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# taz.de -- Essay Islamischer Staat: Den Blick von Kobani lösen
> Der IS ist nicht alles. In der arabischen Welt erleben wir eine
> beispiellose Säkularisierung. Alte Strukturen kehren ebenfalls zurück.
Bild: Krieg in der Luft: Ein US-Kampfjet über der türkisch-syrischen Grenze
Im Westen herrscht IS-Hysterie. Wer nicht blind alle möglichen
militärischen Gegenmaßnahmen absegnet, dem wird unterschwellig vorgeworfen,
dem Völkermord an Kurden, Christen oder Jesiden einfach zuzusehen. Denn die
Medien finden, dass in Kobani die Entscheidungsschlacht stattfindet.
Entsprechend wird die Türkei in Talkshows fast routinemäßig in einen Krieg
nach Syrien geschickt. Einen Krieg, dem sich bisher alle anderen
internationalen Streitkräfte verweigert haben. Und die Kurden werden zu
neuen Helden aufgebaut.
Gleichzeitig klopfen wir uns auf die Schulter, der bessere Teil der
Menschheit zu sein. Das ist zu billig. Denn um einen Gegner bekämpfen zu
können, muss man ihn zuallererst verstehen. Und um den Islamischen Staat
(IS) zu verstehen, muss man in einem Geschichtsbuch blättern, nicht im
Koran, und die Nachrichten der letzten Jahre aus Syrien und dem Irak Revue
passieren lassen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Den IS zu verstehen
bedeutet nicht, ihm Verständnis entgegenzubringen. Es ist nur die
Voraussetzung dafür, eine zielgerichtete Gegenstrategie gegen den Terror zu
entwickeln. Von dieser fehlt bislang jede Spur.
Militärisch mag der IS punktuell durch „Luftschläge“ aufzuhalten sein. Do…
er wird sich dem jeweiligen militärischen Druck anpassen und kann sich
jederzeit auf eine Guerillastrategie verlegen und Anschläge durchführen.
Das wird geflissentlich ignoriert, denn erneut hängt man im Westen der
Fantasie nach, mit militärischer Kraft, vermeintlich präzisen Luftangriffen
und Drohneneinsätzen die geopolitische Landkarte verändern, ja befrieden zu
können. Das hat schon im letzten Irakkrieg offensichtlich nicht
funktioniert. Vielmehr ist der IS ja ein Ergebnis dieses Versuchs,
militärisch Kräfteverhältnisse von außen und gemäß den eigenen Interessen
zu verändern.
Einer rein militärischen Strategie sind also Grenzen gesetzt. Bleibt der
Versuch, dem IS politisch die Basis zu entziehen. Er ist ein Produkt zweier
Entwicklungen. Zunächst eines brutalen Krieges in Syrien, dem die
internationale Gemeinschaft seit vier Jahren weitgehend uninteressiert
zusieht und der manchen Syrer so weit gebracht hat, in verschiedenen
IS-Milizen einen Heilsbringer zu sehen. Dazu kommt die Lage im Irak, in der
die alte sunnitische Elite des Landes vom politischen System ausgeschlossen
wird. Was folgt daraus?
## Blick auf den Konflikt in seiner Gesamtheit
In Syrien muss eine ernsthafte politische Alternative zu Assad aufgebaut
werden, um den Krieg endlich zu beenden. Im Irak müssen die Sunniten wieder
mit an Bord genommen werden, die in den letzten Jahren jegliches Vertrauen
in das politische Nachkriegssystem seit der US-Invasion verloren haben.
Beides ist schwierig und braucht vor allem eines: viel Zeit.
Aber mithilfe von schnellen Lösungen lässt sich dem IS das Wasser nicht
abgraben. Bildlich gesprochen bedeutet das: Wir sollten dringend unser
Teleobjektiv in Richtung Kobani abschrauben und stattdessen zum
Weitwinkelobjektiv greifen, um endlich die Region als Ganzes in den Blick
nehmen zu können.
Drei Dinge haben den IS groß werden lassen. Er entstand erstens, weil die
despotischen arabischen Regime vor allem ihrer Jugend keinerlei
Perspektiven bieten, aktiv ihre Gesellschaft mitzugestalten. Außer für
Syrien und den Irak gilt das insbesondere für das Auslaufmodell der
Ölmonarchien. Viele arabische Regierungen haben den Extremismus, den sie
nun zu bekämpfen vorgeben, durch ihre repressive Politik gefördert.
Nun setzen die Golfdespoten medienwirksam ihre Luftwaffe gegen die
IS-Stellungen ein, die Vereinigten Arabischen Emirate gar mit einer Pilotin
als PR-Gag. Und der ägyptische Präsident Sisi vermarktet Ägypten dreist als
Bollwerk gegen den IS.
Das alles darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Repression durch
arabische (Militär)regime und die islamistische Militanz sich gegenseitig
bedingen und hochschaukeln. Die arabischen Despoten sind der wichtigste
Wegbereiter des IS.
Zweitens sind die Erfolge der Dschihadisten auch ein Ergebnis westlicher
Politik und jahrzehntelanger kolonialer und postkolonialer Demütigung der
Region, in der das Selbstbewusstsein der Menschen auf dem Nullpunkt
angelangt ist. Das ist die Basis, auf der religiöse Rattenfänger
erfolgreich eine Utopie vermarkten können, die die Zeit um Jahrhunderte
zurückdrehen möchte.
Jahrelang hat der Westen die arabischen Diktatoren im Namen der Stabilität
hofiert und sieht sie trotz des von ihnen ausgehenden Terrors weiterhin als
Partner in der Terrorbekämpfung. Dabei sind genau diese Regime nicht Teil
der Lösung, sondern Teil des (Terror)problems.
Das bringt uns zum dritten Faktor des Erfolgs des IS. Er wurzelt auch im
herrschenden gegenwarts- und zukunftsvergessenen religiösen Diskurs, der
einst entstand, um marode Öldespotien am Golf und allen voran Saudi-Arabien
mit ideologischem Überbau zu versorgen.
Alle drei Faktoren befruchten sich natürlich gegenseitig. Die Einflussnahme
des Westens war ja nur so groß, weil er sich seit Jahrzehnten auf Despoten
stützt, die seine Interessen lokal vertreten und als Garanten der
Stabilität auftreten. Saudi-Arabien, eines der autokratischsten Länder der
Region und das wohl frauenfeindlichste der Welt, ist bis heute einer der
wichtigsten Verbündeten der USA und Europas in der Region. Umgekehrt sind
die arabischen Herrscher so erfolgreich, weil das Denken der Menschen
ohnehin von religiösen Vorstellungen dominiert ist, also die von diesen
ausgehende Ideologie lange Zeit nicht herausforderte. Der westliche
Stabilitätswunsch, die arabischen Repressionsapparate und die Beschäftigung
der Menschen mit erzkonservativen religiösen Formeln und Verhaltensregeln
hatten ein gemeinsames Ziel: den Status quo zu wahren. Das wird mit Blick
auf den gegenwärtigen Zustand der Region oft unterschätzt.
## Rückkehr alter Konzepte
In vielerlei Hinsicht ist also das, was wir derzeit in der arabischen Welt
erleben, ein Aufbäumen des Alten. Wir haben den IS mit seiner
anachronistischen Weltsicht, die den Arabern verspricht, alles werde gut,
wenn nur ein Kalifat entstünde, das die Epoche des Propheten Mohammed
kopierte, die vor 1.400 Jahren zu Ende gegangen ist. Gleichzeitig erleben
wir die Neuauflage autokratischer Regime wie in Ägypten.
Dort sucht man in diesen ungewissen Zeiten die Rettung im alten, bereits
gescheiterten Konzept der Allmacht der Militärs – wie zur Ära Gamal Abdel
Nassers vor einem halben Jahrhundert. Und dann sind da noch die
Golfmonarchien, die versuchen, ihre hoffnungslos überalterten
autokratischen Strukturen zu retten, und über ausreichend Petrodollars
verfügen, dieses rückschrittliche Projekt zu finanzieren. Alt ist, nebenbei
bemerkt, auch der internationale Ansatz, der immer noch meint, in üblicher
Manier die Dinge allein mit militärischen Einsätzen lösen zu können.
Am Ende werden sich all diese alten Strategien als Sackgasse erweisen.
Keine von ihnen kann den Menschen eine wirkliche Perspektive bieten, weder
die repressiven Staaten noch die militanten Islamisten. Während sich das
Alte allerorten aufbäumt und mit aller Härte zuschlägt, ist eine Situation
entstanden, aus der etwas Neues geradezu entstehen muss. Wie das genau
aussieht, wie blutig, wie repressiv es wird und wie lang es dauert, bis es
sich durchsetzt, kann derzeit niemand sagen. Aber es wird kommen. Am Ende
der Geschichte des arabischen Wandels wird kein Feldmarschall Sisi und kein
Kalif al-Baghdadi stehen.
Schon jetzt zeichnet sich aber ab, dass der Einfluss Europas und der USA
auf die Region abnimmt und der der Regionalmächte zunehmen wird; dass das
Militär in der arabischen Welt als politische Ordnungsmacht nicht mehr
funktioniert; dass auch der Ölreichtum die Golfdespoten nicht vor dem
Anbrechen neuer Zeiten retten wird; dass im Kampf gegen den IS schon jetzt
neue Bündnisse eingegangen werden, sei es mit der kurdischen PKK – die nun
als Bollwerk gegen den IS gefeiert wird, die aber immer noch auf der
europäischen Terrorliste steht – oder mit dem Iran. Der wird sich allem
Anschein nach rasant vom internationalen Paria zum Bündnispartner gegen die
Dschihadisten wandeln. Alles befindet sich im Fluss.
Und zu guter Letzt macht der Wandel auch nicht vor dem religiösen Denken
halt. In einer WIN/Gallup-Umfrage beschrieb sich 2012 fast jeder fünfte in
Saudi-Arabien Befragte als „nicht religiös“. 5 Prozent bezeichneten sich
gar als Atheisten. Anfang des Jahres wurden in Saudi Arabien neue
weitreichende Antiterrorgesetze erlassen. Laut denen macht sich nicht nur
strafbar, wer fortan in den Dschihad nach Syrien oder dem Irak zieht. Auch
wer „die Fundamente der islamischen Religion infrage stellt, auf denen das
Land basiert“, kann zukünftig als Terrorist bestraft werden.
Die einen ziehen in den Dschihad, um die Zeiten des Propheten
wiederaufleben zu lassen, die anderen stellen die Autorität der Religion
infrage. Das sind zwei Seiten derselben Medaille. Es lohnt sich, sie auch
mal umzudrehen.
1 Nov 2014
## AUTOREN
Karim El-Gawhary
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