| # taz.de -- Journalist in den USA: Staatsfeind Nummer zwei | |
| > Lange vor Edward Snowden recherchierte Barrett Brown zur Überwachung. Am | |
| > 16. Dezember soll ein Urteil gegen ihn fallen. Was hat er verbrochen? | |
| Bild: Ein Flyer der Kampagne freebarrettbrown.org, die sich für die Freilassun… | |
| Der junge Mann mit den zerzausten Haaren, der auf dem Balkon seiner Wohnung | |
| in Dallas steht und etwas über FBI-Agenten, Drogenkartelle und | |
| Anonymous-Hacker in seine Computerkamera hineingrummelt, wirkt verwirrt. | |
| Der Kragen seines dunklen Poloshirts hängt schief herunter. Er muss immer | |
| wieder lachen. Wegen des Heroinentzugs, sagt er, wegen der Ersatzopiate, | |
| die er eine Zeit lang nahm und jetzt nicht mehr. | |
| Sein Vater, ein Vietnamveteran und Elefantenjäger, habe ihm das Schießen | |
| beigebracht. Wenn sie kämen, werde er sie alle erschießen. Eine kriminelle | |
| Verschwörung. Er werde darüber berichten. Er, der „irre | |
| Abenteurer-Junkie-Psychopath“. Nicht nur die Kartelle seien hinter ihm her, | |
| auch die Regierung der USA. Das verdammte Justizministerium. | |
| Man kann wirklich nicht sagen, dass Barrett Brown, den manche mit dem | |
| Schriftsteller Mark Twain vergleichen und andere mit dem Gonzo-Journalisten | |
| Hunter S. Thompson, an diesem 12. September 2012 seinen besten Tag gehabt | |
| hat. Eine etwas menschlichere Abteilung des FBI hätte vielleicht einen | |
| Psychiater geschickt, nachdem sie sein wirres Video auf Youtube entdeckte, | |
| schrieb ein Reporter des Rolling Stone später. Aber das FBI kam noch am | |
| selben Abend mit bewaffneten Beamten. | |
| Seitdem sitzt Barrett Brown, 33 Jahre alt, pedantischster | |
| Investigativjournalist des Hacker-Kollektivs Anonymous, witzigster | |
| Anti-Establishment-Satiriker der USA, größtes Großmaul der Welt, in Texas | |
| im Gefängnis. Der Kampagne für seine Freilassung haben sich Glenn | |
| Greenwald, der wichtigste Journalist für die Aufarbeitung des Materials von | |
| Edward Snowden, die russische Band Pussy Riot und der Intellektuelle Noam | |
| Chomsky angeschlossen. | |
| Am 16. Dezember soll das Urteil im Fall „United States of America vs. | |
| Barrett Lancaster Brown“ gesprochen werden. Wenn man all die Punkte | |
| zusammenzählte, die in den ersten drei Anklagen gegen ihn standen, kam man | |
| auf 105 Jahre Haft. Vorgeworfen wurde ihm, dass er in dem Youtube-Video und | |
| auf Twitter einen FBI-Agenten bedrohte, dass er Laptops, die das FBI | |
| suchte, versteckte, vor allem aber, dass er einen Link zu einem ohnehin | |
| öffentlichen Dokument mit Kreditkartendaten in ein Forum gepostet hatte. | |
| ## Feige Journalisten | |
| Man kann so eine Anklage eigentlich nur als eine Kriegserklärung lesen. | |
| Gegen den Journalismus, den das Internet und Menschen wie Edward Snowden | |
| oder Informantin Chelsea Manning den Gruppen wie Wikileaks oder Anonymous | |
| ermöglichen. Barrett Brown war einer der inoffiziellen Sprecher von | |
| Anonymous, dieses Netzwerks von Hackern und Online-Aktivisten, der allein | |
| dadurch auffiel, dass er seine Identität nicht hinter einer schwarz-weißen | |
| Maske verbarg. | |
| Schon 2009 hatte er sein Projekt PM gegründet, mit dem er die | |
| Verflechtungen des Staats und seiner Geheimdienste mit diversen | |
| Privatfirmen aufdecken wollte. Nächtelang dirigiert er in Onlineforen ein | |
| Heer von Dutzenden Freiwilligen, während sie sich durch Hunderte Seiten von | |
| E-Mails und Dokumenten klicken, um die komplizierten Winkelzüge der | |
| demokratisch kaum überwachten Überwachungsindustrie zu begreifen. | |
| Lange bevor die Öffentlichkeit Edward Snowden kennenlernte, warnte Brown | |
| vor der „gefährlichen Technologie“, die Snowdens Arbeitgeber verbreite: die | |
| private Sicherheitsfirma Booz Allen Hamilton. Er wies außerdem nach, wie | |
| andere Firmen planten, den Journalisten Greenwald unter Druck zu setzen, | |
| damit er aufhörte, Wikileaks öffentlich zu unterstützen. | |
| Die Informationen mit der stärksten Durchschlagskraft, sagt Brown in einem | |
| Interview für die Anonymous-Dokumentation „We are Legion“, lieferten nicht | |
| etablierte Journalisten, sondern Hacker. Die Journalisten in Washington | |
| verachtet er. Zu feige. | |
| Barrett Brown wächst im reichen Norden von Dallas auf. Sein Vater ist | |
| Unternehmer, mit der Mutter meditiert er als Kind regelmäßig. Er studiert | |
| ein bisschen in Austin, zockt am Laptop, nimmt Ecstasy, Heroin, raucht | |
| Gras, wohnt zwischen Bergen von Büchern und Zeitschriften. Und schreibt. | |
| Sein Nerdtum verbindet ihn mit den Anonymous-Leuten. Computerspiele, | |
| Rollenspiele, Science-Fiction. „Kämpfe einen echten Krieg gegen das #FBI | |
| und einen Computerspielkrieg gegen Byzanz“, twittert er einmal. „Das ist | |
| ein Informationskrieg. Wenn ihr eure Freiheit verteidigen wollt und die | |
| Regierung kontrollieren, müsst ihr uns helfen“, ein andermal. | |
| ## „Obszön exzessive Strafverfolgung“ | |
| Anonymous landet mit seinen Hacks zu der Zeit alle paar Wochen in den | |
| Nachrichten. Gegen Kirchen, das Zeta-Kartell, gegen staatliche | |
| Internetzensur. Für den Arabischen Frühling. Und gegen den privaten | |
| Nachrichtendienst Stratfor. Als der New Yorker Hacker Jeremy Hammond | |
| E-Mails von Stratfor erbeutet, kopiert Barrett Brown einen Link zu den | |
| Daten ins Onlineforum seines Projektes PM. Hammond wird im November 2013 zu | |
| zehn Jahren verurteilt. | |
| Brown selbst, so soll ein Anonymous-Witz über ihn gehen, könne sich nicht | |
| einmal aus einer Papiertüte heraushacken. Die „obszön exzessive | |
| Strafverfolgung“, schreibt Glenn Greenwald 2013 im Guardian, sei eigentlich | |
| nur mit seiner journalistischen Arbeit gegen den Überwachungsstaat zu | |
| erklären. | |
| Man könnte sie auch als ein Zeichen von Angst deuten. Das tut Ahmed | |
| Ghappour, einer von Browns Anwälten. „Die Regierung hat gerade so getan, | |
| als wären Barrett und Anonymous dabei gewesen, die Weltherrschaft zu | |
| übernehmen“, sagt Ghappour kürzlich bei einer Podiumsdiskussion. Ghappour | |
| forscht als Professor in San Francisco zu nationaler Sicherheit und neuen | |
| Technologien. Viele empfänden die digitale Welt immer noch als etwas | |
| Unbekanntes. Je mehr Angst alle davor hätten, desto eher tolerierten sie | |
| eine übereifrige Strafverfolgung eines ängstlichen Staats, glaubt Ghappour. | |
| Außerdem, das zeige das Beispiel mit dem Stratfor-Link, diagnostiziert er | |
| eine „allumfassende Inkompetenz“ der Justiz in technischen Fragen. Ghappour | |
| und sein Kollege übernahmen Browns Mandat erst 2013 von einem | |
| Pflichtverteidiger. In einem 36 Seiten langen Antrag wies er in diesem | |
| Frühjahr nach, wie nicht nur Online-Aktivisten, sondern Journalisten in | |
| aller Welt aus den Stratfor-Dokumenten berichtet hatten, deren Verbreitung | |
| man Brown vorwarf. Kurz darauf fiel die drohende Strafe von mehr als einem | |
| Jahrhundert auf 8,5 Jahre. Brown, der bisher auf „unschuldig“ plädiert | |
| hatte, ließ sich auf einen Deal ein. | |
| ## Zelle ohne Internet | |
| Barrett Brown scheint es mittlerweile besser zu gehen als an jenem irren | |
| 12. September. Er nimmt ein Antidepressivum und Schlafmittel, hat er vor | |
| Gericht erzählt. Er hat sich öffentlich für seine Ausfälle entschuldigt und | |
| schreibt nicht nur hin und wieder für den Guardian, sondern seit Anfang des | |
| Jahres auch die unterhaltsamste Gefängniskolumne von Texas. Sie trägt den | |
| Titel „The Barrett Brown Review of Arts and Letters and Jail“, erscheint | |
| auf der Webseite des Dallas Magazine und ist eine Mischung aus Rezensionen | |
| von Gefängnisbüchereibüchern, Anekdoten vom Kuchenhandel in der | |
| Nachbarzelle oder Betrachtungen über die Verkorkstheit des gesamten | |
| amerikanischen Justizsystems. | |
| Vor ein paar Monaten ist sein neues Buch erschienen, Untertitel: „Die | |
| Experten des Establishments und das Zwielicht amerikanischer Kompetenz“. | |
| Weil er gleich zu Beginn einen New-York-Times-Kolumnisten für dessen | |
| faktenfreie Putin-Verehrung und regelmäßige Dreihuntersechziggradwenden | |
| zerlegt, ist es aktueller denn je. | |
| Gerade ist ein Buch erschienen, für das die Anthropologin Gabriella Coleman | |
| mehrere Jahre recherchiert hat. Coleman unterstützt die Kampagne zur | |
| Freilassung von Brown. Was den nicht davon abhält „Hacker, Hoaxer, | |
| Whistleblower, Spy“ für die Fülle faktischer Fehler zu verreißen, die er | |
| schon aus einer internetfreien Zelle heraus auf den wenigen Seiten über | |
| sich selbst finde. Wenn Brown Glück hat und nur zu zwei Jahren verurteilt | |
| wird, kommt er am Montag frei. Zwei Jahre sitzt er schon. „Ich wünsche dir | |
| das sehr“, schreibt einer seiner Leser. „Aber hieße das auch, dass es dann | |
| mit den Geschichten über Kuchenkämpfe und seltsame Knasttattoos vorbei | |
| wäre?“ | |
| 23 Nov 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Johannes Gernert | |
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