# taz.de -- Politische Gewalt in Israel: Zorn auf ganzer Linie | |
> Kein Tag ohne Steine und Tränengas: Nur eine Straßenbahnlinie fährt von | |
> West- nach Ostjerusalem – quer durch alle Konfliktfelder. | |
Bild: Unfall oder Anschlag? An der Haltestelle am „Ammunition Hill“ raste A… | |
JERUSALEM taz | Kifah Kimiri lässt ihren Schleier neuerdings zu Hause, wenn | |
sie mit der Straßenbahn zur Arbeit fährt. Die 38-jährige Palästinenserin | |
ist die lästigen Blicke leid. Es war Krieg im Gazastreifen, als sie im Zug | |
von einer, wie sie sagt, „frommen jüdischen Frau“ beschimpft wurde. „Der | |
Fahrer hat sich zwischen uns gestellt, um mich zu beschützen“, sagt Kimiri. | |
Sie ist eine zarte Frau mit dezentem Lidschatten, sieben Kinder erzieht sie | |
allein. Ganze drei Stationen sind es von ihrem Viertel Wadi el-Dschoos bis | |
zur Jaffastraße in Westjerusalem, wo sie den Lebensunterhalt für sich und | |
die Kinder als Putzfrau in einem israelischen Hostel verdient. „Ich trug | |
einen Hidschab, als es passierte.“ Jetzt verzichtet sie bewusst auf das | |
Kopftuch. „Denn jetzt wissen sie nicht, dass ich Araberin bin“, sagt | |
Kimiri. „Jetzt lassen sie mich in Ruhe.“ | |
Seit Wochen vergeht kein Tag in Jerusalem, ohne dass Steine und | |
Feuerwerkskörper fliegen und ohne dass israelische Sicherheitskräfte die | |
oft vermummten palästinensischen Jugendlichen mit Tränengas und | |
Schreckgeschossen auseinanderzutreiben versuchen. Jedes zerstörte oder in | |
Brand gesteckte Auto, jede Verhaftung und jeder Verletzte schüren neuen | |
Zorn. | |
Die Anspannung ist auch in der „Linie 1“ zu spüren, der bislang einzigen | |
Strecke der Stadtbahn. Alle paar Minuten fährt ein Zug vom Herzl-Berg durch | |
Westjerusalem bis zur Altstadt und dann entlang der Demarkationslinie zum | |
eingemeindeten palästinensischen Stadtviertel Schoafat in Ostjerusalem. Von | |
dort aus geht es weiter bis nach Pisgat Seew, einer israelischen Siedlung | |
im Einzugsbereich vom Rathaus Großjerusalems. | |
Seit drei Jahren gehört die hochmoderne, silberfarbene Bahn zum Stadtbild. | |
Für Pendler, die früher auf die nach Benzin stinkenden, überfüllten Busse | |
angewiesen waren, ist sie ein großer Gewinn. Die Abteile sind klimatisiert | |
und großzügig. Der Geräuschpegel der Motoren ist so niedrig, dass man ihn | |
kaum wahrnimmt. Die Fenster haben kugelsichere Scheiben, und die Abteile | |
sind übersichtlich für das Sicherheitspersonal, das regelmäßig vor allem | |
die Fahrgäste kontrolliert, die arabisch aussehen. | |
## Keine Nachsicht für arabsiche Schwarzfahrer | |
„In letzter Zeit sind weniger Palästinenser in der Bahn“, stellt Kifiri | |
fest. Es sitzen fast nur noch Israelis im Zug. Dass auch das Personal der | |
Stadtbahn auf die Leute unterschiedlich reagiert, ärgert die | |
Palästinenserin. „Wenn ein Jude kein Ticket hat, drücken die Kontrolleure | |
oft ein Auge zu, ein Araber, der schwarzfährt, zahlt immer Strafe.“ | |
Wer an der Haltestelle von Schoafat einsteigt, hat keine andere Wahl, als | |
schwarzzufahren. Es sei denn, er hat sich vorher schon einen Fahrschein | |
besorgt. Der Ticketautomat ist komplett zerstört, und in der Bahn kann man | |
nur abstempeln. | |
Direkt neben der Station, an der israelische Sicherheitsleute Posten | |
bezogen haben, ist die Moschee, in der Mohammed Abu Chdeir täglich betete. | |
Das Elternhaus des 16-jährigen Palästinensers liegt keine zehn Meter | |
entfernt. Nur ein paar Schritte musste der Junge laufen. Seinen Mördern | |
reichte das kurze Stück, um ihn einzufangen. | |
## Immer öfter taucht in der Presse ein Wort auf: Intifada | |
Der grausame Mord an Abu Chdeir, den radikale ultraorthodoxe Juden vor vier | |
Monaten entführten und lebendig verbrannten, war ein erster Trigger, der | |
die latente Unruhe in Jerusalem explodieren ließ. Seither heizt eine Serie | |
politischer Gewaltakte die Eskalation zwischen Israelis und Palästinensern, | |
zwischen Juden und Muslimen an. | |
Am „Amunition Hill“, zwei Stationen nachdem Kimiri aussteigt und drei vor | |
Schoafat, kam es jüngst zu einem Unfall. Oder Anschlag. Je nachdem, welchem | |
Narrativ man folgt. Ein Palästinenser raste mit seinem Pkw in eine wartende | |
Menschenmenge, tötete zwei Menschen und wurde selbst erschossen. Gut eine | |
Woche später gipfelte die Gewalt in dem versuchten Mordanschlag auf einen | |
ultranationalen Aktivisten. Wieder wurde der Angreifer erschossen. Immer | |
öfter taucht seither in der lokalen Berichterstattung ein Wort auf: | |
Intifada. | |
„Nein, diesmal ist es kein organisierter Aufstand.“ Said Abu Chdeir | |
schüttelt den Kopf. „Die Unruhen sind spontan“, meint er, aber so war es | |
bei der ersten Intifada Ende der 80er Jahre auch. Said ist ein entfernter | |
Onkel von Mohammed Abu Chdeir. Vis-à-vis vom Elternhaus des Jungen hat er | |
ein Fastfood-Restaurant. Das Geschäft geht schlecht. | |
## Das ganze Dorf kam und zerstörte die Haltestelle | |
Seit dem Mord an Mohammed „bleibt hier kein Gast mehr sitzen“. Said Abu | |
Chdeir hasst die Bahn, die ihm Parkmöglichkeiten vor dem Lokal raubte, | |
außerdem komme es immer wieder zu Staus. „Als Mohammed getötet wurde, kam | |
das ganze Dorf her und zerstörte die Haltestelle.“ | |
An ein friedliches Miteinander, wie die Betreiber der Stadtbahn das Projekt | |
einst propagierten, glaubt der Palästinenser schon lange nicht mehr. „Wir | |
sprechen verschiedene Sprachen, haben verschiedene Religionen und | |
Kulturen“, sagt er und schneidet Fleisch für ein Schawarma-Sandwich. Nur | |
eine Trennung könne eine Beruhigung bewirken, sagt er, nur „zwei Staaten | |
für zwei Völker“. | |
Als Bürger der Stadt Jerusalem hätten die Leute aus dem eingemeindeten | |
Viertel die Möglichkeit, die israelische Staatsbürgerschaft zu beantragen. | |
Ein Privileg, von dem nur wenige Gebrauch machen. | |
## 88 Häuser, in denen 1.500 Palästinenser leben, stehen unter Abrissbefehl | |
Abu Chdeir treibt nichts nach Jerusalem, wie er sagt, doch die frommen | |
Muslime aus Schoafat fahren an Feiertagen in die heilige Stadt, um in der | |
Al-Aksa-Moschee auf dem Tempelberg zu beten. Allerdings nur Frauen und | |
Männer älter als 50 Jahre, denn so schreibt es Israel vor. Die begrenzten | |
Besuchsrechte der Moschee schaffen Unmut unter den Palästinensern. | |
Die Besatzungsmacht sei verantwortlich dafür, mahnen sie, den Gläubigen das | |
Gebet zu ermöglichen und die heiligen Stätten zu schützen, vor allem vor | |
den jüdischen Tempelberg-Aktivisten, die am Status quo kratzten und die | |
Vertreibung der Muslime verfolgten. | |
Am Fuß des Tempelbergs, gleich hinter den Mauern der Altstadt, beginnt | |
Silwan, das mit rund 50.000 Palästinensern eng bewohnte Stadtviertel, in | |
dem einst der jüdische König David gelebt haben soll. 88 Häuser, die rund | |
1.500 Palästinenser beherbergen, stehen unter sofortigem Abrissbefehl. Sie | |
sollen Platz machen für einen archäologischen Park. | |
## „Statt unseren Müll wegzuräumen, kaufen sie Bulldozer“ | |
Die Straßen von Silwan sind schmutzig, in manchen Ecken riecht es scharf | |
nach Abwasser. Leere Plastiktüten und Konservendosen liegen auf dem | |
Bürgersteig. „Wir zahlen städtische Abgaben“, schimpft Fakhri Abu Diab, | |
Aktivist des palästinensischen Komitees zum Schutz der Häuser von Silwan, | |
„aber anstatt unseren Müll wegzuräumen, kaufen sie Bulldozer, um unsere | |
Häuser abzureißen.“ | |
Dass der Unmut vor allem sehr junger Palästinenser nun fast täglich in | |
Straßenkämpfe mündet, schiebt der 52-jährige Aktivist auch dem jüngsten | |
Zuzug Dutzender national-religiöser Israelis in das Viertel zu. „Es ist | |
eine Entwicklung, die uns jeden politischen Horizont raubt“, sagt der | |
Palästinenser. An den drei umstrittenen Häusern wehen provozierend | |
blau-weiße Nationalflaggen mit dem Davidstern. | |
Abu Diab verurteilt das „zweierlei Maß“ des israelischen Rechtssystems. | |
„Wenn ein Palästinenser mit seinem Auto einen Israeli anfährt, wird er | |
erschossen, umgekehrt passiert gar nichts.“ Ende Oktober starb ein | |
fünfjähriges palästinensisches Mädchen, nachdem es von einem israelischen | |
Siedler angefahren worden war. Die Polizei spricht von einem Unfall, die | |
Palästinenser von einem gezielten Mordanschlag. | |
## Die Bahn sollte einmal ein Mittel der friedlichen Koexistenz sein | |
Der palästinensische Fahrer, der an der „Amunition Hill“ zwei Menschen | |
tötete, stammte aus Silwan. Jeden Tag fährt der 68-jährige Abraham Krieger | |
an der Haltestelle vorbei. Krieger lebt in der Siedlung Pisgat Seew und | |
pendelt in der „Linie 1“ regelmäßig zu seiner Jeschiwa, einer Tora-Schule | |
in Jerusalem. | |
Angst hat der bärtige Israeli mit der Kipa nicht, obschon der Zug oft mit | |
Steinen angegriffen werde, wenn er durch Schoafat fährt. „Von uns hat | |
keiner verstanden, warum die Bahn ausgerechnet hier langfährt“, sagt der | |
fromme Jude, der vor 45 Jahren aus den USA einwanderte und mit breitem | |
Akzent Hebräisch spricht. | |
Die Bahn sollte ursprünglich von beiden Völkern genutzt und damit ein | |
Mittel zur friedlichen Koexistenz werden. „Das ist es immer noch“, meint | |
Krieger, der beobachtet haben will, „wie Palästinenser für ältere Israelis | |
ihren Sitzplatz räumen und auch umgekehrt“. Pisgat Seew als Siedlung zu | |
bezeichnen hält er für Unsinn. „Das hier ist Jerusalem“, meint er kurz vor | |
der Endstation und fragt ungläubig, ob Israel denn alles Land zurückgeben | |
solle. Frieden werde es so oder so erst geben, „wenn der Messias kommt“. | |
6 Nov 2014 | |
## AUTOREN | |
Susanne Knaul | |
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