspartei im Innenausschuss sitzt und Obfrau im Thüringer | |
| NSU-Untersuchungsausschuss war. Das BfV versuche systematisch, die | |
| Bedeutung von „Corelli“ und anderen V-Leuten im NSU-Komplex | |
| herunterzuspielen. | |
| Entweder sei die Kölner Behörde „völlig desorganisiert“ oder die | |
| Öffentlichkeit, das Parlament und die Opfer des NSU würden getäuscht. Die | |
| innenpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, Irene Mihalic, bemängelt, | |
| die bisherigen Ermittlungen zum NSU-Terror seien auf „zu schmaler Spur | |
| verlaufen, sie würden der rechtsterroristischen Gefahr nicht gerecht. „Das | |
| kann nicht die rückhaltlose Aufklärung sein, die Bundeskanzlerin Merkel zu | |
| Recht versprochen hat“, kritisiert die Polizistin. | |
| ## Ein tödlicher Zuckerschock | |
| Der Verfassungsschutz rechtfertigt sich: „Aus dem Kürzel allein ließ sich | |
| damals nicht auf die Existenz eines rechtsextremistischen Terrortrios | |
| schließen.“ Ermittler bezweifeln zudem, dass sich der Inhalt dieser und | |
| anderer unlängst aufgetauchter „NSU“-CDs überhaupt konkret auf die | |
| Terrorzelle bezieht. Bewiesen ist auch das nicht. Thomas R. wäre ein | |
| wichtiger Zeuge in der brisanten Angelegenheit gewesen. | |
| Doch er starb, bevor die Ermittler ihn erneut befragen konnten. Die | |
| rechtsmedizinische Diagnose: tödlicher Zuckerschock infolge einer | |
| unerkannten Diabetes. Die Staatsanwaltschaft Paderborn fand nicht den | |
| geringsten Hinweis auf Fremdeinwirken. Auch ein toxikologisches Gutachten | |
| habe kein Indiz für eine Vergiftung ergeben. | |
| Gleich zweimal wurde Verfassungsschutzchef Maaßen diese Woche in die | |
| zuständigen Bundestagsgremien zitiert. Sein Amt führt zur | |
| Selbstverteidigung an, das Kürzel „NSU/NSDAP“ habe nicht auf dem Cover der | |
| „Corelli“-CD gestanden, deshalb sei der NSU-Hinweis in einem Wust von Daten | |
| kaum auffindbar gewesen. Allein 2005 soll der Spitzel 37 CDs übermittelt | |
| haben, im Jahr darauf sogar 55. Der Verfassungsschutz sichtete angeblich | |
| nur den Bestand ab 2006 – jenem Jahr, aus dem die Hamburger NSU/NSDAP-CD | |
| stammen soll. Erst das BKA kam wohl auf die Idee, auch in älteren | |
| Asservaten zu suchen. | |
| Viele Fragen sind offen: Warum musste erst das BKA beim Verfassungsschutz | |
| stöbern, damit ein neuer „NSU“-Hinweis ans Licht kam? Welche Hinweise auf | |
| die Rechtsterroristen schlummern noch zwischen 3.000 Datenträgern im Archiv | |
| des Verfassungsschutzes? Und: Wusste Thomas R. mehr über die mordende | |
| Zelle? | |
| ## Kontroversen um Spitzel „Corelli“ | |
| Bereits 1995, drei Jahre bevor das Trio abtauchte, berichtete R. dem BfV | |
| über einen Kontakt mit Uwe Mundlos. Auch auf einer Adressliste von Mundlos, | |
| die 1998 gefunden wurde, standen die Kontaktdaten von Thomas R. Sogar im | |
| rassistischen Ku-Klux-Klan mischte „Corelli“ mit – genau wie zwei Kollegen | |
| der mutmaßlich vom NSU ermordeten Polizistin Michèle Kiesewetter. | |
| Der Topspitzel war es, der dem BfV 2002 eine Ausgabe des Neonazi-Magazins | |
| Der Weisse Wolf übergab. Das Heft enthielt fett gedruckt einen brisanten | |
| Gruß: „Vielen Dank an den NSU, es hat Früchte getragen ;-) Der Kampf geht | |
| weiter …“ Der Verfassungsschutz fragte „Corelli“ angeblich nie, welche | |
| spendablen Unbekannten sich hinter dem Kürzel verbargen. Bei Vernehmungen | |
| durch das BKA log R. die Ermittler später an und bestritt jeglichen Kontakt | |
| zu dem Trio. | |
| Beim BfV galt „Corelli“ jedoch als zuverlässige Quelle, zweithöchste | |
| Kategorie „B“, jahrelang gut bezahlt. Einer seiner Betreuer versicherte | |
| gar, Thomas R. sei überhaupt kein Neonazi gewesen. Dabei bezeichnete das | |
| BKA Thomas R. um die Jahrtausendwende als einen der führenden Neonazis in | |
| Sachsen-Anhalt. | |
| Dem Verfassungsschutz war der Schutz der Topquelle stets wichtiger als die | |
| Aufklärung der NSU-Mordserie. Selbst BKA-Ermittlern verheimlichte das Amt | |
| zunächst dessen Spitzelkarriere. Inzwischen scheint Behördenchef Maaßen | |
| zwar zu dämmern, dass sein Haus „Corelli“ gegenüber zu arglos war. Im | |
| Innenausschuss soll er den toten Neonazi als problematische Figur | |
| bezeichnet haben. Für ein öffentliches Wort des Bedauerns reichte es aber | |
| nicht. | |
| ## Ein Sonderermittler soll den Fall „Corelli“ untersuchen | |
| Keine Sicherheitsbehörde konnte bisher erklären, in welchem Bezug die nach | |
| und nach auftauchenden „NSU“-CDs zueinander stehen. Mitte April entdeckten | |
| Drogenfahnder bei einer Razzia in Mecklenburg-Vorpommern ein weiteres | |
| Exemplar. Es lag in der WG eines 33-jährigen Mannes in Krakow am See. In | |
| diesem kleinen Luftkurort bei Rostock machten Beate Zschäpe und Uwe Mundlos | |
| Anfang der Neunziger einen Campingurlaub. Noch so ein Zufall. | |
| Auch die letzten Tage von Thomas R. bleiben schemenhaft. Obwohl der Neonazi | |
| als V-Mann längst abgeschaltet und im Zeugenschutzprogramm war, fanden | |
| Ermittler mehrere Handys in seiner Wohnung. Kurz vor seinem Tod soll der | |
| Mann, der in seiner Jugend „HJ Tommy“ genannt wurde, mit einem „Tommy“ | |
| kommuniziert haben. Die Behörden fanden bisher angeblich nicht mal heraus, | |
| wer dieser Kontaktmann war. | |
| Der Bundestag will den Fall „Corelli“ nicht zu den Akten legen und hat | |
| deshalb in dieser Woche den früheren Grünen-Abgeordneten Jerzy Montag als | |
| Sonderermittler benannt. Auf den Juristen wartet eine Menge Arbeit. | |
| 12 Oct 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Astrid Geisler | |
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