# taz.de -- Territorialkonflikt in Ostjerusalem: Mein Nachbar, der Eindringling | |
> Um kaum einen Stadtteil streiten Israelis und Palästinenser so sehr wie | |
> um das palästinensische Silwan. Dort liegt der Ursprung von Jerusalem. | |
Bild: Die ungenehmigten Erweiterungen der Häuser in Silwan nehmen die kurioses… | |
JERUSALEM taz | Wenn Samir Riwadi aus seinem Haus auf die Straßen von | |
Silwan tritt, dann geht er durch ein Straßenschild. Das Schild ist | |
mannshoch und steckt in einem Holzrahmen zwischen Backsteinen. Aus diesem | |
Stück Blech hat er notdürftig eine Tür gezimmert, nachdem die israelische | |
Polizei sein Haus zerstört hat. | |
Wenn Yishai Fleisher aus seinem Haus auf die Straßen von Silwan tritt, dann | |
fährt er vorher mit dem Aufzug in die Tiefgarage und steuert sein Auto | |
durch eine Stahltür in einer fünf Meter hohen Mauer, vorbei an bewaffneten | |
Soldaten und dem Sicherheitsdienst. | |
Samir Riwadi ist einer von 50.000 Palästinensern in dem Ostjerusalemer | |
Stadtteil Silwan. Yishai Fleisher ist einer von rund 500 jüdischen Siedlern | |
in Silwan. Beide sagen über den anderen: „Mein Recht hier zu sein ist | |
größer als seines. Das ist mein Land.“ | |
## Erste Intifada | |
Um kaum einen Stadtteil streiten Israelis und Palästinenser so sehr wie um | |
Silwan. Hier liegt der Ursprung von Jerusalem. Der Tempelberg, die heilige | |
Stätte für Juden und Muslime, ist nur wenige Meter entfernt. Nach der | |
Staatsgründung Israels, 1948, kam Silwan unter jordanische Kontrolle. Knapp | |
20 Jahre später besetzten die Israelis im Sechstagekrieg Ostjerusalem. | |
Israelis und Palästinenser erheben gleichermaßen Anspruch auf Silwan. In | |
den 80ern war Silwan das Zentrum der ersten Intifada. Als Jerusalem im | |
vergangenen Herbst wieder brodelte, gab es in Silwan die meisten | |
Straßenkämpfe. Man könnte sagen: In Silwan zeigt sich auf kleinster Fläche | |
der Konflikt des ganzen Landes. | |
Yishai Fleisher hat für diesen Konflikt eine einfache Lösung: „Ein einziger | |
Staat, jüdisch, nicht demokratisch, mit einer gut integrierten arabischen | |
Minderheit.“ Damit spricht er aus, was viele Israelis denken: Die | |
Zwei-Staaten-Lösung ist aussichtslos. Für Fleisher bedeutet das auch: Die | |
Mauer, die Israel als „Antiterrormaßnahme“ um das Westjordanland gezogen | |
hat, muss weg. Mit dieser Meinung steht er unter den Siedlern eher allein. | |
Fleisher ist die Stimme der jüdischen Siedler, auch beruflich: Beim | |
englischsprachigen Radiosender Voice of Israel hat er eine eigene Show. | |
Dort spricht er über die Bedrohung durch den Dschihad, über die | |
„Verlogenheit“ der Franzosen, die einerseits Palästina als Staat anerkennen | |
und sich andererseits nach der Attacke auf Charlie Hebdo über | |
islamistischen Terror wundern. | |
## "Die fahren doch dicke Autos" | |
Fleisher lebt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern seit vier Jahren in | |
Ras al-Amud, am Rand von Silwan. Dort falle ihm auf, was für dicke Autos | |
die Palästinenser fahren – „so schlecht kann es denen nicht gehen“. Was | |
Fleisher nicht sagt: 75 Prozent der Bevölkerung in Ostjerusalem leben | |
unterhalb der Armutsgrenze, nur 53 Prozent der Kinder gehen auf eine | |
öffentliche Schule. | |
Von seiner Terrasse in Ras al-Amud blickt Fleisher auf den großen jüdischen | |
Friedhof am Ölberg. Dort liegen seine Vorfahren begraben, glaubt er. „Wer | |
könnte also verneinen, dass ich Anspruch auf dieses Land habe?“ Fleisher | |
ist ein charmanter Mann. 38 Jahre alt, Sonnenbrille, Kippa, | |
Kaschmirpullover. Ob es wirklich seine direkten Vorfahren sind, die auf dem | |
Ölberg begraben sind, ist zumindest fragwürdig. In Haifa geboren, hat der | |
Sohn russischer Einwanderer in den USA Politikwissenschaft und Jura | |
studiert, in der israelischen Armee gedient. | |
Von Journalisten fühlt sich Fleisher oft missverstanden, als Eindringling, | |
Besatzer. Er selbst sieht sich als Bürgerrechtler, „wie Rosa Parks“. Juden, | |
glaubt Fleisher, haben ein Vorrecht auf Silwan. „Die Idee, es gäbe ein | |
historisch gewachsenes palästinensisches Volk, ist Quatsch. Palästinenser | |
haben keine gemeinsame Geschichte, keine Küche, keine Kultur, kein | |
Münzsystem, keine Hauptstadt. Also haben sie auch keinen Anspruch auf diese | |
Stadt.“ | |
## Die zweite Etage demoliert | |
Nur wenige hundert Meter entfernt sitzt Samir Riwadi auf seiner | |
Dachterrasse und blickt über das Tal von Silwan. Riwadi kennt Fleisher | |
nicht. Würde er ihm begegnen, könnte er ihm von seinem Verständnis eines | |
historisch gewachsenen Palästinenservolkes erzählen: Riwadi wurde vor 55 | |
Jahren in dem Haus geboren, in dem er heute mit seiner Frau und seinen | |
Kindern lebt. Sein Urgroßvater hat es gebaut, da war Silwan noch wesentlich | |
dünner besiedelt. Riwadi hängt an dem Haus. Seine Mutter hat hier | |
geheiratet, sein Bruder ist hier gestorben, seine zehn Kinder sind hier | |
geboren. Riwadi fühlt sich nicht als Jerusalemer, er ist Silwaner. | |
Sein Blaumann ist zementverschmiert. Das weiße Pulver verklebt seine kurzen | |
Haare. Riwadi ist dabei, sein Haus wieder aufzubauen, nachdem israelische | |
Polizisten es vor acht Jahren eingerissen haben. Er hatte keine Erlaubnis | |
für den Bau der zweiten Etage eingeholt. Er hatte es gar nicht versucht, | |
denn Palästinenser bekommen fast nie eine Baugenehmigung. Als Riwadis Sohn | |
heiratete und die kleine Wohnung für dreizehn Personen zu klein wurde, | |
entschieden sie sich für den illegalen Ausbau. Fast alle Palästinenser in | |
Jerusalem handeln so, weshalb die Häuser in Silwan in absurden Formen | |
wuchern und nur schmale Gassen zwischen den Häusern bleiben. | |
Das Abrisskommando kam unangekündigt, morgens um sechs. Zwanzig Männer | |
stürmten mit Hunden das Haus, rissen Riwadi und seine Kinder aus dem Bett, | |
das jüngste war gerade ein Jahr alt. Mit Presslufthammern brachten sie die | |
zweite Etage zum Einsturz, die erste ließen sie stehen. Hauszerstörungen | |
sind eine gängige Praxis der israelischen Polizei. Abgerissen werden | |
palästinensische Häuser, die keine ausreichende Baugenehmigung haben oder | |
Familien von Attentätern gehören. | |
## Billige Mieten | |
Das israelische Komitee gegen Hauszerstörungen schätzt, dass seit 1967 | |
28.000 palästinensische Häuser in Ostjerusalem und im Westjordanland | |
zerstört wurden. Rund 30 Prozent der Bewohner von Silwan leben heute mit | |
einem Abrissbefehl. Erst im Dezember wurden wieder elf neue verschickt. | |
Fleisher und die anderen Siedler von Silwan hatten keine Probleme, | |
Baugenehmigungen zu bekommen. Auf dem Grund, auf dem Fleisher heute wohnt, | |
haben früher Palästinenser gelebt. Fleisher findet es richtig, dass ihre | |
„Hütten“ zerstört wurden – schließlich hätten sie auf jüdischem Grund | |
gestanden. | |
Fleisher und seine Nachbarn sind die Ausnahme unter den israelischen | |
Siedlern. Die Mehrheit zieht ohne politische Mission in die Siedlungen, | |
einfach nur weil die Wohnungen dort wesentlich billiger sind als im Rest | |
des Landes. Die internationale Gemeinschaft hat die Siedlungen immer wieder | |
verurteilt, auch weil sie Fakten schaffen und eine Zwei-Staaten-Lösung | |
immer unwahrscheinlicher machen. Laut der Vierten Genfer Konvention sind | |
sie illegal. Fleisher hat für den Passus nur ein Lachen übrig. „Die Genfer | |
Konvention gilt nur für Besatzungsmächte. Wir haben nicht besetzt, wir | |
leben in unserer Heimat.“ | |
Yonathan Mizrachi glaubt auch nicht, dass die Siedlungen das größte Problem | |
von Silwan sind. Für ihn liegt das eigentliche Problem direkt am Eingang | |
von Silwan. Es ist die Davidstadt, die archäologische Touristenattraktion | |
vor der Stadtmauer Jerusalems. Archäologen graben hier seit Jahren nach den | |
Überresten des Palasts von David, dem biblischen König von Juda und Israel | |
um 1000 vor Christus. Und mit jedem Stein, den die Archäologen finden, | |
scheint einmal mehr bewiesen: Silwan ist die Wiege des jüdischen Jerusalem. | |
Jährlich wandern Hunderttausende Touristen durch die Davidstadt. | |
Der Israeli Mizrachi möchte, dass das aufhört. Er und seine Organisation | |
Emek Shaveh fordern, dass die Ausgrabungen eingestellt werden. Das ist | |
paradox, denn Yonathan Mizrachi ist selbst Archäologe. | |
## "Wir wissen es nicht" | |
Er steht vor einem rund zehn Meter hohen Wall aus grobem Stein. | |
Treppenstufen sind freigelegt, vielleicht die Mauern eines Wohnhauses. Ein | |
Schild erklärt, was zu sehen ist: steinerne Stufen, die Teil des Palasts | |
von König David oder einer früheren Festung gewesen sein sollen. Mizrachi | |
selbst hat hier nicht gegraben, aber er kennt die Forschungsberichte. | |
Danach ist es keineswegs eindeutig, aus welcher Periode die Fundstücke | |
stammen. „Wir sollten ehrlich sein und den Besuchern sagen: Wir wissen es | |
nicht. Stattdessen weist jedes Schild auf König David hin und damit auf den | |
angeblich jüdischen Anspruch.“ Damit werde ein Narrativ geschaffen, das | |
weltweit dafür sorgen könnte, dass Jerusalem mehr und mehr als jüdisch | |
betrachtet werde. Wer will schon etwas gegen archäologische Fakten sagen? | |
Wissenschaftlich gibt es keinen Zweifel daran, dass Jerusalem an dem Ort | |
des heutigen Silwans um 1800 vor Christus von den Kanaanitern gegründet | |
wurde. Für vieles andere, das den jüdischen Anspruch auf die Stadt beweisen | |
soll, wie den ersten Tempel, gebe es hingegen keinen materiellen Beweis, | |
sagt Yonathan Mizrachi. Er glaubt, die israelische Regierung nutze die | |
Ausgrabungen als politisches Instrument. Von 2005 bis 2013 haben sie und | |
die Stadt knapp 140 Millionen Euro in die Arbeiten in der Davidstadt | |
gesteckt. „Das ändert den Charakter des Stadtteils mehr, als ein paar | |
hundert Siedler es könnten: Die Touristen kommen und denken, sie seien im | |
Herzen des Heiligen Landes. Dabei sind sie in einem palästinensischen | |
Stadtteil.“ | |
11 Feb 2015 | |
## AUTOREN | |
Anne Fromm | |
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