# taz.de -- Zehn Jahre „Schwarzbuch Lidl“: Die Ohnmacht der Beschäftigten | |
> Fast jeder weiß um die vielfach schlechten Arbeitsbedingungen – von Lidl | |
> bis Amazon. Doch ohne Druck der Öffentlichkeit läuft gar nichts. | |
Bild: Die Arbeitsbedingungen in den Läden kümmern die Käufer eher wenig. | |
Heute kämpfen die Beschäftigten von Amazon und Zalando für elementare | |
Rechte am Arbeitsplatz, für das Recht auf gewerkschaftliche Organisation, | |
tarifvertraglich gesicherte Entlohnung, menschenwürdige Arbeitsbedingungen. | |
Die Streiks bei Amazon werden begleitet von einer breiten medialen | |
Berichterstattung über die repressive Unternehmenskultur in dem | |
Online-Multi. | |
Dies gibt den Aktionen der Beschäftigten außerbetrieblichen Rückenwind und | |
verbessert die Bedingungen für den Aufbau innerbetrieblicher Gegenmacht. | |
Die doppelgleisige gewerkschaftliche Strategie aus offensiver medialer | |
Skandalisierung und innerbetrieblicher Organisierung hat sich in den | |
letzten Jahren vor allem in den Schattenbereichen der Wirtschaft | |
durchgesetzt. Wo es einen hohen Anteil prekärer, ungesicherter | |
Beschäftigung gibt, wo die Löhne unterirdisch sind und die | |
innerbetriebliche Machtstellung des Managements sich unangefochten austoben | |
kann – gerade in diesen Bereichen ist die Ohnmacht der Beschäftigten | |
eklatant und der gewerkschaftliche Organisationsgrad niedrig bis nicht | |
existent. Ohne den Druck der Öffentlichkeit läuft dort in aller Regel gar | |
nichts. | |
Vor zehn Jahren, am 10. Dezember 2004, dem „Tag der Menschenrechte“, hat | |
die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di eine breit angelegte | |
Kampagne in einem Unternehmen gestartet, das – ähnlich wie Amazon – | |
allgemein bekannt ist und dessen Geschäftsmodell durch den Slogan „Billig | |
auf Kosten der Beschäftigten“ zutreffend beschrieben wurde. | |
Auf einer gut besuchten Pressekonferenz stellte Verdi das „Schwarzbuch | |
Lidl“ vor: Ein medialer Paukenschlag. Nahezu die gesamte Tagespresse | |
berichtete an prominenter Stelle über die skandalösen Arbeitsbedingungen, | |
über systematische Schikanen, aufgezwungene unbezahlte Mehrarbeit sowie | |
Druck und Drohungen gegen Beschäftigte, die ihr Recht auf die Wahl eines | |
Betriebsrats wahrnehmen wollten. | |
## Lohndrücker und Billigkonkurrenz | |
Rund zwei Jahre später legte der Journalist Andreas Hamann, der zusammen | |
mit anderen das Schwarzbuch recherchiert und verfasst hatte, mit dem | |
„Schwarzbuch Lidl Europa“ nach: Sogar in den Billiglohnländern Süd- und | |
Osteuropas profilierte sich der „Schwarz-Konzern“ (nach dem Lidl- und | |
Kaufland-Eigentümer Dieter Schwarz) als Lohndrücker und Billigkonkurrenz | |
für einheimische Einzelhändler. | |
Seit den Industriereportagen von Günter Wallraff Anfang der siebziger Jahre | |
hatte es kein erfolgreicheres Buch aus dem Arbeitsleben „ganz unten“ | |
gegeben. Nach rund zwei Jahrzehnten neoliberaler Dominanz in den Leitmedien | |
der Bundesrepublik, in denen der wirtschaftliche Erfolg und nicht seine | |
Kehrseiten im Mittelpunkt medialer Aufmerksamkeit stand, wurde offengelegt, | |
was heute – nach einem halben Dutzend Krisenjahren – offensichtlich ist: | |
Auch in Deutschland gibt es Unternehmen, in denen Menschen- und | |
Arbeitsrechte systematisch verletzt werden. Auch hier regiert in vielen | |
Bereichen der Wirtschaft ungezügelte soziale Macht und produziert ihr | |
Gegenteil: millionenfache soziale Ohnmacht. | |
Die Lidl-Kampagne wurde im öffentlichen Bewusstsein eine der großen | |
Erfolgsstories von Verdi. Außergewerkschaftliche Gruppen wie attac | |
schlossen sich der Kampagne an und organisierten deutschlandweit | |
Filialbesuche, übernahmen Filialpartnerschaften und ermutigten die | |
Beschäftigten, ihre Rechte wahrzunehmen und Betriebsräte zu wählen. | |
Dennoch war der organisationspolitische Erfolg von Verdi sehr begrenzt. Es | |
ist nicht gelungen, eine nennenswerte Anzahl von Betriebsräten zu | |
installieren, die als gewerkschaftliche Organisationskerne hätten fungieren | |
können. Es gab zwar im Verlauf der Kampagne einen deutlichen | |
Mitgliederzuwachs unter den Lidl-Beschäftigten, aber eine effektive | |
gewerkschaftliche Gegenmacht innerhalb des Unternehmens konnte nicht | |
aufgebaut werden. | |
Die damalige Organisatorin der Lidl-Kampagne in der ver.di-Zentrale, Agnes | |
Schreieder, kommentierte in der Rückschau gegenüber dem gewerkschaftlichen | |
Magazin Mitbestimmung: „Ohne den Druck auf den Konzern, der nur durch die | |
Medien und die soziale Bewegung möglich war, hätten wir es nie geschafft, | |
eine spürbare Verbesserung der Arbeitsbedingungen bei Lidl zu erreichen.“ | |
## Ver.di verschläft den Erfolg | |
Der für den Einzelhandel zuständige Verdi-Sekretär Ulrich Dalibor hebt | |
dagegen hervor, viele Beschäftigte hätten sich durch die skandalisierende | |
Kampagne in ihrer beruflichen Identität angegriffen gefühlt. Hinzu kam die | |
berechtigte Angst der Beschäftigten angesichts der repressiven | |
Unternehmenskultur bei Lidl. Es ist ihnen nicht entgangen, dass der Konzern | |
in Calw eine ganze Filiale dichtgemacht hat, als die Belegschaft sich | |
anschickte, einen Betriebsrat zu wählen. | |
Aber es gab auch Probleme bei Verdi, eine organisationspolitische Ungeduld, | |
Enttäuschung über das Ausbleiben schneller Erfolge trotz der | |
überwältigenden Medienresonanz. Als der Konzern dann im Jahr 2010 unter dem | |
Druck spürbarer Umsatzverluste ankündigte, er wolle seinen Beschäftigten in | |
Zukunft einen Stundenlohn von mindestens zehn Euro (inzwischen 11 Euro) | |
zahlen und die innerbetrieblichen Umgangsformen nachhaltig verbessern, hat | |
ver.di dies nicht als späten Erfolg der Kampagne öffentlich kommentiert. | |
Der Grund: Es gab in der Berliner Verdi-Zentrale keine zentrale Steuerung | |
des Lidl-Projekts mehr. Die Finanzierung der Lidl-Projektgruppe war Ende | |
2007 eingestellt worden. | |
So bleibt vom Erfolg der Lidl-Kampagne nach 10 Jahren vor allem eines: Sie | |
hat im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts wesentlich dazu beigetragen, | |
den Raum für kritische Medienberichterstattung aus der Arbeitswelt zu | |
erweitern. Es ist gelungen, den anwachsenden Sektor prekärer, entrechteter | |
Arbeit – nicht nur bei Lidl, nicht nur in Deutschland – zu einem öffentlich | |
wahrgenommenen Thema zu machen. | |
Damit verbunden ist ein schwer messbarer, durch die Wirtschaftskrise ab | |
2008 verstärkter Legitimitätsgewinn für gewerkschaftliche Aktivität – zum | |
Beispiel bei Amazon & Co. | |
30 Dec 2014 | |
## AUTOREN | |
Martin Kempe | |
## TAGS | |
Amazon | |
Lidl | |
Gewerkschaft | |
Arbeitsbedingungen | |
Verdi | |
Ladenschlussgesetz | |
Streik | |
Flughafen | |
Journalismus | |
Amazon | |
Streitfrage | |
Amazon | |
Amazon | |
Tarifeinheit | |
Familie | |
KiK | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Früherer Ladenschluss gefordert: Jobs, aber kein Auskommen | |
Im Einzelhandel gibt es nur noch wenige existenzsichernde Stellen. Der DGB | |
fordert deshalb eine Begrenzung der Ladenschlusszeiten. | |
Arbeitskampf bei Amazon: Verdi gibt nicht auf | |
Vor Ostern wird bei Amazon mal wieder gestreikt – bis Gründonnerstagabend. | |
Aber der Onlineversandhändler lehnt Tarifverhandlungen weiter ab. | |
Wachpersonal streikt an Flughäfen: Streit um Verhältnismäßigkeit | |
Verdi bestreikt in zwei Bundesländern Regionalflughäfen. Die Arbeitgeber | |
verlangen nun eine gesetzliche Beschränkung des Arbeitskampfes. | |
Wallraff über Undercover-Journalismus: „Ich bin kein Provokateur“ | |
Günter Wallraff ist mittlerweile im Auftrag von RTL als verdeckter Reporter | |
unterwegs. Problematisch sei das nicht, sagt er. | |
Betriebsseelsorger über Arbeitnehmer: „Prekär Beschäftigte sind abgekoppel… | |
Festangestellte können angesichts der guten Konjunktur bessere | |
Arbeitsbedingungen aushandeln. Doch der Rest bleibt abgehängt, kritisiert | |
Erwin Helmer. | |
Die Streitfrage: „Pakete von Oma nehme ich an“ | |
Ist es okay, Pakete von Amazon für die Nachbarn anzunehmen, während Verdi | |
streikt? Linke-Chef Bernd Riexinger sagt nein. | |
Amazon-Streik bis Heiligabend: Kein Päckchen unterm Tannenbaum | |
Verdi weitet die Amazon-Bestreikung aus – teilweise bis zum 24. Dezember. | |
Die genehmigte Sonntagsarbeit sieht die Gewerkschaft als Aushebelung des | |
Streiks. | |
Arbeitskampf bei Amazon: Das sechste Lager streikt | |
Der Streik bei Amazon weitet sich aus. Nun streikt auch die Belegschaft des | |
Logistik-Zentrums in Koblenz. Damit streiken sechs Versandlager. | |
Gesetzentwurf Tarifeinheit: Immer auf die Kleinen | |
Das Kabinett hat den umstrittenen Gesetzentwurf gebilligt. Arbeitgeber und | |
IG Metall freut es. Spartengewerkschaften wollen dagegen klagen. | |
Pro und Contra: Soll man sonntags arbeiten? | |
Das Bundesverwaltungsgericht will, dass Callcenter, Bibliotheken und | |
Videotheken am 7. Tag geschlossen bleiben. Das finden nicht alle gut. | |
Ausstand beim Textil-Discounter: Verdi bestreikt Kik | |
Die Gewerkschaft Verdi hat bei Kik zum Streik aufgerufen. Sie will damit | |
die Anerkennung der Tarifverträge des NRW-Einzelhandels für die | |
Beschäftigten durchsetzen. |