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# taz.de -- Prozess um Totschlag in Flüchtlingsschule: Mit dem Messer in der D…
> Im April 2014 wird in der Berliner Gerhart-Hauptmann-Schule Anwar R.
> erstochen. Ein Mitbewohner aus Gambia steht nun vor Gericht.
Bild: Blumen für Anwar R., der noch am Tatort, dem Duschraum in der Gerhart-Ha…
BERLIN taz | Der erste Notruf geht um 12.21 Uhr bei der Polizei ein. Eine
Minute später der zweite. Von einer wilden Verfolgungsjagd durch Kreuzberg
berichten die Anrufer. Ein Schwarzer, der ein Messer bei sich habe, werde
von einer Horde mit Macheten und Totschlägern bewaffneter Männer verfolgt.
Von Rassisten, die sich gegenseitig angreifen, ist die Rede. [1][Er
verstehe kein Wort, entgegnet der Beamte am Telefon: „Noch mal bitte“. Es
dauert, bis der Polizist begreift und eine Hundertschaft ausrückt].
Seit Mitte Oktober muss sich der 41-jährige Gambier Nfamara J. wegen
Totschlags vor einer großen Strafkammer des Berliner Landgerichts
verantworten. In der von Flüchtlingen besetzten ehemaligen
Gerhart-Hauptmann-Schule in Kreuzberg soll der Angeklagte am 25. April 2014
einen Mitbewohner getötet haben.
Neunmal hat der Gambier laut Staatsanwalt im einzigen Duschraum des
Gebäudes mit einem Messer auf Anwar R. eingestochen. Der 29-jährige
Marokkaner konnte nicht gerettet werden, weil die Hauptschlagader getroffen
war. Er starb noch in der Schule. Die Gewalttat befeuerte im Frühjahr die
schon länger schwelende Debatte über eine Räumung der Schule.
## Tränen im Gesicht
Die abgewetzte Jogginghose, in der er in den Gerichtssaal geführt wird, ist
dem schmächtigen Angeklagten viel zu weit. Die Arme um den Körper
geschlungen, das Gesicht im Rollkragen seines Pullovers vergraben, sitzt
Nfamara J. neben seinem Dolmetscher, der leise in Mandinka, Nfamara J.s
Herkunftssprache, übersetzt. Manchmal wischt er sich mit dem Handrücken die
Tränen aus den Augen.
Die leerstehende Schule in Berlin-Kreuzberg war im Dezember 2012 besetzt
worden. Zunächst nur von Flüchtlingen aus dem mittlerweile geräumten
Zeltdorf auf dem Oranienplatz, die das Schulgebäude zusammen mit Autonomen
in Beschlag nehmen. Eigentlich will das zuständige grün regierte Bezirksamt
Friedrichshain-Kreuzberg die Flüchtlinge nur einen Winter dort dulden. Aber
die Bezirkspolitiker verlieren die Kontrolle, in ganz Europa wird die
Gerhart-Hauptmann-Schule unter Flüchtlingen als Anlaufstelle gehandelt. Man
kann dort kostenlos schlafen, ohne Papiere, ohne Aufsicht, ohne alles.
Nicht nur Flüchtlinge aus Afrika, auch Roma-Familien und Obdachlose kommen
dort unter.
Der Verteidiger von Nfamara J. verliest für seinen Mandanten eine
Erklärung. Darin gibt dieser die Tat zu. Bis heute behaupten verschiedene
Medien, Täter und Opfer hätten sich darüber gestritten, wer als nächstes
von ihnen duschen dürfe. Der Angeklagte erklärt dazu, der Marokkaner habe
gar nicht duschen wollen. Er habe aber ihm, Nfamara J., den Zugang zur
Dusche versperrt. Zuvor habe Anwar R. schon Streit mit einem anderen
Schwarzafrikaner gehabt, der sich zu diesem Zeitpunkt in der Dusche befand.
## Viele sind traumatisiert
Für mehr als 250 Hausbewohner gibt es nur eine einzige funktionierende
Dusche.
Die Infrastruktur der ehemaligen Schule ist für die Menge der Flüchtlinge
unzureichend. Das Bezirksamt weigert sich, die Sanitäranlagen aufzurüsten,
weil das als Legalisierung der Besetzung gewertet werden könnte. Aber die
Duschen sind nicht das Hauptproblem, sondern die Armut und die
Perspektivlosigkeit der sich selbst überlassenen Bewohner – meist Männer.
Viele sind traumatisiert oder haben anderweitige psychische Probleme.
Kriminalität und Konflikte untereinander sind an der Tagesordnung,
verstärkt durch Alkohol- und Drogenkonsum.
Der Streit vor der Dusche gipfelte nach Angaben des Angeklagten in
Beleidigungen. „Du bist ein schwarzes Schwein“, habe Anwar R. zu ihm,
Nfamara J., gesagt. „Deine Mutter ist eine Ziege.“ Der Marokkaner sei
extrem aggressiv gewesen, habe ihn geschubst und mit einem Gegenstand,
vermutlich einer Flasche, bedroht. „Da habe ich die Kontrolle verloren“,
heißt es in der von Verteidiger Burkhart Person verlesenen Erklärung.
## Zum Auszug bewegt
Ende Juni gelingt es dem Bezirksamt, 200 Flüchtlinge zum Auszug aus der
Schule zu bewegen. Sie tun dies im Vertrauen auf eine wohlwollende Prüfung
ihrer Asylanträge. Die Hoffnung wird bitter enttäuscht. Viele leben nun
illegal in der Stadt. Die finale Räumung der restlichen 40 Bewohner steht
unmittelbar bevor. Diese hatten im Sommer aus Protest das Dach der Schule
besetzt und vom Bezirk die Zusage bekommen, in dem Haus bleiben zu dürfen,
auch wenn dort das geplante Flüchtlingszentrum eingerichtet wird.
Die Szenen wiederholen sich: Solidaritätsgruppen mobilisieren am Dienstag
zu Protesten, die Polizei hat das Gebäude abgesperrt, die Bewohner sind
wieder auf dem Dach.
Im Prozess indes lässt sich kein einziger Flüchtlingsunterstützer blicken.
Auch im Knast sei J. isoliert, berichtet der Verteidiger. Ab und an
telefoniere er mit seiner Frau und den beiden Kindern in Gambia.
## Zimmernummer "Saal"
Nfamara J. hat nie lesen und schreiben gelernt. Der Landarbeiter ist 2006
mit einem Visum für den Schengenraum in Spanien eingereist. Dort arbeitete
er als Erntehelfer, bevor er mit anderen Flüchtlingen Anfang 2014 nach
Berlin kommt. In seinem provisorischen Hausausweis ist als Zimmernummer
„Saal“ notiert. Das ist die Aula der Schule, das Massenquartier, in dem die
Neuankömmlinge und Einzelgänger schliefen.
Den Vorfall im Duschraum haben drei Augenzeugen beobachtet: eine
Jamaikanerin und zwei Marokkaner. Hafid A. ist einer davon. Der 34-jährige
Ingenieurwissenschaftler schlief ebenso wie Nfamara J. in der Aula. „Wie
soll ich ihn beschreiben? Das war kein böser Mensch. Immer sauber. Er
provozierte nie“, sagt er vor Gericht. Einmal habe ihn der Gambier um Hilfe
gebeten, weil ein Obdachloser seinen Schlafplatz belegt hatte.
Die Polizei braucht mehrere Wochen, um die wahre Identität des Toten zu
ermitteln. Anwar R. hatte falsche Papiere. Auch er war über Spanien nach
Europa gekommen. Im Jahr 2007 bekam er durch die Heirat mit einer Spanierin
eine Aufenthaltserlaubnis. Nach der Scheidung wurde diese hinfällig. In der
Gerhart-Hauptmann-Schule lebte er ein knappes halbes Jahr.
## "Ein Bezug zur Gewalt"
„Man kannte sich“, sagt Hafid A. über sein Verhältnis zu Anwar R. Seine
Aussage wird von einem Dolmetscher vom Französischen ins Deutsche
übersetzt. Der Tote sei in illegale Aktivitäten verstrickt gewesen. Einmal
habe er gesehen, wie Anwar R. eine Tasche mit Aluminium präpariert habe,
damit die Alarmanlage in Läden nicht anschlägt. Anwar R. hätte „einen Bezug
zur Gewalt“ gehabt. Auch er selbst habe Anwars Fäuste einmal zu spüren
bekommen, sagt Hafid A.
Zwei Tatversionen stehen im Raum. Da ist die Aussage von Mohammed Z., der
die Nacht vor der Tat mit Anwar R. durchgemacht hatte. „Anwar war für mich
wie ein Bruder“, sagt der 28-jährige Frisör. Viel Bier habe man getrunken,
Anwar R. habe auch andere Drogen genommen. „Alle in dieser Herberge
konsumierten Rauschgift“, sagt Mohammed Z. Einiges spricht dafür, dass auch
der Zeuge unter Drogen stand. Wie bei der Polizei bleibt er auch vor
Gericht dabei, dass Anwar mitten in der Nacht getötet wurde. In
Wirklichkeit war es 12 Uhr mittags.
Laut Obduktionsbefund hatte Anwar R. 0,73 Promille Alkohol im Blut. Auch
Spuren von Ecstasy, Kokain und anderen Substanzen wurden bei ihm gefunden.
## Streit vor der Dusche
„Wir hatten beide geduscht“, sagt sein Freund Mohammed. Zurück im Zimmer
sei Anwar eingefallen, dass er sein Shampoo stehen gelassen hatte. Er sei
mit ihm zurückgegangen, die Dusche sei aber von einem anderen
Schwarzafrikaner besetzt gewesen. Anwar habe die Tür mit Gewalt
aufgestoßen. Es gab keine Verriegelung. Der Afrikaner in der Dusche sei
sehr erbost gewesen. Es kam zum Streit. Er, Mohammed Z., habe sich
schlichtend eingeschaltet und den Afrikaner aus dem Raum begleitet.
Als er zurückkam, wollte Anwar R. immer noch sein Shampoo aus der Dusche
holen, sagt der Zeuge. Der vor der Dusche wartende Nfamara J. habe wohl
gedacht, Anwar wolle sich vordrängeln. Beide seien sehr erregt gewesen,
hätten sich auf Spanisch angeschrien, die Köpfe nah aneinander. „Da habe
ich gesehen, dass er das Messer zog.“ Hätte der Gambier Anwar R. einfach
sein Shampoo rausholen lassen, wäre nichts passiert, vermutet der Zeuge.
„Unvorstellbar, dass jemand unter die Dusche geht und ein derartiges Messer
mitnimmt.“
## Notwehr, findet der Anwalt
Nach der Tat sagte die grüne Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann, in der
Schule käme es häufiger zu Konflikten zwischen Flüchtlingen arabischer und
afrikanischer Herkunft. Verteidiger Person spricht in einer Prozesspause
von einer schweren Demütigung des Schwarzafrikaners durch den Marokkaner.
Seinem Mandaten sei der Weg versperrt worden, er sei angegriffen und
rassistisch beleidigt worden. Vieles spreche für Notwehr, findet der
Anwalt.
Die Klinge des Messers, mit dem der Angeklagte neunmal zugestochen hat,
misst 20,5 Zentimeter. Er habe das Messer im Görlitzer Park für
Küchenzwecke gekauft, lässt Nfamara J. erklären. 183 Strafaten mit Bezug
zur Gerhart-Hauptmann-Schule hat die Polizei bis zur großen Auszugswelle im
Sommer aufgelistet, die Mehrzahl davon Gewalttaten. In 21 Fällen kam ein
Messer zum Einsatz.
Anwar R. habe ihn „du Neger“ genannt, sagt Violett K. als Zeugin aus. Die
41-jährige gebürtige Jamaikanerin kümmerte sich in der besetzen Schule
ehrenamtlich um die Flüchtlinge. Ihre Aussage deckt sich am ehesten mit der
des Angeklagten. Die resolut auftretende Frau erzählt, dass sie Nfamara J.
immer „den Professor“ genannt habe. Sie beschreibt ihn als sympathisch,
aber etwas gestört. „Vielleicht wurde er schon seit Wochen tyrannisiert“,
gibt sie zu bedenken.
## Verfolgungsjagd durch Kreuzberg
Nfamara J. schlägt sich bei diesen Worten die Hände vors Gesicht. Er weint.
Der Marokkaner sei völlig zugedröhnt und absolut aggressiv gewesen, sagt
Violett K. Der Dolmetscher muss aufstehen. Ganz nah führt die deutlich
größere Zeugin ihre Stirn an die des Mannes heran und deutet Kopfstöße an.
„Bums“ habe es gemacht.
Das Messer noch in der Hand, rennt Nfamara J. durch Kreuzberg, verfolgt von
Bewohnern der Schule und Leuten vom Sicherheitsdienst. Einige sind
bewaffnet. Von Macheten und Totschlägern berichtet der Anrufer, der um
12.22 Uhr die Notrufnummer der Polizei gewählt hat. Immer wieder dreht sich
Nfamara J. zu seinen Verfolgern um. Zum Glück ist die staatliche
Ordnungsmacht schneller. „Er versteckte sich sofort im Polizeiauto und
sperrte von innen die Tür zu“, beschreibt ein Zeuge die Szene. Der Prozess
wird am Donnerstag fortgesetzt. Drei Verhandlungstage sind noch anberaumt.
5 Nov 2014
## LINKS
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## AUTOREN
Plutonia Plarre
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